Herbsthummel                       15. Oktober 2017

 

Vorfreude 1

Während ich mit der Golmerbahn die erste Sektion nach Latschau hinauffahre, sucht mein Blick an den Hängen des Montafons nach der schönsten Farbmischung. Ich freue mich auf einen ruhigen Gleitflug über die spätherbstlichen Wälder, aufs „Buntbaumschweben“.

Dort drüben, unterhalb der Vandanser Steinwand, wo scharfe, graue Felsrippen den Laubwald durchschneiden, ist der Farbenmix am prächtigsten. Die Morgensonne hat auf ihrem Abstieg von den Gipfeln schon das Goldbraun der Almwiesen geweckt, nun zündet sie Baum für Baum die Laubkronen an und bringt Buche neben Ahorn zum Leuchten. Nur die Tannen, in ihrem dunkelgrünen Nadelstreif, bleiben finster und halten unter tief herabhängenden Ästen die nächtlichen Schatten gefangen.

 

Vorfreude 2

In der zweiten Sektion steigt eine Familie mit kleinen Kindern zu. Sie freuen sich auch. Die Kinder auf die neue Attraktion am Golm: die soeben eröffnete Waldrutsche, und die Eltern freuen sich über die Freude der Kinder. Denn die Aussicht, selbst bald in den engen Metallröhren, die sich wie silbrige Schlangen unter der Lifttrasse winden, zu stecken, scheint den Erwachsenen eher klaustrophobische Ängste zu verursachen. Die Begeisterung eines kleinen Jungen, der noch keine ganzen Sätze sprechen kann, kennt indes keine Grenzen. „Da“, ruft er und drückt seinen Finger an der Plexiglashülle der Gondel krumm, „da, rutschen, da, da!“

Als er in der dritten Sektion das massive Rohr der Druckleitung für das Wasserkraftwerk erblickt, verschlägt es ihm kurz die Sprache. Dann juchzt er vor Freude als hätte er die Bedenken der Eltern irgendwie mitbekommen und wüsste nun eine Lösung: „Da! Papa, Mama, zusammen rutschen, alle, da!“

 

Bei der Bergstation sind die Weidezäune entfernt und stattdessen die Schneekanonen in Stellung gebracht worden. Neben dem Wanderweg markieren rote Holzpflöcke die Bodenanker, an die sich die Pistenraupen mit Stahlseilen bald einhängen werden. Auf dem Berg kehrt wohl nie Ruhe ein.

 

Nur ich habe die Ruhe weg

Steffen ist schon am Startplatz und wundert sich. „Ich - vor dir heroben?“

„Um die Jahreszeit pressiert es doch nicht mehr“, sage ich und genieße das zwanglose Dasein. Kein Stress, keine Hektik – ein Gleitflug verursacht schließlich keinen Zeitdruck.

Auf meinem Umkleideplatz hinter der Böschungskante liegt noch Schnee, eine dünne gefrorene Kruste, in die ich ein paar Löcher pinkle. Glänzend rote Preiselbeeren kommen zum Vorschein, von denen ich aber selbstverständlich die Finger lasse. Hier ist der gesamte Boden kontaminiert. Nicht nur von mir.

Auf der Sonnenseite, wo sich der stark frequentierte Wanderweg zum Gipfel hinaufschlängelt und für eine urinfreie Zone sorgt, hängen ebenfalls Beeren. Schnee und Frost gaben ihnen eine bittere Süße, der ich nicht widerstehen kann. Während Steffen und weitere Piloten, die zwischenzeitlich eingetroffen sind, ihre Ausrüstung herrichten, schaufle ich handvollweise Preiselbeeren in mich hinein. Als der Hügel abgegrast ist und ich zum Startplatz hinunter steige, ist Steffen bereits startklar.

„So früh?“

„Es ist halb elf“, antwortet Steffen, der immer um halb elf startet.

„Das ist kein Argument, sondern eine Gewohnheit.“

„Der Sonnenstand und der Einstrahlungswinkel ist aber derselbe wie im Sommer“, behauptet Steffen.

Ich hege da so meine Zweifel, aber der nächste Satz überzeugt mich.

„Gestern war die Thermik um diese Zeit schon verdammt gut!“

Thermik? Mitten im Oktober? - Die Vorstellung eines ruhigen Gleitfluges wird augenblicklich vom Höhenrausch verdrängt. Wäre es möglich, bald schon über diese herrlichen Berge zu fliegen, anstatt ins Tal zu sinken?

 

Reizwort: Thermik

Während ich hektisch den Schirm ausbreite, das Gurtzeug herrichte, mich anziehe und überlege, wie ich das Handy griffbereit für etwaige Fotos anbinden soll, ist Steffen gestartet.

Er sinkt.

Und sinkt.

Erstaunt halte ich in meinen Vorbereitungen inne. Der ganze Stress ist also umsonst, denke ich, nicht ohne eine gewisse Häme. War ja klar, dass es bloß ein beschauliches Abgleiten wird. Bei diesem stabilen Herbstwetter mitten im Oktober!

Doch nur zwei Minuten später hat Steffen den Hausbart erreicht und schraubt sich über unsere Köpfe hinweg in die Höhe. Kucky, der zeitgleich mit ihm gestartet ist, fliegt auch schon dort oben herum.

Mist! Steffen hatte recht. Von der entspannten Ruhe, mit der ich heute bloß Buntbaumschweben wollte, ist nichts mehr vorhanden. In mir brodelt das Adrenalin, gespeist von der Angst, den richtigen Zeitpunkt verpasst und wegen Preiselbeeren den vielleicht letzten Thermikflug der Saison versäumt zu haben.

 

Dreizehn Minuten nach Steffen bin auch ich in der Luft. Das Vario piepst. Geschafft! Doch halt, es verstummt nach einem Halbkreis und zeigt Sinken an. „Kein Grund zur Panik“, rede ich mir gut zu, „du bist noch immer raufgekommen“. Selbstgespräche sind so wirksam wie das Pfeifen im finsteren Wald. Man fühlt sich gleich nicht mehr so alleine und im Stich gelassen. Vor allem wenn man sich dabei mit „Du“ anredet.

Ich peile den Bergrücken mit dem Übungslift an. Schwache Thermik, wahrscheinlich ein Rest des Bartes, der Steffen und Kucky in die Höhe katapultiert hatte, ist noch zu spüren. Sie reicht jedoch nicht einmal aus, um die Position zu halten. Zum Startplatz muss ich bereits hinauf blicken. Marc geht eben mit seinem neuen Boomerang in die Luft. Ich schaue rasch weg, will nicht zusehen müssen, wie mich der Deutsche versägt (Fliegerjargon - ob der Ausdruck mit Versagen oder Zersägen zu tun hat, ist mir nicht bekannt). Aber versägt zu werden tut weh. Dabei schmerzt bereits, dass ich dem Bergrücken entlang bis zur letzten Hoffnungskuppe fliegen muss. Wer dort keine Thermik findet, hat Pech gehabt. Es ist der point of no return.

Ich komme den Tannenwipfeln sehr nahe, sehe Vögel flattern, in den Ästen landen und bilde mir ein, sie sähen belustigt zu mir auf. Zum Glück verstehen sie die Wörter nicht, mit denen ich sie beschimpfe. Endlich meldet sich das Vario wieder, ich setze zu einem Kreis an – und welch Überraschung: Marc ist hinter mir. Er ist ebenfalls unter das Startplatzniveau herabgesunken. Offenbar macht die Thermik am ganzen Hang Pause.

 

Auf und nieder, immer wieder

Allmählich arbeiten wir uns wieder hinauf, schöpfen Hoffnung, dass wir Anschluss an Steffen und Kucky finden, doch in 2000 Metern Höhe liegt ein unsichtbarer Deckel, eine Inversion, an der die Thermik stoppt. Wir sinken erneut hinab, ein zähes Jojo. Mittlerweile spielt auch Wolfi mit. Sobald einer von uns stärkeres Steigen findet, eilen die anderen hin, umkreisen die Stelle wie gierige Wespen eine süße Frucht und kommen trotzdem nicht weiter.

Wenn nicht Steffen und Kucky als winzige Farbtupfer unter dem makellos blauen Himmel Richtung Drei Türme entschwunden wären, könnte ich die schwache Thermik ja genießen. Die Landschaft ist grandios, die Fernsicht phänomenal. Aber der Neid ist ein Giftstachel, ich will jetzt auch so hoch hinauf und nicht bloß zwischen 1700 und 2000 auf und ab pendeln.

Nach einer dreiviertel Stunde bin ich des Jojos schließlich Leid, bereit aufzugeben und zu akzeptieren, den richtigen Zeitpunkt um 13 Minuten versäumt zu haben. Eine Unglückszahl. So ist es eben.

 

Sehnsüchtig blicke ich während des letzten Kreises zur Zimba hinüber und nehme Abschied für heuer.

Aber was war das neben dem Gipfel? Aus den Augenwinkeln entschwindet ein buntes Etwas, das nicht zum Berg gehörte. Ach könnte ich doch den Kopf wie eine Eule drehen!

Ungeduldig fliege ich einen weiteren Kreis, damit die Zimba wieder ins Blickfeld rückt. Es ist ein Gleitschirm! Er schraubt sich entlang der Felskante zum Kreuz empor und steigt dann weit darüber hinweg ins Blau des Himmels hinein! Ich bin erschüttert. Das ist also möglich, wenn man die Inversion einmal überwunden hat, denke ich wehmütig. Gleichzeitig spornt es mich an. Wieso freiwillig aufgeben? Ich bin zwar wieder beim point of no return angelangt und die blöden Vögel hocken immer noch in den Tannenwipfeln, aber das Vario gibt ab und zu ein Piepsen von sich. Vielleicht formiert sich gerade jetzt brauchbare Thermik?

Wolfi gräbt zum x-ten Mal einen Bart aus, der Hoffnung verspricht, ich drehe bei ihm ein. Auch Marc kommt her. Alle drei kämpfen wir uns auf 2000 Meter hinauf – und wieder geht es nicht weiter, die Thermik erstirbt.

 

Marc hat 1500(!) Fotos gemacht. Hier knipste er mich. Im Hintergrund Sulzfluh und ganz rechts 3 Türme
Marc hat 1500(!) Fotos gemacht. Hier knipste er mich. Im Hintergrund Sulzfluh und ganz rechts 3 Türme

 

Neue Piloten gesellen sich zu uns, am Startplatz herrscht rege Betriebsamkeit. Es wird enger in der Luft und man muss sich sehr konzentrieren, um nicht aneinander zu geraten. Aber plötzlich sind wir alle ein Stockwerk höher, als habe sich die gesamte Luftmasse angehoben. Das Steigen wird stärker, das Vario zeigt zum ersten Mal mehr als nur ein paar Dezimeter an; man kann sich in die Kurve legen, engere Kreise drehen und die Dynamik des Fluges und die Fliehkraft genießen. Schließlich rieche ich den Erfolg: Frische, kühle Luft umspielt meine Nase, wir sind aus der Inversionssuppe draußen!

 

Endlich!

Eine volle Stunde hatten wir gekämpft– jetzt geht dafür alles recht schnell. Marc verlässt unseren gemeinsamen Bart und fliegt Richtung Drei Türme davon; Wolfi, der es ohnehin nie lange am selben Fleck aushält, probiert es an allen möglichen und unmöglichen Stellen, nur ich bleibe überm Startplatz und frage mich, wie hoch mich dieser Thermikschlauch noch tragen wird. Ohne Wolke gibt es keinen Anhaltspunkt. 2700 Meter habe ich schon erreicht, aber der Schirm, den ich vorhin bei der Zimba entdeckt habe, war noch viel höher.

Ich hole das Handy hervor, ziehe die Handschuhe aus und knipse das unfassbare Panorama.

Was für eine Fernsicht! Blick zu 3 Türmen und Drusenfluh
Was für eine Fernsicht! Blick zu 3 Türmen und Drusenfluh

 

Vor mir erhebt sich der Felsstock mit den Drei Türmen und der Drusenfluh. Die schroffen Steine sind durch eine erste, dünne Schneeschicht gemildert, dafür wirken die senkrechten grauen Wände noch dramatischer. Hinter dem Einschnitt beim Schweizertor öffnet sich der Blick aufs obere Rheintal, in das unzählige Bergketten münden, jede einzelne um eine Nuance milchiger, als hätte man ihre Farbe mit einem wässrigen Pinsel verschmiert. Rippe für Rippe hebt sich plastisch voneinander ab, bis am Horizont Gletscher die Grenze zum Himmel markieren. Ich kreise nach links und sehe Schnee, als wäre ich im Himalaya unterwegs. Bernina, Silvretta, imposante Zacken zwischen gleißenden Flächen, unter mir Moosgrün, Weiden des Gauertals und verschattete Wälder. Sonnenstrahlen zeichnen Lichtspuren in den Dunst.

Der Talboden des Montafons erinnert an den grünen Filz eines Spielbrettes auf dem unregelmäßig verteilt Hauswürfel liegen. Zersiedelung statt Raumplanung.

Mein Blick bleibt an den Seen hängen, denn das Wasser in den Ausgleichsbecken sieht eigenartig aus, als habe man mintfarbenes Plastilin in die Betonwannen gedrückt. Vielleicht ist es vom ständigen Turbinendrehen müde und unbeweglich geworden.

Hinter der Felsbarriere der Vandanser Steinwand erkenne ich den Walserkamm mit seinen braunen Grasgipfeln und dem Waldgürtel, der an jedem Rücken versucht über seine Grenze hinauszuwachsen und mit einzelnen, vorwitzigen Bäumen die Gratlinie markiert.

In derselben Richtung, in großer Distanz, schließlich der Bodensee. Wollweiß. Der Bodennebel hat sich vom Land weg auf die Wasserfläche zurückgezogen. Man könnte meinen, der See bestünde aus kochender Milch.

Als nächstes rückt mir die Zimba ins Bild – auf Augenhöhe. Noch trennt uns das Rellstal und das Vario hört nicht auf zu piepsen.

Zimba
Zimba

Ich fliege zum Kreuzjoch. Der Grat unter mir ist wie ein Landschaftskompass. Er bildet die Himmelsrichtungen ab. Die warme, braune Ostseite steht in krassem Widerspruch zur schneebefleckten Westseite. Herbst und Winter treffen am Wanderweg zusammen. Die Seeaugen unterhalb des Kreuzjoches, in denen ich im Sommer gerne bade, sind ausdruckslos dunkel, fast blauschwarz. Kalt blicken sie mich an.

Während ich immer höher steige, wachsen ständig neue Bergspitzen am Horizont empor. Aber auch in unmittelbarer Nähe gibt die veränderte Perspektive andere Details preis. Der Lünersee taucht hinter einem Bergrücken auf, an der Sporaplatte ist eine kleine Lawine abgegangen und tief unter mir fliegt ein Gleitschirm das Rellstal hinaus. Mein Vario klettert derweil über die 3000m Marke.

 

Zackige Horizontlinie Richtung Silvretta
Zackige Horizontlinie Richtung Silvretta

Noch einmal muss ich das Handy zum Fotografieren hervorholen. Diese Schönheit ringsum sollen auch andere Augen zu sehen bekommen. Außerdem tränen meine vor Glück.

Blick auf Lünersee mit Schesaplana von 3000m Höhe aus
Blick auf Lünersee mit Schesaplana von 3000m Höhe aus

 

Danach gleite ich quer übers Rellstal zur Zimba und fühle mich, als befände ich mich auf dem Weg zu einer Preisverleihung. Der Gewinn ist fix, ich weiß nur noch nicht, wie hoch er ausfallen wird.

 

Als ich die Felsflanke der Zimba in halber Höhe erreiche, sehe ich Kletterer unterhalb der Schlüsselstelle rasten. Die Luft ist ruhig, ich kann sehr nahe an die Felswand heran und die Männer winken mir zu. Direkt überm Sattel, auf dem sie sitzen, hebt mich Thermik ein Stückchen weiter hinauf. Dort hängt eine Dreierseilschaft im Fels, sie haben keine Hand frei um zu winken, sondern erwidern nur meinen zugerufenen Gruß.

Wenn ich nahe genug am Fels bleibe, könnte ich in dem schmalen Thermikband bis zum Gipfel soaren. Doch plötzlich ist Wind im Spiel, bläst mich gefährlich nahe an die Schrofen und Zacken – ich muss mehr Abstand halten. Dadurch falle ich aus dem felsnahen Aufwind heraus und finde mich bei der unteren Seilschaft wieder. Jetzt ist es auch hier turbulent – ans Winken ist nicht mehr zu denken - und ich weiche auf den Grat aus, wo der Wanderweg von der vereisten Brandnertalerseite heraufkommt und in endlosem Zickzack durch Geröll und braune Mähder ins Rellstal hinunterführt. Mitten auf diesem Grat erhebt sich ein markanter Felsturm, an dem ich früher schon öfters Thermik gefunden habe. Auch heute schlägt das Vario an, aber die Thermik ist vom Wind zerrissen und bockig. Meine Kreise über dem Felszacken sind wie ein Kurztrip durch Sommer und Winter, einmal über der Sonnenseite mit den aperen Hängen, einmal über dem schattigen Steinmeer, das mit Schnee und Eis verkrustet ist und sich in Abgründe aus bläulichem Dunst verliert. Der Wind versetzt mich immer weiter ins Schattenreich, sodass ich das Kreisen aufgebe. Lieber verzichte ich auf den Gipfel, als ihn westlich umfliegen zu müssen. Ich kehre zu den rastenden Kletterern zurück, die sich gerade zum Weitergehen bereit machen. Noch einmal versuche ich über ihren behelmten Köpfen aufzusoaren, muss aber wieder knapp unterhalb des Gipfelkreuzes abdrehen, weil böiger Wind auffrischt und die Sache unberechenbar macht.

Ich fliege daher östlich am Kreuz vorbei und befinde mich bald überm Nordgrat der Zimba. Heftige Thermik reißt mich in die Höhe, hier wage ich zu kreisen, weil ich keinen Berg mehr im Rücken habe und mit jeder Umdrehung mehr Abstand zum gefährlichen Terrain unter mir gewinne. Und plötzlich blicke ich auf die Zimba hinab. Soll ich zu ihr zurückkehren?

Ich fliege gegen den Wind an und hätte wohl etwas mehr Höhe gebraucht. Wahrscheinlich muss ich vorzeitig abdrehen – aber nein – ein kleiner, unerwarteter Heber von ein paar Metern und ich bin überm Kreuz. Endlich! Noch vor der ersten Kletterpartie habe ich den Gipfel erreicht. Und weil heute mein Glückstag ist, finde ich direkt über der Zimba etwas Thermik und gewinne damit Zeit, um genussvolle Abschiedskreise zu drehen. Wer weiß, wann ich das nächste Mal hier sein werde?

 

Danach fliege ich mit dem Wind im Rücken weiter zu meinen geliebten Heimatbergen, dem Gottvater, dem Schafgufel und Zwölferkopf. Ich sehe sie jeden Tag von meinem Fenster aus und habe sie schon oft in meinen Texten beschrieben. Auf dem Schafgufel wurde vor kurzem ein neues Kreuz errichtet und das möchte ich mir aus der Nähe ansehen. Doch wegen des Rückenwindes sause ich mit 45 km/h daran vorbei, erst auf dem Retourweg vom Zwölferkopf habe ich Zeit zum Schauen. Ich gleite auf den Schafgufelgrat zu, auf dem ein Wanderer Schuhspuren im Schnee hinterlassen hat. Durch den Gegenwind bin ich derart langsam, dass ich mit dem Gedanken spiele, kurz aufzusetzen und meine Spuren hinzuzufügen. Aber der Grat ist schmal und ich habe weder genügend Erfahrung noch Können, um das Manöver sicher auszuführen. Sollte ich mich verschätzen, könnte das fatale Folgen haben.

 

Flugroute auf gogle earth
Flugroute auf gogle earth

Ich verlasse den Schafgufel, quere das weite Ochsental mit seinen Hügeln, deren Südseiten wie braune Pickel aus der weißen Schneehaut ragen, und will beim Valkastiel übers Joch zur Gavalinalpe fliegen. Doch starkes Sinken verhindert mein Vorhaben, ich gerate in ein Abwindband und muss das Ochsental hinausfliegen, einen Bergstock umrunden und kann erst dann zur Gavalina einbiegen. Damit habe ich endgültig den Anschluss an die Thermik verloren, aber das spielt nun auch keine Rolle mehr. Meine Höhe reicht aus, um nach Vandans zu gelangen und dort mit Buntbaumschweben den Flug ausklingen zu lassen.

Gleich hinter der Vandanser Steinwand beginnt der Farbenrausch. Aus dem Latschengrün sinke ich zum Gold versprengter Birken und Lärchen hinab, sehe in schattigen Lichtungen verwelkte Huflattichblätter, vom Schnee und Frost geknickt, mit der silbrigen Unterseite nach oben, blinkend wie Pailletten. Weiter unten erwartet mich das Rostrot der Buchen, dazwischen kahles Geäst von Erlen, das gelbe Laubkleid wie ein hastig abgestreifter Rock am Boden ausgebreitet.

 

Ich fliege in langen Achterschleifen die Wälder ab und besuche einen einsamen Bergahorn auf einer Maisäßwiese, auf der seine zackigen Blätter verstreut liegen. Sterntaler auf dunklem Gras.

 

Am Schluss schwebe ich zum Waldsaum hinab, der schon ziemlich ausgebleicht ist. Die Laubbäume haben ihre Farben in weiten Bögen in die Wiesen gemalt. Sie stehen an vorderster Front, manche fast kahl und irgendwie hilflos, während der Wind die letzten Blättchen abzupft und sie wie bunte Flocken tanzen lässt. Auch er übt für den Winter.

 

Nach zweieinhalb Stunden Flugzeit stehe ich am Boden, an den Grashalmen glitzert immer noch Morgentau, der den ganzen Tag überdauert hat.

 

Später, von meinem Balkon aus, blicke ich zum Schafgufel, Gottvater und Zwölferkopf hinauf. Ihre Gipfel schweben überm Dunst der verschatteten Nordhänge. Sie scheinen unerreichbar weit entfernt. Dass ich vor kurzem über sie geflogen bin, kommt mir wie ein Märchen vor. Ein kleines Herbstwunder.

 

Rückblick vom Balkon aus.....
Rückblick vom Balkon aus.....