Ich wischte rasch die fremden Urlaubsfotos mit der Fingerspitze von der Bildfläche des Smartphones und gab es an meine Sitznachbarin zurück. Tischkärtchen hatten uns an dieser Hochzeitstafel zusammengeführt. Wir kannten uns nicht.
Dessen ungeachtet schilderte mir die Frau ihren letzten Urlaub bis ins kleinste private Detail. Vor allem die Frage, ob sie für ihre fünfzehnjährige Tochter ein passendes Souvenir mitgebrachte habe, schien sie zu beschäftigten.
Ich hingegen beschäftigte mich demonstrativ mit der Menükarte. Shrimpscocktail im dritten Gang! Davon konnte ich nie genug bekommen. In mir reifte ein böser Plan.
Mit: „Apropos fünfzehn und Souvenir“, warf ich meine Enterhaken in die Erzählung der Frau und übernahm das Wort. „Das außergewöhnlichste Andenken, das mir je eine Reise beschert hatte, war exakt fünfzehn Millimeter lang“, sagte ich und spannte dabei einen doppelt so großen Abstand mit Daumen und Zeigefinger auf. Mit derselben Bewegung würde die Frau später das einzige Bild, das sich auf meinem Smartphone befindet, vergrößern und mir den Cocktail überlassen.
Ich hatte zwei Menügänge lang Zeit um von diesem Souvenir zu berichten. Es war mit fünfzehn Millimetern beinah ausgewachsen und stammte aus Belize.
Auf unserer Reise zum zweitgrößten Korallenriff der Welt saßen wir im Regenwald von Belize fest. Nach dem Grenzübertritt aus Guatemala waren wir mit einem Streik der Busfahrer konfrontiert und mussten eine Nacht in einem „Bunkhouse“, einer Art Metallkäfig mit Stockbetten, mitten im Urwald verbringen. Das Badezimmer war der angrenzende Fluss.
Am nächsten Tag machten wir uns zu Fuß auf den Weg, um auf dem National Highway nach einer Bushaltestelle zu suchen. Es gab keinen Schatten. Die Tropensonne stand senkrecht über der Schneise, die der Highway in den Urwald geschnitten hatte. In der Hitze krochen wir auf dem klebrigen Asphalt dahin wie todgeweihte Insekten auf Fliegenfängern. Den Blick ständig ins Zwielicht des Waldes gerichtet, genährt von der Angst, einer dieser unheimlichen Laute könnte uns als Tier manifestiert hinterrücks anfallen. Schon die Nacht war von langgezogenen Schreien, Gebrüll und hysterischem Gekicher erfüllt gewesen. Aber da hatte uns das Käfiggitter geschützt. Jedes Mal, wenn ich nun dem zwanghaften Gefühl im Nacken folgte und mich rasch umblickte, glaubte ich die gelbe Kastenform eines Busses zu erspähen. Aber es waren nur die Linien der Straßenmarkierung, die flimmernd über dem Highway schwebten, als wäre ihnen der Boden zu heiß geworden.
Der Mensch an der Bushaltestelle war keine Fata Morgana.
„Welcome to the middle of nowhere!“, rief er uns entgegen. Das „middle“ klang wie Mittel. Es war ein Deutscher.
Begeistert über das zufällige Zusammentreffen klopfte er Markus etliche Male auf die Schulter. Ich sah wie Markus zusammenzuckte. Nicht vor Schmerz, sondern vor Ekel. Der Mann machte einen verwahrlosten Eindruck. Sein Haar schien wie von Motten zerfressen, überall klafften Löcher und gaben eine pickelübersäte Kopfhaut frei. Er bemerkte meinen Blick, führte seine Finger tastend über das Schlachtfeld und hub zu einer Erzählung an. „Das ist eine lange Geschichte“, vernahm ich noch im Weggehen. Ich wollte sie nicht hören.
In einiger Entfernung blieb ich stehen und betrachtete Würmer im Wasser eines Tümpels. Sie hingen wie Fäden an der Oberfläche, als hätten sie Angst unterzugehen und zu ersaufen. Markus warf mir flehende Blicke zu. Der Deutsche wühlte im verbliebenen Rest seiner Haare und zwang Markus genau hinzusehen. Ich blieb bei den Würmern bis der Bus kam.
Beim Einstieg sagte der Mann zu Markus: „Es waren Fliegen gewesen, Fliegen!“ Seine Stimme überschlug sich beinah. Dabei schüttelte er den verunstalteten Schädel, als grauste ihm vor der eigenen Erinnerung.
Wochen später hätte ich viel darum gegeben, mich ausführlich mit diesem Mann zu unterhalten.
Es begann auf einer Insel vor der Küste Belizes.
Eine kleine, offene Stelle auf meinem Oberschenkel wollte nicht verheilen und schmerzte vor allem beim Tauchen. Das Gewebe schwoll mit der Zeit zu einem roten Pickel an, der sich trotz aller Anstrengung nicht ausdrücken ließ.
Die Rückkehr in das heimatliche Winterklima brachte keine Besserung. Im Gegenteil. Der Hügel entwickelte sich zu einem Minivulkan, dessen Krater ständig Wundwasser absonderte. Meine Hosen bekamen hässliche Flecken, denn Pflaster ertrug ich nicht. Eine ratlose Ärztin verschrieb mir eine Salbe, die jedoch gleich nach dem Auftragen zu einer schmerzhaften Wasser-Eruption führte, die die Creme wegspülte.
Während Markus abends entspannt fern sah, lauerte ich mit einer Lupe über meinen Oberschenkel gebeugt. Ich hatte in der Vulkanöffnung eine Bewegung gesehen. Etwas Weißes, das zum Kraterrand empor gestiegen war, bevor es sich fluchtartig wieder zurückzog.
„Das bildest du dir ein“, sagte Markus.
Trotz heftiger Schmerzen versuchte ich dieses Weiß, das doch nur Eiter sein konnte, herauszuquetschen. Vergeblich.
Es vergingen Tage, es vergingen Wochen. Der Vulkan wurde größer, das Gewebe ringsum hart. Die Krateröffnung schimmerte rosa und manchmal sah ich darin etwas Weißes vor- und zurückschnellen. Ich brauchte kein Vergrößerungsglas mehr um Gewissheit zu haben: In meinem Oberschenkel hauste etwas. Ein fleischgewordener Albtraum.
Da fiel mir der Mann von der Bushaltestelle wieder ein. Hatte er nicht etwas von Fliegen erzählt? Markus konnte sich nur vage erinnern. Dafür lieferte das Internet auf die Stichworte „tropische Parasiten / Fliegen“ grausliche Fotos von befallenen Rindern. Demzufolge war ich Fehlwirt einer Dasselfliege geworden, wenn auch kein schlechter. Denn ihre Larve lebte wie die Made in meinem Oberschenkelspeck. Der natürlichste Weg sie loszuwerden: warten, bis sie schlüpft.
Ich entschied mich zur hausinternen Zangengeburt. Die Tipps dazu holte ich mir ebenfalls aus dem Internet. Die Larve braucht nämlich Luft, sie atmet durch eine Art Lunge, die an ihrem schwanzähnlichen Hinterteil sitzt. Deshalb muss die Öffnung des „Pickels“ immer frei bleiben. Dichtet man diese nun ab, schiebt sich das Tier rückwärts heraus, um an Luft zu gelangen. In diesem Moment muss man es packen und beherzt herausziehen.
Ich mischte Topfen mit reichlich Olivenöl und schmierte mir eine dicke Schicht auf den Oberschenkel, den ich mit einer Plastikfolie umwickelte. Danach ging ich zu Bett.
Das eingesperrte Tierchen wurde ungemütlich. Den Schmerzen nach zu urteilen, wollte es sich ein neues Luftloch bohren. Im Morgengrauen hielt ich es nicht mehr aus.
Auf dem Küchentisch lagen Pinzette, Lupe, Desinfektionsmittel und ein paar Tücher bereit. Am Vorabend hatte ich auch eine kleine Halogenlampe aufgestellt.
Vorsichtig entfernte ich die Folie und die luftdichte Cremeschicht. Mit Grausen sah ich zu, wie sich ein weißlicher Wurm aus der Öffnung schob. Am liebsten wäre ich schreiend davon gerannt. Stattdessen packte ich dieses Wurmende mit der Pinzette und zog. Doch das Tier wehrte sich, wollte nicht heraus. Hilflosigkeit und Ekel überschwemmte mich. Ich riss mich erneut zusammen und zog mit aller Kraft. Irgendetwas ging spürbar kaputt, ich wusste nicht, ob es der Wurm oder mein eigenes Fleisch war, das unter der Anstrengung platzte. Aber dann lag die Larve auf dem Tisch: Eine ekelhafte, fette Made mit weißen Wülsten wie ein Michelinmännchen. Aus den vordersten Fettringen wuchs ein Kranz schwarzer, gekrümmter Borsten. Mit diesen Widerhaken hatte sich die Larve in mir festgekrallt, während sie mein Fleisch verdaute.
Ich holte die Kamera und ein Lineal, um den Horror zu dokumentieren. Fünfzehn Millimeter maß die Kreatur!
Meine Geschichte schloss mit dem Ertränken der noch lebenden Made in Alkohol. Danach öffnete ich am Smartphone das Beweisfoto und schob es zu meiner Sitznachbarin hinüber.
In diesem Moment wurde der Shrimpscocktail serviert.
Nachtrag:
Mit diesem Text (zum Thema 15mm) errang ich beim Literaturwettbewerb zwar keinen Podestplatz, dafür war ich das Tier nun auch im Kopf los. Schreiben kann helfen Albträume zu bewältigen...