Ein 67 km langes Loblied auf einen Yeti
Vorgestern habe ich einen neuen Schirm bestellt.
Gestern kam die Nachricht von der acht(!)-wöchigen Lieferzeit.
Heute betrachte ich meinen Yeti mit anderen Augen, während im Kopfhörer eine Sopran-Stimme singt: „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich find sie nimmer und nimmermehr…“.
Yetis Farben kommen mir blass vor, das Tuch ausgeleiert, und seine dünnen Leinen nerven mich. Allein der gedankliche Seitensprung mit dem bunten Katalogmuster seines Nachfolgers lässt ihn alt erscheinen. Ich bin ungerecht. Auf 100 Flügen war mir mein Yeti gut genug gewesen, nun bin ich seiner überdrüssig.
Aber das kennt man ja auch aus den zwischenmenschlichen Beziehungen. Ist das Wort Scheidung erstmals ausgesprochen, so ist die Nähe des Partners, mit dem man es zuvor jahrelang eigentlich recht gut ausgehalten hatte, auf einmal unerträglich.
Insgeheim hatte ich auf ein Lieferwunder gehofft, das mir heute einen Jungfernflug beschert hätte. Nun, wie gesagt – zwei Monate werde ich mich gedulden müssen, bevor ich mich vom Yeti verabschieden kann.
Startdepression
Heute ist Freitag, der letzte Tag einer Arbeitswoche, die von der Wettervorhersage als wechselhaft und mit vielen Regenschauern angekündigt worden war. Von wegen! Die besten Flugbedingungen herrschten vor, wenn auch mit eher tiefer Wolkenbasis und der Gefahr von Überentwicklungen am Nachmittag. Der Anblick der Bilderbuch-Cumuli über den Berggipfeln war eine Qual für alle, die sich nicht spontan frei nehmen konnten.
Daher wundert es mich, dass jetzt, am Freitag kein größerer Andrang in Schnifis herrscht. Liegt es am noch wolkenlosen Himmel? An dem Wort „Föhn“, das kurz in einer Wetterprognose auftauchte, oder daran, dass die Schnifner Bahn wieder einmal außer Betrieb ist?
Jedenfalls hängen am Startplatz mehr Windsäcke als Piloten herum. Die Stimmung ist nicht von Streckeneuphorie geprägt. Kurze, aber heftige Aufwindphasen wechseln mit stumpfer, stehender Luft. Ein einziger Schirm ist über uns, vielleicht zweihundert Meter, von unsichtbarer Hand auf immer derselben Höhe gefangen.
Missmutig blicke ich auf den Yeti, die Daunenjacke und auf die Uhr. Halb zwölf vorbei. Die Tage zuvor brach die Thermik schon um Stunden früher los. Jetzt ist Zeit zum Start, auch wenn es nicht danach aussieht. Ich würge das Haydn Quartett ab, zupfe die Ohrstöpsel und beginne den voluminösen Haufen aus Gewand anzuziehen. Ich hätte Teile davon auch ins Gurtzeug stopfen können, aber dazu bin ich zu faul. Es liegt schließlich ein paar Meter entfernt.
Überraschende Wende
Als ich mich einhänge, frischt der Wind auf. Alle Windsäcke stehen waagrecht. Ich starte und stehe ebenfalls. Zumindest fühlt es sich so an. Der Yeti macht kaum eine Vorwärtsbewegung. Besorgt blicke ich hinauf zur Kappe. Ist etwas nicht in Ordnung? Ist er gekränkt, weil ich ihn gegen einen neuen Schirm eintauschen werde? Mag er nicht mehr?
Ach was, das Gegenteil ist der Fall!
Mein Yeti kämpft tapfer gegen die Wand aus aufsteigender Luft und parkt sich schließlich in diesen Fahrstuhl zum Himmel ein. Wobei er gänzlich auf sein übliches, mürrisches Rascheln verzichtet hat. Will er mir etwas beweisen?
Ohne eine Kurve zu fliegen steige ich empor, während die Startwiese schrumpft und die Windsäcke enger zueinander rücken. In rasantem Tempo geht es auf-, aber nicht vorwärts.
Föhn!?
Wie eine Warnleuchte blinkt das Wort in meinen Gedanken. Ich fliege einen Kreis um den Windversatz herauszufinden. Es ist Südwest, kein Föhn, sondern eine Mischung aus Tal- und Südwind. Ringsum quellen bauschige Wolken über den Bergen. Jede landschaftliche Erhebung ziert sich mit einem weißen Sahnehäubchen. Keine Spur von einer starken Höhenströmung, die aus den blumenkohlartigen Gebilden flache Linsen schleifen möchte. Föhn sieht anders aus, beruhige ich mich.
Knapp unterhalb des Hoch Gerachs wird die Luft turbulent. Wahrscheinlich bin ich zwischen die „Fronten“ des südwestlichen Talwindes und der südöstlichen Höhenströmung gelangt, die sich hier ineinander verhaken und um die Vorherrschaft kämpfen. Bildlich ausgedrückt. Sehen tut man die wirbelnden Luftmassen ja nicht, nur fühlen.
Wenn ich ohne jede Vorwarnung schlaffe Steuerleinen in der Hand halte, oder der Schirm sich wie eine Ziehharmonika zusammenkrümmt, um sich danach irgendwo außerhalb meines Blickfeldes zu verstecken, dann phantasiert mein Hirn automatisch Erklärungen, die das Yeti-untypische Verhalten erklären wollen: Windscherung. Lee der Gerach-Flanke. Was auch immer. Bis der Yeti mit vollständig gefüllten Kammern wieder über mir auftaucht.
„Braver Schirm“, lobe ich ihn und habe gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Welch Glück, heute keinen Neuen, Unbekannten zu erproben! Im Moment bin ich sehr dankbar für altbewährte Gutmütigkeit.
Himmelwärts
Ich kreise am Hoch Gerach vorbei, die Zahlen am Variometer belegen das Fahrstuhlgefühl. In nur zwanzig Minuten habe ich die Wolkenbasis auf 3.400 Meter erreicht. Das Steigen ginge ungebremst weiter, aber ich verspüre keine Lust auf einen Blindflug und weiche ins Großwalsertal aus. Außerhalb der Thermik macht mir der Südostwind zu schaffen. Er reduziert meine Geschwindigkeit über Grund auf 20 km/h.
Ich bin zwar ein Freund der Langsamkeit, aber die Wolke neben mir bläht sich mächtig auf und streckt ihre dicken, weißen Wülste in meine Richtung. Nicht sehr schnell, aber beharrlich greifen sie in den noch wolkenfreien Luftraum hinein. Ich steige ins Speedsystem. Die Wirkung ist lächerlich.
Warum fällt mir ausgerechnet jetzt Schuberts Vertonung von Goethes Erlkönig ein? Wie das Kind auf die Frage, warum es so bange sein Gesicht verberge, singend antwortet: „Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?“ Und der Vater beschwichtigt: „Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif“. Später erfahren wir, dass das Kind recht gesehen hatte, denn „dem Vater grausets, er reitet geschwind…“. Das nützte ihm allerdings genauso wenig, wie mir das Betätigen meines Speedsystems.
Mich fröstelt als ich erkennen muss, dass mich der Wolkenkönig mit seinen gierigen Fingern einholen wird. Über mir der ächzende Schirm. Es gibt nur einen Ausweg. Nicht die Flucht nach vorne, sondern nach unten. Ich fasse die äußersten A-Leinen und reduziere die Tuchfläche des Schirmes um rund ein Viertel. Mit solcherart „angelegten Ohren“ tauche ich ins Reich der Menschen hinab, wo sich die undurchsichtige Wolkenmacht in Nichts auflöst.
Geschafft!
Unter mir, schmal und irgendwie flach hingeduckt, der Walserkamm. Normalerweise kleben meine Augen immer am Boden, sammeln Eindrücke wie eine hinter der Netzhaut montierte Kamera. Heute bräuchte ich für meine Detailverliebtheit ein Fernglas. Ich befinde mich immer noch auf 3.200 Meter Höhe, also einen Kilometer über dem Grat. Und das Vario piepst unaufhörlich, gleich dem verlockenden Gesang des Erlkönigs: „Du liebes Kind, komm, geh’ mit mir! Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir.“
Wenn ich nicht zum Spielball der Himmelsgewalten werden will, so muss ich mich an strikte Regeln halten: Nicht bis zur Basis aufkurbeln, mindestens 300 Meter vertikalen Abstand halten, immer einen Fluchtweg vor Augen haben und mir dessen Himmelsrichtung merken, falls ich doch auf eine Kompassorientierung angewiesen sein sollte.
Die Wolken türmen sich mächtig auf und holen dabei tief Luft. Der Erlkönig säuselt, in Bezug auf mich allerdings im gender-Irrtum: „Willst, feiner Knabe, du mit mir gehen?“
Jede einzelne Wolke hätte das Potenzial mich zu inhalieren. „Meine Töchter führen den nächtlichen Reih’n und wiegen und tanzen und singen dich ein.“ Ich muss auf der Hut sein.
Mit dem Blick auf das Vario versuche ich eine ideale Linie unter der Wolkenstraße zu fliegen, die mir weder Steigen noch Absinken beschert. „Nullschieber“ nennen Piloten diese Form des Fliegens ohne Höhenverlust. Die dunkle, zentrale „Fahrbahn“ der Wolkenstraße muss ich meiden. Zu heftig wären dort die Aufwinde. Ich gleite stattdessen quasi am Pannenstreifen rechts außen dahin; auf den Boden projiziert, bewege ich mich südlich des Walserkammes.
Höhenrausch
In kurzer Zeit gelange ich nur im Geradeausflug nach Faschina. Hier im Zentrum von Vorarlberg ziehe ich ein paar Kreise um das Panorama zu genießen. Von den Schweizer Bergen über den Bodensee hinaus schweift mein Blick in den süddeutschen Raum mit dem welligen Hügelland, das sich mitten im Bregenzerwald zu steilen Falten aufwirft und Unmengen von Bergen, Graten und tiefen Einschnitten bildet, die ich nicht benennen könnte. Kanisfluh und Diedamskopf, die beiden erkenne ich an ihrer Form, weiter hinten, in Richtung Schnee, könnte der Widderstein sein Felsenhaupt erheben. Nach Osten zu ist die Luft dunstig, die Konturen verschwimmen unter der Wolkendecke, ich vermute dort Lech, Zürs und den Arlberg. Im Südosten erhebt sich mächtig die Rote Wand, und dahinter am Horizont leuchtet weiß die Silvretta. Ich drehe mich weiter, bis ich die Drei Türme, die Zimba und schließlich den Walgau ins Blickfeld bekomme. Das Ländle-Relief liegt mir buchstäblich zu Füßen. Klein und zerknittert wirkt es aus dieser Höhe.
Apropos Höhe, schon wieder habe ich fast 3.500 Meter erreicht! Kondensschleier manifestieren sich ringsum mich her, vernebeln die Sicht, radieren die Grenzen Vorarlbergs aus, als wollten sie mir die Nabelschnur kappen, die mich mit dem Heimatboden verbindet.
Entschlossen lege ich meinem Yeti wieder die Ohren an und verschwinde aus dem Einflussbereich dieser Wolke. Im Vertrauen, dass der heutige Flug nur aus der steten Sorge vor zu großer Höhe besteht, sinke ich über das Faschinajoch hinweg und wundere mich, dass es am Zafernhorn nicht automatisch wieder nach oben geht. Habe ich es mit dem Abstieg übertrieben? Beunruhigt krebse ich zur Blasenka hinüber. Das Vario schweigt. Ich wechsle auf die sonnenbeschienene Seite. Nur dass da heute keine Sonne ist. Die Wolken haben sich zu stark vermehrt.
„Auch gut“, denke ich pragmatisch, „war mir ohnehin zu kalt dort oben“. Jetzt tauen wenigstens die tauben Finger auf. Warum sie dabei schmerzen, als würde ich glühende Kohlen anfassen, ist mir ein Rätsel. Was haben sie davon? Rache? Oder steht der heutige Tag unter dem Motto: Von einem Extrem ins andere?
Wie um diesen Gedanken zu bestätigen, endet mein Absaufen abrupt. Der Sinkalarm schaltet ohne Schweigepause direkt auf Steigen um. Der von mir bereits ins Auge gefasste Landeplatz verschmilzt mit den übrigen Talgrund zu einheitlichem Grün.
Ich richte meinen Blick wieder in den Himmel, um festzustellen, welche Wolke nun die Fäden zieht. Ob sie vertrauenswürdig ist, oder eher zum Fürchten. Die Steigwerte legen letzteres nahe. „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt!“, droht sie mir mit der Stimme von Cornelia Horak, übrigens eine der schönsten Erlkönigvertonungen.
Flucht…
Der Gipfel des Zitterklapfen sinkt an mir vorbei nach unten. Ich habe das unangenehme Gefühl, nach oben zu fallen. Mit sechs Metern pro Sekunde rausche ich auf die dunkelgraue Unterseite des Wolkenmonsters zu. Gleich einem riesigen Saugnapf hockt das Ungetüm direkt über dem Zitterklapfen und versperrt mir den weiteren Weg hinein ins Großwalsertal. Eigentlich hatte ich soeben beschlossen, nach Lech zu fliegen. Aber angesichts des himmlischen Widerstands entscheide ich mich für einen Abstecher ins sprichwörtlich Blaue. Auf 3.200 Meter steige ich aus dem Bart aus, halte Richtung Südwesten und bin erstaunt, dass das Steigen kein Ende nimmt. Wieder entstehen aus dem Nichts unter und neben mir feine Nebelgespinste, die mich umgarnen, mit filigraner Schönheit bezaubern, mir aber gleichzeitig kalte Feuchte ins Genick hauchen.
Wie ruft der Sohn im Erlköniggedicht in höchster Pein? „Mein Vater, mein Vater, jetzt fasst er mich an!“
Mir schaudert, ich befehle der inneren Stimme endlich den Mund zu halten und mit diesem Angst einjagenden Rezitativ aufzuhören. Die Sicht zum Boden trübt sich, aber ich bin ohnehin nur auf die Zahlen am Vario fixiert. 200° lautet mein Kurs. Allmählich ebbt das Piepsen des Varios ab, Turbulenzen beuteln den Yeti, als bekäme er einen Tritt auf die Kappe („Erlkönig hat mir ein Leids getan!“), dann bin ich aus der Einflusssphäre der Wolke draußen.
Eins schwöre ich mir: So schön die Horak auch singen mag, vor dem Start kriecht mir kein Schubertlied mehr als Ohrwurm ins Hirn. Vielleicht Pachelbel. Den würde ich als Begleitmusik ertragen.
… ins Blaue
Ruhig gleite ich über Buchboden hinweg auf die andere Talseite, wo sich das Schigebiet Sonntag Stein einen Wiesenrücken erobert hat. Dieser kleine Hügel inmitten der beeindruckenden Bergwelt ringsum (Rote Wand, Zitterklapfen, Gamsfreiheit) liegt unter blauem Himmel. Ohne über die Hintergründe dieses Umstandes nachzudenken, fliege ich die sonnengetränkte Landschaft an. Die Freude auf Wärme und ungetrübte Sicht statten mich mit einer Zuversicht aus, die in völligem Widerspruch zur Wetterkunde steht.
Beim Erkennen dieses Fehlers ist es für eine Korrektur zu spät. Der Südwind reduziert meine Geschwindigkeit auf unter 20 km/h, ich sinke rascher, als ich vorwärtskomme. „Eins zu Stein“ nennt man einen derartigen Gleitwinkel. Unabhängig vom Anflug auf Sonntag-Stein. Die Namensgleichheit ist ironischer Zufall. Das Sinken nicht. Irgendwo muss ja die von den großen Wolken ringsum aufgesaugte Luft wieder vom Himmel fallen, der nicht ohne Grund genau an diesem Ort ein blaues Fenster öffnet. Wie sagte einmal ein Wissenschafter? Es steht eine gewisse Logik dahinter, dass das Fell ausgerechnet dort Löcher besitzt, wo die Katze Augen hat.
Ich blicke zurück zu meiner Landewiese in Sonntag. Ein Notfallszenario. Lieber würde ich mich über die Felsrippe ins Laguztal retten. Dort hätte ich zumindest die Chance auf Thermik, falls sich das Himmelsfenster über mir mit einer Wolke verschließen sollte. Doch der Südwind bläst mir so heftig entgegen, dass ich fürchte vor dem Grat abdrehen zu müssen.
Es wird knapp, aber meine Höhe reicht aus. Umso größer ist die Enttäuschung, dass das Vario stumm bleibt. Angesichts der von der Sonne aufgeheizten Südwände des Breithorn Grates müsste es jubeln! Stattdessen ringt es sich ein jämmerliches Fiepen ab. Solch unentschlossene Töne gibt meine Katze von sich, wenn sie nicht weiß, ob sie fressen, spielen, oder das Katzenstreu umackern soll.
Ich hingegen weiß, was ich nicht will: Dort unten im Laguztal landen. Der Fußmarsch nach Marul wäre eine mühselige und anstrengende Tour.
Kommt ein Vogel geflogen
Ein Raubvogel stößt sich von einem Felsvorsprung ab, schlägt nach ein paar Metern über der Südwand einen Haken und fliegt zielgerichtet nach Nordosten mitten über das Klesenzatal. Spinnt der?
Nein, er muss die Thermik mit einem sechsten, siebten oder meinetwegen zwanzigsten Sinn erfühlt haben! Mit weit abgespreizten Federn an den Flügelenden schraubt er sich in die Höhe.
Sofort ändere ich meinen Kurs und folge ihm. Mein Vario quittiert diesen Entschluss mit leisem Piepsen, das sich allmählich steigert. Die Thermik überm Klesenzatal ist zwar zerrissen und stark nach Osten versetzt, aber sie bewahrt mich vor dem Absaufen.
Während ich Meter um Meter gewinne, kann ich zusehen, wie der Wolkenturm überm Zitterklapfen lichter wird und in kleine Haufen zerfällt. Auch die übrige Wolkenstraße des Walserkammes ist wie von Schlaglöchern zerfressen, die Thermik hat vorübergehend nachgelassen.
Dafür geht es jetzt über dem Klesenzatal so richtig zur Sache. Über der Roten Wand wird es dunkel, mein Bart neigt sich immer weiter zu ihr hin. Mir gefällt das nicht. Da sind Kräfte am Werk, denen ein Yeti nichts entgegensetzen könnte.
Der Raubvogel, mittlerweile hunderte Meter höher als ich, legt die Flügel an, sticht wie ein Torpedo aus dem Himmel herab, an mir vorbei, und verschwindet drunten im Tannengrün.
Ich möchte heim.
Theorie…
Der kürzeste Weg nach Bludenz führt übers Klostertal. Die Gamsfreiheit scheint zum Greifen nah. Allerdings wird sie von einer dunklen Made ineinander gewachsener Wolken bewacht. Diese gefräßige Raupe erstreckt sich längs über die gesamte Klostertalflanke. Ich wäre gezwungen, unter ihr hindurchzufliegen, um auf die Südseite zu gelangen.
Aus meinen bisherigen Erfahrungen des heutigen Fluges schließe ich, dass mich die Wolke ansaugen und schlucken wird, sobald ich ihr zu nahe komme. Ich starte deshalb von Stein aus nicht mit Maximal-Höhe, sondern bloß mit 2900 Metern.
… und Praxis
Zu Beginn der Querung des Laguztales sieht es so aus, als wäre meine Einschätzung richtig gewesen. Dann stehe ich wieder im Gegenwind. Der Süd ist diesmal jedoch wesentlich heftiger. Ich peile den tiefsten Punkt einer Einsattelung zwischen Gamsfreiheit und Weißem Rössle an. Das Vario zeigt nur mehr 10 km/h. Unter mir eine geschlossene Schneedecke. Noch wäre eine Umkehr möglich, ich könnte die Wiese im Laguz-Tal erreichen und von dort nach Marul marschieren. Fliege ich jedoch weiter, kann es passieren, dass ich vor dem Joch in heftige Leeturbulenzen gerate oder ganz einfach zu tief bin und dort landen muss. Der Schnee ist wahrscheinlich aufgeweicht und ich käme zu Fuß nirgendwo hin.
Adrenalin brennt heiß in meinen Adern. Ich muss mich entscheiden! Umkehr oder Risiko?
Ich steige ins Speedsystem und versuche eine windschlüpfrige Position einzunehmen. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Meine geradeaus gestreckten Beine zittern und die Bauchmuskeln krampfen ob er Anstrengung. Mein Peilpunkt über dem Joch versinkt, taucht auf, versinkt. Die fatale Gewissheit, einen neuerlichen, diesmal jedoch gravierenden Fehler gemacht zu haben, steigt in mir auf. Dennoch verharre ich in meiner Position. Es muss sich ausgehen!
Muss!
Bitte!
Nur mehr 50 Meter trennen mich vom Grat.
In der Vertikalen, leider. Die Horizontalentfernung ist größer.
Plötzlich hört der Sinkalarm auf und macht einer unglaublichen Stille Platz. Selbst die Windgeräusche sind verstummt. Steht mein Yeti? Das Vario zeigt 2 km/h. Vorwärts oder rückwärts? Ich kann es nicht sagen. Etwas hält mich an Ort und Stelle gefangen.
Es ist ein Wall aus aufsteigender Luft, die vom Südwind ein Stück über den Grat geblasen wird und mich am Weiterkommen hindert.
Ganz sacht beginnt der Yeti zu steigen. Ich habe Angst vor Leeturbulenzen, schließlich bin ich noch hinter dem Grat. Dennoch muss ich die Bremsen lockern, sodass der Schirm sich in die Thermik hineinarbeiten kann.
„Sei ein braver Yeti“, flüstere ich, unter höchster Anspannung. Die Steigwerte erhöhen sich, aber ich fliege rückwärts. Ein ungutes Gefühl. Doch jeder Meter, der mich über den Grat erhebt, vergrößert meine Chance, ihn auch einmal überfliegen zu können. Noch befinde ich mich am hinteren Rand des Aufwindbandes und wage nur seitliches Hin- und Herdriften. Es dauert bange Minuten, bis ich erstmals auf den Grund des Klostertales hinabblicke. Erst sehe ich nur die Alfenz, dann kommt der waldige Ufergürtel ins Bild, gefolgt von der Schnellstraße, daneben die breiten Wiesen, ein paar Häuser.
Immer näher rückt die scharfe Kante des Grates. Ich weiß um den gähnenden Abgrund dahinter, dennoch stockt mir der Atem als ich darüber hinweg gleite. Zu krass ist der Gegensatz zwischen dem lieblich gewellten Gelände der Nordhänge, das unter weichen Schneekissen verborgen schlummert und den steinernen Speerspitzen der südlichen Schrofen, die nur darauf warten, mich aufzuspießen, sollte ich zu ihnen hinabsinken.
Doch es ist nur mein Blick, der haltlos die Felsen hinunterstürzt. Ich selbst werde von der großflächigen Thermik, in deren Zentrum ich mich nun befinde, sanft nach oben getragen. Die bizarre Landschaft unter mir ist ebenso wenig Gefahr, wie ein Riff voller Teufelskorallen, über dem man schnorchelnd im Meer liegt.
Freude, schöner Götterfunke
Entspannt kreise ich höher, reite im Aufwind über den Gipfel des Weißen Rössle hinweg, erkenne mit Staunen, dass die Rote Wand sich neben mir klein macht. Wo ist denn der Roggelskopf? Sein felsiges Haupt ist von meiner hohen Warte aus nicht zu erkennen. Die Landschaft verflacht zusehends.
Ich gebe mich der Euphorie hin. Endlich kann ich juchzen und jubeln, ohne dass sich eine Gämse aus Schreck zu Tode stürzt. Anschließend fummle ich den Fotoapparat heraus und knipse wahllos in die Gegend.
Was nun?
Wie wäre es, wenn ich jetzt nach Lech fliegen würde? Zu meinem ursprünglichen Ziel?
Der direkte Weg über das Zugertal sieht jedoch wenig einladend aus. Große Wolken, von denen ich nur die dunkle Unterseite sehe und deren Ausmaß ich nicht abschätzen kann, blockieren die Strecke. Allerdings ist es auch Richtung Arlberg zu ziemlich düster.
Besorgt mustere ich den Himmel. Von Südosten her drängen beeindruckende Cumuli heran, kompakte Blumenkohlköpfe, jedoch keiner ausgewachsen. Südlich des Rätikons über den Schweizer Bergen hängt über den Kohlröschen der milchige Rest eines Amboss. Der Himmel hisst zwar die weiße Fahne, Gefahr vorüber, aber es bleibt trotzdem ein Alarmsignal: Überentwicklungen sind jederzeit möglich.
Um die Wettersituation wirklich zu beurteilen, müsste ich Abstand zu den Wolken gewinnen, seitlichen Abstand. Solange ich unter ihnen fliege, bleibt mir ihre Höhe verborgen. Die Mächtigkeit kann ich nur aus den Steigwerten ablesen. Und die sind erfreulich. Noch.
Ohne mich lange mit Kreisen aufzuhalten, gleite ich im Geradeausflug unter der Wolkenstraße dahin.
Wunder, Wunderwelt
Links unter mir zeichnet sich eine bläulich schimmernde Delle im Schnee ab. Eingerahmt von klobigen Wülsten aus dickem Deckweiß, die das Ufer des Formarinsees abdichten, damit ja kein Blau ausrinnen und das Winteraquarell verpfuschen kann.
Meine Augen suchen nach Anhaltspunkten, wo das Steinerne Meer beginnt, wo es gegen den Gehrengrat brandet, aber konturloser Schnee macht keinen Unterschied zwischen weichen Almböden und Karstfelsen.
Ich überfliege das Glong und die Plattnitzer Jochspitze, denke an meinen Hummelflug vor zwei Jahren, der hier kurz darauf endete, und freue mich ob der Höhe von über 3.000 Metern, die ich jetzt problemlos beibehalten kann.
Wieder ein Hämatom in der Schneehaut. Diesmal ist es der Spulersee. Sein Wasser muss in Intervallen abgelassen worden sein, die Uferlinie gleicht einer Schneetreppe, die weit hinabsteigt, bis sie die erste blaue Linie erreicht. Der Seerand ist von wirren Strichen mehrfach nachgezeichnet, als hätte ein Riese gedankenlos verschiedene Kugelschreiber ausprobiert und Kringel über Kringel hingekritzelt, mitten hinein ins weiße Landschaftspapier.
Hinter der Staumauer, wo das Gelände sich zur Rohn- und Blisadonaspitze aufsteilt, beginnt für mich Neuland. Nicht einmal zu Fuß war ich in dieser Gegend bislang unterwegs. Umso aufmerksamer studiere ich die Details, präge mir Wanderrouten und Jochübergänge ein, vor allem das langgezogene Gipstäli fasziniert mich. An den steilen Flanken ist der Schnee bereits abgerutscht und zeigt die bunte Farbpalette verwitterten Gesteins. In Gedanken wandere ich da unten umher, es ist Sommer und entsprechend warm.
„Über mir der Himmel so blau blau blau…..“, trällert ein neuer Ohrwurm dazu.
Blauäugig
Das durchdringende Piepsen des Varios holt mich wie ein Wecker aus meinem Tagtraum zurück. Steif vor Kälte sitze ich im Gurtzeug, möchte Bewegung machen, ein bisschen zappeln, den Kreislauf anheizen. Aber meine zum Bersten angefüllte Blase rät mir dringend davon ab, als könnte sie überschwappen. Eine plakative Drohung zwar, dennoch muss ich mich fügen. Mit nasser Hose würde ich schließlich noch mehr frieren.
Es ist düster geworden. Die Wolken haben sich zu einem Verband zusammengeschlossen, gemeinsam blocken sie die Sonne ab. Im Tirol sieht es bereits nach Regen aus. Unbeirrt ob des völlig unpassenden Textes hält die Musik in meinem Kopf an. „Ich fahre mit dem Auto“, tönt es da, „alles geht so schnell.“
Das permanente Steigen irritiert mich. Ohne Sonneneinstrahlung stellt Thermik üblicherweise ab, außer - die für Nachmittag angekündigten Gewitter beginnen sich zu formieren.
„Mist“, denke ich, „jetzt wo ich einfach nach Lech hätte hinübergleiten können!“ Über der Valluga ist es derart dunkel, dass ich den Gedanken an den Arlberg rasch fallen lasse. Soll ich wenigstens zum Flexenpass fliegen?
Meine Vernunft sagt nein, mein Ehrgeiz ja.
Die Entscheidung fällt, als ich mich vorstelle, wie es klingt, wenn ich später meinen Wendepunkt wie eine Trophäe präsentieren werde. Wasenspitze versus Flexenpass. Keine Frage, oder?
Der Sänger von Minisex formuliert in meinem Kopf eine Text-Variante: „Links der Berg, rechts die Schlucht, und über mir der Himmel so grau grau grau…“
Entschlossen hole ich die Ohren des Yeti ein, steige ins Speedsystem und gleite über den Erzberg. Ohne Höhenverlust. Vielleicht sollte mir das doch zu denken geben.
„Ich fliege mit dem Yeti, alles geht so schnell“.
Macht Ehrgeiz blind?
Grau wie Grauen
Plötzlich packt mich die Angst. Ich drehe ab, ein paar Hundert Meter vor dem Pass. Wie zum Hohn endet damit auch der Spuk mit dem Steigen. Im Sinkflug kehre ich zur Wasenspitze zurück, komme allerdings unterhalb des Grates an und bin daher bei der Blisadona gezwungen, Thermik zu finden, um genügend Höhe für den Weiterflug zu gewinnen. Zum ersten Mal seit langem fliege ich wieder Kreise. Mit jeder Umdrehung wächst die Gewissheit, richtig gehandelt zu haben. Die bislang von einer Inversion relativ flach gehaltenen Wolken haben ihre Sperrschicht durchstoßen und quellen bedrohlich auf. Eine Formation gleich einer Burgmauer mit Wehrtürmen erstreckt sich vom Hohen Riffler bis zum Patteriol und schiebt sich von hinten gegen den Kaltenberg vor. Das vordere Klostertal wirkt hingegen noch freundlich, Stallehr und Braz sonnen sich sogar.
Es grünt so grün
Ich kehre dem Arlberg den Rücken und peile diese hellgrünen Flecken an. Sie kommen nur langsam näher. Was wie ein Katzensprung aussieht, sind eben doch über 20 Kilometer. Immer wieder werfe ich einen Blick zurück. Bin ich schneller als die Monsterwolken, die mir so ungut im Nacken sitzen? Das Gefühl, verfolgt zu werden, stört meine Konzentration. Nervös schaue ich mehr nach hinten, als nach vorne und vergesse dabei aufs Vario zu achten. Den Formarinsee bekomme ich nicht mehr zu Gesicht, aus mangelnder Höhe muss ich unterhalb der Saladinaspitze das Hölltobel queren. Ein schaurig schöner Anblick, der mich seltsamerweise beruhigt. Vielleicht liegt es daran, dass die Farben unter mir freundlicher werden, das Schwarz, Weiß und Grau habe ich zurückgelassen und sinke nun ins Grün und Gelb hinab. Es gilt nur mehr das Waldstück zwischen Dalaas und Innerbraz zu überwinden, danach breiten sich riesige Landewiesen aus. Da ich mich noch immer auf 2.500 Metern Höhe befinde, ist das ein Kinderspiel. Da wäre sogar Bludenz locker drin, denke ich übermütig.
Ernüchterung
Mein Enthusiasmus wird gebremst, als ich auf den Roggelskopf zufliege. Gegenwind dämpft meine Geschwindigkeit auf 10 km/h. Auf 5 km/h. Ungläubig wechselt mein Blick von der Anzeige am Vario zu dem dichten Wald unter mir.
Es muss sich um eine Art Düseneffekt handeln, rede ich mir ein, der vorbei sein wird, sobald ich auf der Luv-Seite des Berghanges bin.
Wie in Zeitlupe schleiche ich mich unterhalb des Gipfels vorbei. Da sehe ich über der Masonalpe einen Gleitschirm. Mit rasantem Steigen schraubt er sich empor und entschwindet danach in Richtung Arlberg. Jedem das seine. Ausnahmsweise empfinde ich einmal keinen Neid. Selbst als ich über dem Wasserfall des Masonbaches ebenfalls in Thermik gerate, drehe ich bloß ein paar Schaukreise, um das sich brechende Sonnenlicht in der Gischt besser beobachten zu können. Glitzernde Regenbogen zerstauben ins Nichts. Am Fuß der Felswand schlängelt sich ein dünnes Rinnsal davon.
Ich beschließe in Bludenz zu landen.
Der Yeti bockt und will nicht vom Wasserfall weichen.
Nun gut, dann eben am Golfplatz.
Widerwillig setzt sich mein Schirm in Bewegung. Doch der direkte Weg scheint ihm von unsichtbaren Hindernissen versperrt. Ich weiche zur felsigen Talflanke hin aus. Dort stehe ich über den Bäumen herum, ohne wirklich vorwärts zu kommen.
Was soll das?
Ich bin doch noch auf 1.700 Meter Höhe!
Mühsam arbeite ich mich Richtung Golfplatz vor. Gerne würde ich meinen Yeti seine Trimmgeschwindigkeit fliegen lassen, aber die Luft ist derart turbulent, dass ich nicht wage, die Bremsen zu lockern.
Mit Herzklopfen lese ich die Zahlen am Vario ab. Meine Fortbewegung über Grund schwindet dahin, 10 km/h, 9, 8, 7. Der Countdown hält unbarmherzig an. Doch anstatt bei Null stehen zu bleiben, werden die Werte wieder größer: Ich fliege rückwärts. Verdammt!
Nicht einmal bis über den Golfplatz habe ich es geschafft.
Wie ein Blatt im Wind
Direkt unter mir erstreckt sich eine langgezogene Wiese mit einzelnen Heustadeln. Links begrenzt von der Eisenbahn, rechts von einem Güterweg. Das Problem liegt allerdings hinter mir, wo die Wiese an einer Baumreihe endet. Ich bin immer noch 600 Meter über Grund. Schaffe ich es, so rasch nach unten zu kommen, um vor den Bäumen den Boden zu erreichen?
Aufrecht stehe ich im Speedsystem, die Ohren des Schirmes eingeklappt, Windböen beuteln mich hin und her, blasen mich über die Eisenbahn, „Herrgott, nein!“, ich pendle zurück zur Wiese, auf eine dieser Holzhütten zu, „Herrgottnochmal, nein!“, dann geht es wieder mit bis zu sieben Meter Sinken gerade hinab.
Ich sehe wie der Wind mit flacher Hand auf das lange Gras drischt, wie er in die Büsche fährt, die mir mit wehenden Ästen nachwinken, während ich mit ziemlichem Tempo an ihnen vorbei nach hinten entschwinde. Die Baumreihe steht. Angewurzelt. Natürlich.
Zugegeben, das Wortspiel kommt mir erst in den Sinn, nachdem ich fünfzig Meter vor dieser grünen Wand den Boden berührt und meinen Yeti, der mich partout noch bis dorthin schleifen wollte, überwältigt habe.
Was für ein Flug!
Jetzt sitze ich im Lee eines Heustadels, den ich zur Blasenerleichterung als Deckung benützt habe und schwelge in Glücksgefühlen. Die Stimmen von Minisex dringen wieder wahrnehmbar in mein Bewusstsein: „Filme jagen durch den Kopf, alles um mich zerbricht in blau, blau, blau!“
Zahlen und Fakten:
Flug am 25.4.2014 mit einem Yeti II (2008)
Dauer: 3 h 20 min
Geflogene Strecke (berechnet nach OLC mit 3 Wendepunkten): 67 km
Start in Schnifis, Hensler um 11:55 Uhr, Landung in Braz, Radin 15:15 Uhr)
Größte Höhe: 3450 m
Verwendete Musiktexte:
* Cornelia Horak begleitet vom Haydn Quartett, CD Gramola „Auf dem Wasser zu singen“
Daraus Schuberts Vertonung von: „Gretchen am Spinnrad“ und „Erlkönig“ (beide J.W. von Goethe)
* Minisex, Single 1982: Ich fahre mit dem Auto
Zur Erläuterung der Wortfilmvertonung:
Ich besitze ein phänomenales Musikgedächtnis. Leider. Mein Hirn zeichnet nämlich jedes mehrfach gehörte Lied auf, ohne dass ich einen Einfluss auf die Auswahl habe. Es gibt nicht einmal einen Filter zur Abwehr von schädlichem Material. Alles wird gespeichert, ohne Ausnahme, sogar Hansi Hinterseer, wenn ich damit beschallt werde, was zum Glück selten vorkommt. Fällt dann irgendwann das passende Stichwort, so startet meine Erinnerung das damit verknüpfte Stück, als hätte man in einer Musikbox die richtige Tastenkombination gedrückt und zu viel Geld eingeworfen. Das Lied wiederholt sich in einer Endlosschleife, gleich einem Tinnitus, vor dem es kein Entrinnen gibt.
Was habe ich unter Griechenlandkrise gelitten! Jede Erwähnung von „Athen“ schickte mir weiße Rosen von dort und Nana Mouskouri wollte nicht mehr verstummen. Manchmal genügen ein paar Takte aus der Hintergrundmusik einer Werbung, oder jemand pfeift gedankenlos ein Kinderlied vor sich hin. Schon kreist Karel Gotts Biene Maya den ganzen Tag durch meinen Kopf.
Abschalten geht nicht.
Ich habe alles probiert.
Es hilft nur Überlagerung mit einem anderen Lied. Meine Liebe zur klassischen Musik hat hier ihre Wurzeln. Ich versuche die akustische Vergewaltigung seitens meiner Schlager hörenden Eltern nachhaltig zu überschreiben. Mozart, Verdi, Händel und Beethoven sind Balsam für die von Heino gepeinigte Kinderseele. Denn Schlüsselwörter wie „Papageno“ oder „Posthorn“ begegnen mir im Alltag eher selten und Opernarien sind überwiegend in italienischer Sprache gehalten. Somit herrscht über weite Strecken Ruhe im Kopf. Sollte dennoch einmal ein Halleluja meinen Weg kreuzen, so kann ich zwischen der Variante eines psalmodierenden Münchners im Himmel („`lluja, sog i, zäfix Halleluja!“)‚ oder dem Händel-Oratorium wählen.
Beides ok.
Nur bitte nicht gleichzeitig!
Summ, summ, summ, Hummel summ herum…