Mit
einem gutmütigen Brummer ins Walser- und ins Klostertal
Es ist Freitag, der 4. Mai 2012, 11 Uhr. Bei der Schnifisbahn ist nichts los, obwohl das Wetter einen perfekten Flugtag verspricht. Bloß vier Piloten drängen sich vor der Gondel, mit Rucksäcken, die so voluminös sind, dass Toni nach kurzem Nachdenken doch nur drei Männer einsteigen lässt. Ich warte gemeinsam mit dem Abgewiesenen auf die nächste Bahn. Ein weiterer Gleitschirmpilot gesellt sich dazu, die Männer schwelgen im Fliegerlatein. Während der Gondelfahrt erörtern sie Routen und Streckenflugmöglichkeiten. Namen von Weltklassepiloten, die heute ebenfalls in Schnifis sind, fallen.
Als ich, oben am Berg angekommen, meinen kleinen Rucksack schultere, habe ich ein Gefühl, als wäre ich versehentlich mit einem Fahrrad bei einem Motorradwettbewerb aufgekreuzt. Der Startplatz ist mit bunten, sichelförmigen Tüchern bedeckt. Die Piloten tragen windschlüpfrige Helme mit darauf montierten Kameras. Sobald sie ihre Liegeschürzen anziehen, sehen sie aus wie Heuschrecken oder Gottesanbeterinnen. Nur die Kabel der Sprechfunkgeräte und die Trinkschläuche stören das Insektenbild. Hightech-Ausrüstung, wohin ich schaue. Die Blicke, die mein gutmütiger Yeti, ein sogenannter „Einserschirm“ (weniger Leistung zugunsten mehr Sicherheit) zwischen all den Hochleistern auf sich zieht, sind mit einem Augenzwinkern unterlegt. Von der Diskussion über die Flugstrecken bin ich ab sofort ausgeschlossen.
Nahe
dem Gefrierpunkt
Hoch über dem Walserkamm hat die Thermik bereits am Vormittag Wolken zu bauschigen Haufen quellen lassen. Ich schätzte ihre dunkle Basis auf ca 2800 m und lieh mir deswegen von meinem Mann einen dicken Anorak aus, den ich nun über mein Shirt, Hemd, Pullover und Fleecejacke anziehe. Die Stulpen der Hosenbeine stopfe ich in den Bund dicker Wollsocken, über die Hose zippe ich eine gefütterte Schihose. Eine Gesichtsmaske, ein Schal, wattierte Fingerhandschuhe und natürlich ein Helm runden das Outfit ab. Dennoch friere ich eine viertel Stunde nach dem Start erbärmlich.
Wie in einem Aufzug hat mich die Thermik auf über 3000 m katapultiert. Die feuchte Luft der Wolken verbündet sich in dieser Höhe mit dem Fahrtwind zu einer eisigen Verschwörung, die mir fast die Freude am Fliegen verdirbt. Wie ein wütender Feind beisst mir die Kälte in die Nasenspitze und in die Finger und treibt mir Tränen in die Augen.
Aber die kalte Luft hat auch etwas Gutes: Sie ist glasklar. Der Bodensee liegt zum Greifen nah. Ich sehe die weißen Dreiecke der Segelboote sein Blau durchkreuzen, die roten Ziegeldächer von Lindau leuchten und die noch braunen Schilfgürtel am Rohrspitz.
Licht
und Schatten am Walserkamm
Direkt unter mir lehnen sich Schneewächten vom Walserkamm ins schattige Laternsertal hinaus, einige bereits abgebrochen und eine braune, schmierige Spur hinterlassend, hinabgerutscht. Auf der Sonnenseite des Hüttenkopfes liegen Blöcke von gepresstem Lawinenschnee auf den Hängen, manche wuchtig von der Größe eines Zimmers, andere flockig hingestreut wie geronnene Milch.
Ich fliege den messerscharfen Grat entlang und genieße den Kontrast zwischen Nord- und Südhängen. Links: bläulich kaltes Licht in den verschatteten Schneeflanken, rechts das warme Braun herbstlichen Grases, welches vom Winter konserviert worden ist und sich nur an quellfeuchten Stellen allmählich zu grünen beginnt. Weiter unten im Tal die satten Wiesen, manche soeben hingemäht oder unter Güllefontänen erstickend. Mitten im Frühlingsidyll die Obstbäume, Blütenkugeln, wie mit Deckweiß hingetupft.
Im
"Jo-Jo"-Flug
Vor lauter Hinabschauen hab ich die Wolke über mir vergessen. Das Vario piepst in mir fast unbekannten Tönen, 6 m Steigen, 7 m Steigen in der Sekunde; die Landschaft ringsum versinkt in einem dunstigen Weichzeichner. Gleich verschluckt mich die Wolke, wenn ich nicht rechtzeitig davonfliegen kann. Ihre fransigen Ränder bilden eine Glocke, die mir die Sicht nach vorne nimmt. Nur direkt unter mir ist die Luft noch klar, 1000 Meter tiefer erkenne ich das Gipfelkreuz der Tälispitze. Trotz aller Fluchtversuche tauche ich für ein paar Sekunden ins strukturlose Weiß ein, spüre, wie es um mich herum wirbelt; der Schirm bockt und das Vario kreischt. Dann wird die Sicht schlagartig klar, tief unter mir erscheint das Walsertal, hinter mir blähen sich weiße, blumenkohlartigen Wucherungen in den Himmel. Mein Höhenmesser zeigt 3200 m an.
Neben der Wolke fällt die zuvor aufgestiegene Luft wieder hinab. Und ich mit ihr. Erneut suche ich Zuflucht unter der bauschigen Saugglocke und lasse mich hoch tragen. Knapp bevor ich der Wolke zu nahe komme, muss ich flüchten. In diesem wechselnden Jo-Jo-Spiel fliege ich bis kurz vor Faschina, dann ist plötzlich Schluss mit dem Aufwind. Die Wolke löst sich auf, bekommt Löcher, der blaue Himmel linst durch das Weiß. Die wärmenden Sonnenstrahlen sind zwar angenehm, aber eigentlich wären sie jetzt gar nicht mehr nötig. Denn das rasche Sinken treibt meinen Puls in die Höhe, mir wird sogar ziemlich heiß. In kurzer Zeit habe ich tausend Höhenmeter vernichtet. Nun schleiche ich knapp über die Grate in Richtung Schnifis zurück und hoffe auf ein Signal vom Vario, dass es endlich wieder aufwärts geht. Zu den Gipfelkreuzen muss ich bereits aufschauen und bald steht eine Entscheidung an: Geradeaus weiterfliegen oder ins Walsertal abbiegen, um nicht in einem dieser tiefen, seitlichen Alptäler zu verhungern. Oder abzusaufen. Beide Ausdrücke sind Fliegerjargon. Sie bedeuten so viel wie irgendwo im Juchee landen zu müssen und in meinem Fall einen langen Fußmarsch vor sich zu haben.
Konturenflug
So nervenaufreibend das Tieffliegen auch sein mag, es hat einen unglaublichen Reiz. Die Nähe zu den Graten und Schrofen ermöglicht fantastische Einblicke. Dort zwischen den Latschen steht ein Rudel Gämsen und schaut, hier hockt ein Adler auf einem Lawinenrechen und beäugt mich misstrauisch. Direkt unter mir hat sich die Schneedecke wie ein Teppich zu hohen Wellen aufgefaltet, ich kann in die düsteren Hohlräume zwischen Boden und Schnee spähen.
Von den Dächern der Gassneralpe sind nur die talseitigen Giebel sichtbar, blecherne Dreiecke ragen aus einer fast konturlosen weißen Masse. Das Alpkreuz stützt seine Seitenarme noch immer auf Schnee.
Endlich gibt das Vario wieder ein leises Piepsen von sich, die Luft beginnt zu brodeln und plötzlich prallt mein Schirm wie gegen eine unsichtbare Wand. Eine Thermikblase muss direkt vor mir in die Höhe schießen, ich will da hinein, lasse den Schirm fliegen, er beißt an und schwupps zieht es an den Gurten und reißt mich in die Höhe. In engen Kreisen zentriere ich das Steigen, die Landschaft sinkt unter mir weg, es verschlägt mir die Ohren, plötzlich ist da wieder die Kälte und schließlich der Blick auf den Bodensee, den ich bereits vermisst hatte. 2500 m, 2800 m, die Finger werden klamm, aber es geht höher und immer höher, 3000 m, auf dem Furkajoch liegt noch unglaublich viel Schnee, stelle ich fest, 3100 m und plötzlich ist alles undurchdringlich weiß. Die Wolke hat mich inhaliert.
Was
nun?
Mit Hilfe des Kompass fliege ich nach Osten, auf 3200 m Höhe lüftet sich endlich der feuchte Schleier, mein Blick fällt auf den Hohen Fraßen, mein nächstes Ziel. Ein Pilot fliegt vor mir, allerdings näher am Walgau. Das Glück ist auf meiner Seite. Während er unglaublich rasch an Höhe verliert, kann ich mich gut halten. Zufällig habe ich die ideale Linie erwischt. Hoch über dem Nitzköpfle komme ich an, während der andere im Tal unten landet. Der Fraßen kann sehr selektiv sein. Vor allem bei Südwindlagen. Ich empfinde weder Schadenfreude noch Genugtuung, es bleibt mir einfach keine Zeit dazu, denn das Vario meldet rasante Steigwerte. Ich fliege sofort weiter zur Elsa, unter einer Wolkenstraße die einer Kette Meringues gleicht. Über dem Grubsertobel lasse ich mich bewusst in das weiße Gespinst einsaugen. Ich bin allein in der Luft und kann mir das ohne der Gefahr eines Zusammenstoßes erlauben. Der Höhenmesser zeigt 3300 m als ich die Wolke verlasse. Kurz spiele ich mit dem Gedanken in Richtung Zimba den Walgau zu queren, doch der Südwind bläst mir zu heftig entgegen. Daher bleibe ich dem Bergrücken treu und peile den Roggelskopf an.
Im
Klostertal
Der Schnee am Rande der Klippen des Grubsertobels ist dreckig braun wie ein speckiger Hemdkragen und ich rätsle über die Ursache der Verschmutzung. Es kann sich nur um Sand und Staub handeln, der beim letzten Föhnsturm aus den offenen Abhängen des Tobels aufgewirbelt worden war und sich dann auf der schneebedeckten Leeseite abgelagert hat.
Der Grat bäumt sich hinter der Elsalpe wieder auf, gipfelt in der Gamsfreiheit, gefolgt vom Weißen Rössel und dem Schafberg. Weiter hinten klotzt der Felsriegel mit dem markanten roten Band. Soll ich es wagen, die Rote Wand anzufliegen? Die Landschaft ist noch vollkommen mit Schnee bedeckt. Wenn ich mangels Thermik da irgendwo landen müsste, hätte ich ohne Schi oder Schneeschuhe wahrscheinlich keine Chance, in ein Tal abzusteigen. Also lasse ich das Experiment sein und gleite weiter ins Klostertal hinein.
Wo ist denn nur der Roggelskopf? Aus über 3000 Metern Höhe gesehen verschmilzt der Gipfel mit dem Grat zu einem unscheinbaren Zacken. Fast enttäuschend. Auch den herrlichen Wasserfall des Masonbaches habe ich verpasst. Aus der Vogelperspektive war er bloß das abrupte Ende eines kleines Wasserlaufes.
Picasso im Schnee
Was sind das für seltsame blaue Striche, die sich zu einem grob skizzierten Kreis vereinen? Es dauert ein paar Sekunden, bis ich den Formarinsee erkenne. Ach hätte ich doch einen Fotoapparat dabei! Die schemenhafte Andeutung der Wasserfläche unter der Schneedecke ist ein surreales Bild, das ich gerne festhalten möchte. Aber es geht weiter, meine Aufmerksamkeit kann nicht verweilen, vor mir spannt sich die Fensterlewand zwischen dem Ganahlskopf und der Saladinaspitze, dahinter gähnt der abscheuliche Abgrund des Radonatobels. Wie Dolchspitzen ragen von der Erosion geformte Zacken und Kegel auf, dünne Rinnsale zwängen sich durch schluchtartige Spalten.
Angst
Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich bei diesem Anblick. Just in dem Moment wird die Luft turbulent und mein Schirm gebärded sich wie ein bockiges Pferd. Felswände brechen unter mir unvermittelt in einen tiefen Canyon ab. Mein Blick verliert sich in den Faltungen des Tobels, wird gefangen gehalten von den Schatten der Tiefe. Hier würde auch ein Rettungsschirm nichts mehr nützen, denke ich verängstigt. Während ich über diesen Hexenkessel fliege, habe ich den permanentem Warnton im Ohr, einen Alarm, der mir außergewöhnlich starkes Sinken anzeigt. Schaffe ich es, die Radonaschlucht zu überqueren oder muss ich mich durch die Enge ins Klostertal hinaus retten? Eine schreckliche Vorstellung!
Doch der Warnton verstummt, schlägt sogar in Steigen verheißendes Piepsen um. Thermik hebt mich schließlich über den Schluchtrand hinaus und trägt mich bis über die Gamsbodenspitze. Aber das Adrenalin ist immer noch siedend heiß in meinem Blut und ich halte Ausschau nach einem Notlandeplatz im Talboden. Die Ortschaft Klösterle scheint mir ungeeignet, aber neben der Kirche Außerwald vor Danöfen befindet sich eine große Wiese, die frei von Stromleitungen ist.
Zu
früh gefreut
Diese Entdeckung gibt mir das nötige Vertrauen zurück und ich freue mich, als ich übers Glong zur Grafenspitze gleite. In Gedanken bin ich schon über der Plattnitzer Jochspitze und sehe mich den Arlberg überfliegen. Das ist ein Fehler. Der Warnton holt mich aus den Träumereien zurück. Es geht wieder abwärts. Diesmal spült es mich nach einem kurzen Blick auf den Spullersee ins Spreubachtal hinab, das nicht viel einladender aussieht als der Graben von vorhin. Hoffentlich schaffe ich es bis zum Landplatz, ist nun mein einziger Gedanke. Ich stürze in die Talenge hinab und das Adrenalin peitscht meinen Puls in die Höhe. Es fühlt sich an, als wäre mein braver Schirm im Sackflug. Mit zitternden Füße steige ich ins Speedsystem. Ich habe keine Zeit, die Druckrohrleitung am Dürrenberg zu bewundern, sondern konzentriere mich auf die Geschwindigkeitsanzeige meines GPS-Gerätes. Endlich bin ich über dem Talboden und gleite zum Landeplatz. Gegenwind macht mir zu schaffen. Kann ich die Wiese neben der Kirche unter diesen Umständen überhaupt erreichen? Was gibt es für eine Alternative, falls sich das nicht ausgehen sollte? Panisch prüfe ich jeden grünen Flecken unter mir, ob er ausreichend Platz zum Landen böte. Da lässt der Wind nach und ich bin endlich über der Kirche. Drei Kreise noch und ich werde am Boden stehen. Da beginnt das Vario leise zu piepsen. Steigen? Jetzt? Wollte ich nicht landen? Nun, ich lasse mich für ein paar Kreise auf den Aufwind ein. Das verschafft mir mehr Zeit, den unbekannten Landeplatz besser zu inspizieren. Stetig geht es bergauf. Bald bin ich hundert Meter höher, bald 200. Da keimt Hoffnung in mir auf. Zieht die Thermik vielleicht durch bis zu den Wolken hinauf? Die Landung ist kein Thema mehr. Ich konzentriere mich voll auf das schwache Aufwindband. Sanft trägt es mich übers Glongtobel. Jetzt ist die Luft ruhig und ich kann ganz nah an die Felsnadeln und Grate heran fliegen, die ich vorhin so gefürchtet hatte.
Der
dröhnende Abschluss
Plötzlich knallt es neben mir. Ein mächtiges Schneefeld birst und die untersten Brocken gleiten wie in Zeitlupe über die Almwiese des Glong auf den Abgrund am Rand des Tobels zu. Danach beschleunigen sie rasant. Die Schneemassen vermischen sich bei der Talfahrt mit Geröll und Dreck zu einer braunen Lawine, die immer größere Trümmer mitreißt. Am Ende klatscht die ganze Masse in einen Bach, Wasser spritzt in hohen Fontänen weg. Ein wunderbares Schauspiel, direkt unter mir!
So etwas habe ich in meinen zwanzig Jahren Fliegerei erst einmal erlebt. Vor lauter Schauen habe ich allerdings die Thermik verloren. Es geht schon wieder bergab. Aber diesmal ist es mir egal. Entspannt gleite ich auf den Landeplatz zu und stehe nach fast drei Flugstunden wohlbehalten am Boden. Menschen, die in kurzärmeligen Shirts auf einer Veranda sitzen, beobachten interessiert, wie ich Schicht um Schicht ausziehe. Möglicherweise wundern sie sich, aber niemand fragt, woher ich komme. Vielleicht ahnen sie aber auch, dass sie mit einer einzigen Frage einen Wortschwall auslösen würden, der sich nicht so einfach stoppen ließe….
Erläuterungen für Nichtflieger:
Gleitschirme werden in 4 Klassen eingeteilt, die Aufschluss über das Flugverhalten geben.
1 kann man mit „sehr gutmütig, als Schulungsschirm geeignet“ gleichsetzen. Bereits 1-2 ist nur für erfahrene Piloten zu empfehlen. Ein Fluglehrer traf einmal folgende Aussage: Bei einem Wechsel von einem 1er-Schirm aus einen 1-2er-Schirm gewinnt der Pilot ca 5 % mehr Leistung, nimmt dafür aber 30 % mehr Risiko in Kauf.
Vario(-meter): Ist ein Messgerät, das über die atmosphärischen Druckunterschiede das aktuelle Steigen oder Sinken durch akustische Signale anzeigt. Generell ist es so eingestellt, dass Piepsen eine Aufwärtsbewegung bedeutet und ein Dauerton auf raschen Höhenverlust hinweist.
Speedsystem: Ist eine Möglichkeit das Flügelprofil des Schirmes zu beeinflussen und ihn dadurch schneller zu machen. Es wird über die Beine betätigt und zieht mittels einem kleinen Flaschenzug die vorderen Gurte und in Folge die Leinen an der Frontseite des Schirmes herab.