Pfingstwunder
An Pfingsten 2014 traf alles zusammen:
Feiertage, Flugwetter und Wochenendbetrieb der Golmerbahn.
Zugegeben, Pfingsten und Feiertage und Wochenende bilden auch in anderen Jahren eine Einheit, das wirklich Außergewöhnliche war eigentlich der Zusammenfall von Freizeit UND Flugwetter. UND was für ein Flugwetter!
Mit Basishöhen weit über 4.000 Meter, großteils Blauthermik oder Bilderbuchcumuli, gepaart mit wenig Wind. Samstag, Sonntag, Montag. Jeder Tag übertraf den vorherigen. Im xc-contest summierten sich tausende Flugkilometer, persönliche Rekorde wurden aufgestellt und 24 Stunden später wieder überboten.
Und dabei sah es am Pfingstfreitag noch gar nicht danach aus. Die Kommentare am Startplatz Golm klangen eher zurückhaltend. Zu makellos schien das Blau des Himmels. „Erst einmal Höhe machen“, lautete die kryptische Antwort auf die Frage nach dem Wohin.
Himmelsbotschafter
Armin stieg nach seiner Gipfelmeditation vom Golmerjoch ab und rümpfte die Nase.
„Nordwind“, sagte er.
Über ihm bildeten sich kleine Wolken, deren Köpfchen sich nach Süden neigten. Sein Wort hatte Gestalt angenommen. Kein Wunder, dass sich etliche Piloten wie Jünger um Armin scharten und wissen wollten, wie er den heutigen Tag einschätze.
Ich lauschte aus der dritten Reihe. Schließlich zählte ich mit meinem Yeti (ja ich warte immer noch auf den seit Wochen bestellten Schirm) nicht zum inneren Kreis der Streckenjäger. Aber als ich hörte, dass jedes erfliegenswerte Ziel mit dem Übertritt der Schweizer Grenze verbunden war, sinngemäß: „Du drehst bei der Schesaplana auf, dann…“, wandte ich mich ab. Zwar hatte ich nach meinen letztjährigen Erfahrungen den Reisepass eingesteckt, aber die Lust, meine x-Hummelflüge zu wiederholen, hielt sich in Grenzen. In österreichischen Grenzen.
In der Hummel steckt ein Stachel
Zudem bin ich seit kurzem etwas verunsichert. Am Startplatz in Schnifis, als vor Beginn der Clubmeisterschaft die Top-Piloten versammelt auf das Briefing warteten, kam ich zufällig vorbei und hörte das Wort „Hummelflug“. Wie ferngesteuert ging ich zu der Gruppe hin um die erwarteten Lorbeeren abzuholen. Schließlich konnte nur mein heuriger 67km-Flug gemeint sein.
„Du mit deinen Hummelflügen“, begrüßte mich Scheffi in seiner brummigen Art.
Es klang eigentlich nicht nach Lob. Ich tat dennoch erfreut.
„Willst dich wohl umbringen?“
Mein Lachen gefror.
„Du bist ja der reinste Selbstmordkandidat“, setzte Scheffi noch eins drauf.
Die erhofften Lorbeeren entpuppten sich endgültig als Kübel kalten Wassers.
Ernüchtert forderte ich eine Begründung.
Scheffi, von meinem Tonfall alarmiert, begann seine Erklärung mit einer Entschuldigung. Dabei vergrub er seine Finger im Bart, als müsse er die nächsten Worte erst vorsichtig aus dem Gestrüpp bergen. „’Tschuldigung, aber ich dachte damals, als ich vom Falknis zurückflog, wortwörtlich, welcher
V O L L T R O T T E L versucht auf der Öfenspitze zu starten?“
Da dämmerte mir: Scheffi bezog sich auf die x-Hummelflüge mit den Absaufern und Neustarts des letzten Jahres. Er hielt mir eine Predigt, die sicherlich gut gemeint war, über Risiken und Gefahren, denen ich mich (in meiner Naivität) ständig auszusetzen schien.
Machte mich mein gutmütiger 1er-Schirm in den Augen von Wettkampfpiloten automatisch zu einer Anfängerin, die nicht weiß, was sie tut, fragte ich mich gekränkt. Schließlich fliege ich seit 24 Jahren. Verletzungsfrei. Hatte ich diese Unversehrtheit tatsächlich bloß einem „Schutzengel“ zu verdanken?
In meinem Ärger tat ich Scheffis Kommentar als altväterliche Sorge ab und sagte zu meiner und seiner Verteidigung, aus 3000m Höhe sehe die Öfenspitze eben viel gefährlicher aus, als sie in Wirklichkeit sei.
Ein Stachel blieb dennoch zurück. Wer erkennt schon seine eigene Selbstüberschätzung? Was, wenn Scheffi Recht hat?
Rosa Elefanten am Golm
Diesen Gedanken nachhängend fummele ich unentschlossen am Gurtzeug herum. Was tue ich hier am Golm, wenn ich nicht in die Schweiz fliegen will?
Armin, der gute Hirte, bemerkt die geistige Abwesenheit seines Schäfchens.
„Du darfst nicht ans Absaufen denken“, mahnt er mich. „Zum Streckenfliegen muss man im Kopf frei sein!“
„Ich denke aber an nichts anderes“, jammere ich. Schon beim Wort Kirchlispitzen zucke ich zusammen und spüre den schweren Rucksack während des stundenlangen Rückmarsches von der Schweizer Seite auf meinen Schultern lasten.
Armins einfacher Rat: „Vergiss es! Steck es weg!“
Er könnte auch sagen, denke ab sofort nicht an einen rosaroten Elefanten.
Ferne Ziele
Ich wechsle das Thema und will wissen, ob es keine andere alternative Route gibt, als die über die Schesaplana. Eine Inlandsvariante, sozusagen. Mir würde heute, zum Auftakt der Golmsaison, ein Flug über die Zimba genügen.
Armin schüttelt den Kopf. „Nicht bei Nordwind. Direkt kommst du da nicht hin.“
Noch etwas macht mir zu schaffen: Der berüchtigte Talwind des Montafons.
Wenn ich nicht „kopffrei“ auf Strecke gehe, sondern bloß hier in der Gegend herumgurke, wie entkomme ich dann der Landung im Sturm, der bekanntlich ab mittags in Schruns bläst?
„Im Walgau kannst du immer gefahrlos landen“, sagt Armin.
„Im Walgau??“
„Ja, wenn du beispielsweise zu den Drei Schwestern fliegst!“
Drei Schwestern, netter Witz. Ich grinse gequält und deute auf meinen Yeti. Trotzdem freut es mich, dass Armin mir den weiten Weg zutraut. Er baut damit wieder auf, was Scheffi mit dem Wort „Selbstmordkandidat“ beinah zerstört hat. Der ist übrigens auch da. Ich weiche ihm aus, obwohl er heute nur Blumen zu verteilen hat. Aber ich will nicht, dass er meine Nervosität bemerkt. Nichts macht angreifbarer als Unsicherheit.
Start ins Blaue
Ich lege meinen Schirm mit der gespielten Coolness eines Routiniers aus, froh darüber, dass meine Gedanken endlich eine Konzentrationsaufgabe bekommen haben. Jetzt geht es nicht um Schesaplana oder Absaufen, sondern schlichtweg darum, ohne Zwischenfall in die Luft zu kommen. Steffen ist so lieb und lässt mir den Vortritt. Nicht, dass ich es eilig hätte, aber seine Anwesenheit hinter mir am Boden wirkt beruhigend auf mich.
Wenige Minuten später kreise ich bereits über dem Startplatz. Sanft trägt mich der Aufwind empor und ich frage mich bei jeder Umdrehung in dieser herrlichen Bergwelt, wovor ich mich nur so gefürchtet hatte.
Nach einer viertel Stunde weiß ich es wieder: Die Entscheidung steht an.
Mein Vario zeigt 3.100 Meter. Ich habe die Basis erreicht. Und es macht nur eine Route Sinn: Dem Kamm entlang in Richtung Schweiz.
Ich schinde Zeit, die Sonne scheint noch zu schräg in die Südwände der Kirchlispitzen. Deshalb parke ich mich an der nächsten Hügelkuppe ein und lasse den nachrückenden Piloten den Vortritt.
Armins Schirm ist ein kleiner roter Bogen über dem Gipfel der Schesaplana.
Bunte Stoffsicheln kreisen nun auch über dem Zaluandakopf vor dem Lünersee, circa in der Hälfte der Fluglinie zwischen Schesaplana und mir. Dieser Berg direkt neben der Lünerkrinne markiert das Ende des Rellstales und es stünden dort immer noch alle Optionen offen, sofern man das Rellstal als Landeplatz akzeptiert und den damit verbundenen dreistündigen Fußmarsch nach Vandans in Kauf nimmt.
Aber angesichts der niedlichen Cumuli, die mittlerweile jede Landschaftserhebung mit einem Sahnegupf zieren, sind Gedanken ans Landen wirklich sinnloser Ballast im Kopf.
Perspektivwechsel
Während ich auf den Zaluandakopf zu gleite, dehnt sich die blaugrüne Wasserfläche des Lünersees unter meinem größer werdenden Blickwinkel aus. Dunkle Wolkenschatten schwimmen neben weißen Spiegelungen. Dazwischen fächern Windböen einen Glitzerbogen auf. Jetzt verschwende ich tatsächlich keinen Gedanken mehr ans Steigen oder Sinken, ich will nur noch eines: Die gesamte Uferlinie sehen! Am liebsten würde ich über der Mitte des Sees schweben, aber die Vernunft zieht die rechte Steuerleine, sobald das Vario sich mit einem Piepsen bemerkbar macht. Ich habe die Thermik über dem Zaluandakopf erreicht.
Sie ist genau nach meinem Geschmack. Mit maximal 1 Meter pro Sekunde geht es aufwärts. Zeit bis zum Erreichen der Basis bedeutet Zeit bis zur nächsten Entscheidung und somit Zeit zum Genießen.
Mein Blick steigt vom Lünersee über die ins Wasser hinabstoßenden Schneezungen bis hinauf zum Gipfel der Schesaplana, ruht kurz im Sattel des Brandner Gletschers und taucht dann ins gleichnamige Tal hinab. Dahinter reihen sich Bergketten wie Hürden eines Hindernislaufes, bis zur Herausforderung vor dem Rheintal: den Drei Schwestern an der Grenze zu Liechtenstein.
„Tja, lieber Armin“, sage ich im Selbstgespräch, „dafür reicht mein Ehrgeiz nicht.“
Unschlüssig
Meine Augen kehren aus der Ferne zurück zum Saulakopf und Schafgafall, direkt vor meinen Füßen. Thomas hat sich dorthin abgesetzt, gleitet jedoch über beide hinweg auf die Brandner Mittagspitze zu. Durch die ständige Drehbewegung verliere ich ihn aus den Augen, stattdessen füllt die Zimba das Blickfeld. Mit dem Drachen war ich schon über ihrem Felsgipfel, mit einem Gleitschirm bislang bloß in ihrer Nähe. Die heutigen Verhältnisse würden den Triumph des Überflugs zwar schmälern (die Thermik ist idiotensicher), dennoch lockt mich der Gedanke daran.
Nun sehe ich den Startplatz, über ihm kurbeln ein paar Nachzügler, zwei Piloten sind unterwegs zu mir. Ich erkenne Steffens gelben Schirm und freue mich. Vielleicht kann ich meine Entscheidung über die Flugroute an die seine koppeln?
Auf den Golm folgt der Blick zu der Sulzfluh, den Drei Türmen und den Kirchlispitzen, die heute anscheinend jeder links liegen lässt. Dann die Weite der Schweiz, im Hintergrund Schneekuppen, die in großem Bogen Silvretta mit Säntis am Horizont verbinden. Welch Panorama! Unter mir der See, sich allmählich entfernend.
Und über mir ein zögerliches Verdichten der Kondensationsschleier, der Beginn einer neuen Wolke.
Slow motion
Das langsame Steigen bedeutet für mich puren Genuss. Für den Höhengewinn von 350 Metern benötige ich über ein Dutzend Kreise. Ich habe sie mit Hilfe des GPS Tracks nachgezählt: Sechzehn Mal drehe ich mich in dieser Bergwelt um die eigene Achse und lasse das Panorama an mir vorüberziehen.
Jedesmal sehe ich Thomas ein Stückchen näher bei der Zimba, aber auch die Piloten, die zur Schesaplana fliegen, behalte ich im Auge so lange es geht. Doch kaum sind sie in der Schweiz, verschwinden sie und tauchen nicht wieder auf.
Erst als ich an der Wolkenbasis angelangt bin, entdecke ich sie. Tief, verdammt tief kämpfen sie an einem nach Osten ausgerichteten Grashang in der Schweiz. Steffen ist noch unter mir. Mag er fliegen, wohin es ihn zieht, meine Entscheidung ist klar: Zimba!
Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, sagen sich alle Feig- und Bequemlinge.
„Tut mir Leid, Armin“, bekenne ich laut und zweige Richtung Saulakopf ab, „ich bin nicht aus demselben Holz wie du geschnitzt.“
Und tschüss…
Auf die Idee, dass es sich bei den Gleitschirmfliegern um Piloten von einem Schweizer Startplatz handeln könnte, komme ich nicht. Mir genügen ihr Anblick und die Tatsache, dass sich zu diesem Zeitpunkt über der Schesaplana weder eine Wolke noch ein Schirm befindet.
Am Saulakopf bin ich allein. Der Bart zieht mächtig an und ich koste ihn bis zum Schluss aus. Als sich die Wolke ringsum wie eine schützende Glocke wölbt, muss ich raus. Kurz stehlen mir die Nebelfetzen am Rand die Sicht, das Vario gellt noch einmal entsetzt auf, bevor ich den Vorhang durchbreche. 3.250 Meter!
So hoch über der Talstation der Lünerseebahn zu fliegen hat etwas Abgründiges. Es ist schön und schauerlich zugleich. Die winzigen Blechdosen drängen sich dicht aneinander, als wäre es ihre ureigenste Aufgabe, das eintönige Grau des Parkplatzes komplett zu verdecken. Sogar an der Fahrbahn machen sie sich zu schaffen und bilden eine Lichtreflexe spiegelnde Girlande, bis ihre Kette von den Kurven gesprengt wird.
Magische Begegnung
Zwischen mir und der Zimba bauscht sich eine Cumuluswolke wie aus einem Bilderbuch für Wetterkunde. Der Nordostwind treibt sie mir entgegen. Normalerweise kein Problem, nur bin ich jetzt zu hoch. Die dunkle Wolkenbasis befindet sich hundertfünfzig Meter unter meinem Niveau.
Die Vernunft kommandiert:„Ohren anlegen, Höhe vernichten!“
Ich tue nichts dergleichen.
Von der Schönheit des Anblicks hypnotisiert halte ich direkt auf die Wolke zu. Diese Perspektive kannte ich bislang nur aus dem Flugzeug, wenn es im Sinkflug in das flockige Meer aus Wattebällen eintaucht.
Die Distanz zur Wolke lässt sich schwer abschätzen. Möglicherweise komme ich ohne Abstiegshilfen an ihrer Unterseite an, zumal das Vario nun Sinken anzeigt. Hineinzufliegen würde ich nicht wagen.
Je näher ich komme, umso lebendiger wirkt die Wolke. Eine von Sonnenlicht durchtränkte Wand, in ständiger Bewegung und Umformung begriffen, füllt mein Gesichtsfeld jetzt zur Gänze aus. Wie ein Organismus einer fremden Welt. Unheimlich und faszinierend schön. Ich halte unwillkürlich die Luft an. Beim nächsten tiefen Atemzug rieche ich die Feuchte. Ich bin diesem Wolkenwesen ganz nahe. Das Vario gibt den Sinkalarm auf und schweigt diskret.
Ohne die sonst üblichen Turbulenzen schwebe ich dahin. Oder stehe ich und die Wolke schiebt sich über mich? Mir ist, als hätte jemand für einen Augenblick die Welt angehalten. Ich bin exakt an der Basis angekommen, rings um meinen Schirm fransen Nebelschleier, meine Sicht nach unten ist jedoch klar.
Ich erwarte heftige Bewegungen der Luft, wilde Steigwerte oder plötzliches Sinken. Nichts. Gar nichts passiert. Es ist eine schweigende Begegnung. Kein Rascheln des Schirmes, kein Piepsen des Varios, nicht einmal Windgeräusche stören den Zauber. Der Schatten gleitet wie ein mich abtastendes Ufo über mir hinweg.
Plötzlich bin ich in gleißendes Licht getaucht, vor mir nur mehr blauer Himmel und der Spuk ist vorüber. Turbulenzen schütteln mich, als wollte sie mich nach diesem traumhaften Erlebnis aufwecken.
„Sieh doch! Da vorne, zu deinen Füßen die Zimba!“, piepst das Vario aufgeregt.
Als ich nicht sofort reagiere, schaltet es beleidigt auf Sinkalarm um.
Egal, die Zimba überfliege ich trotzdem.
Und jetzt?
Mein „Tagesziel“ ist erreicht, soll ich jetzt schon landen? Besser wäre umkehren und wieder aufkurbeln. Ich drehe mich um, suche die Wolke. Sie ist verschwunden. Der ganze Bergstock liegt unter makellosem Blau. Kein gutes Zeichen.
Dennoch fliege ich weiter Richtung Norden. Ich möchte auf all die Gipfel hinunterschauen, die ich von meinem Balkon aus täglich sehe. Zwölferkopf, Schafgufel, Gottvater und Falkastiel. Dann könnte ich mich abends bei einer Tasse Tee über ihre markante Silhouette zurückträumen.
Wider die Vernunft
Ich ahne zwar, dass diese romantische Motivation eine Fehlentscheidung darstellt, aber gegen solche Gefühle ist die fliegerische Vernunft machtlos.
Den Schafgufel muss ich links liegen lassen, denn es ist fraglich, ob ich mit diesem anhaltenden Sinken überhaupt den Gottvater erreichen werde. Über seinem Gipfel ist mein Puffer schließlich auf 150 Höhenmeter geschrumpft und ich drehe sofort Richtung Osten ab, um über den Felsen der Vandanser Steinwand Höhe zu tanken.
Aber da ist keine Thermik. In meiner Überraschung frage ich mich, was die Felsen mit der Sonnenergie tun. Absorbieren? Verschlucken? Speichern für einen anderen Piloten? Ich schleiche frustriert über den Grat Richtung Zimba. Wie hoch ihr Gipfel plötzlich ist!
Kein Piepsen.
Jetzt muss ich mich rasch entscheiden. Zurück ins Montafon oder ins Brandnertal?
„Nordwind“, fällt mir ein und ich bleibe luvseitig. Rasch sinke ich am Fuß der Zimba vorbei, tauche hinab in den Einschnitt zwischen Zwölferkopf und Wildberg, in dessen Mitte die Sarotlahütte liegt. Vor mir die Wiesenpyramide der Wasenspitze. Nur der oberste Hang ist sonnenbeschienen, der Rest von Schatten eingehüllt. Wenig Fläche für die Ausbildung von Thermik. Kein Wunder, bei einem Berg, der eigentlich erst am späteren Nachmittag gute Bedingungen aufweist, weil seine Flanken nach Westen ausgerichtet sind. Jetzt ist es 11:30 Uhr.
Wo ist nur Thomas?
Ich bin allein. Und ich bin ein Trottel. Wer außer mir ist imstande, sich an so einem Tag zu versenken? Wo ich doch aus meinen Drachenfliegerzeiten genau weiß, dass dieses Gebiet hier am Vormittag nicht zu gebrauchen ist! Damals hieß es allerdings, die Wasenspitze kann einen im Notfall retten.
So geh doch!
Zu allem Übel schaltet sich nun auch meine innere Hintergrundmusik ein. Das leuchtende Wiesendreieck der Wasenspitze muss den schrecklichen Ohrwurm ausgelöst haben. Howard Carpendale klagt mit weinerlicher Stimme: „…das Gras scheint dir grüner, dort wo du nicht bist, so geh doch!“
Ich peile den Gipfel an. Mit meinem jetzigen Gleitwinkel würde ich exakt oben einschlagen. Ein kleiner Heber lupft mich in zehn Metern Höhe darüber. Am Brett, das sich jemand für die Rast zum Sitzen hingelegt hat, stehen von der Sonne abgewitterte Späne ab.
Erst über dem verschatteten Wald hinter dem Gipfel schlägt das Vario an. Ein zerrissener, schwacher Bart. In meiner Situation darf ich nicht wählerisch sein. Plötzlich erwacht mein Ehrgeiz. Trotzdem kann ich nicht mehr als hundertfünfzig Meter Höhe gewinnen. Immerhin könnte es ausreichen, um mich auf die andere Talseite zum Taleu versetzen zu lassen. Denn vom Nordwind ist nichts mehr zu spüren, im Gegenteil, Südostwinde machen mir zu schaffen.
Howie sülzt immer noch: „..letzten Endes wird alles, wie du es willst sein…“
Während der Querung des Brandnertales habe ich Zeit und wage in einem masochistischen Anfall (als wäre Carpendale nicht schon Folter genug) den Blick auf die Schesaplana. Wie befürchtet, quillt hoch über dem Gipfel eine Wolke, knapp darunter, mit freiem Auge kaum sichtbar, tanzen farbige Punkte. Neid ätzt und frisst sich wie Säure ins Gemüt. Die hängen auf dreieinhalbtausend Metern herum und ich? Ich peile auf 1800 Metern Tannenwipfel an, begleitet von einem verlassenen Schnulzensänger!
Wo an diesem verdammten Waldhügel löst die Thermik wohl ab? Ich bin bloß 50 Meter überm Gipfel angekommen. Am Osthang tut sich nichts, an der Nordseite fehlt der unterstützende Wind, nur von der Südseite schwappt ab und zu eine Warmluftblase herauf. Es gelingt mir, damit so viel Höhe zu gewinnen, dass ich mich zum Nachbarhügel namens Loisch, dem kahlen Zwilling des Taleu, blasen lasse. Der Südostwind ist wirklich lästig, er scheint direkt vom Lünersee durchs Brandnertal herab zu wehen. Überm Loisch endlich ein Bart, der vollständige Kreise erlaubt!
Schon spült es mich an die Osthänge zwischen Schiller- und Alpilakopf und da dort die gesamte Luftmasse zum Aufstieg gezwungen wird, bin ich gerettet. Ich drehe auf, wechsle zum nächsten Berg, drehe wieder auf und hantle mich auf diese Art weiter, bis ich am Fundelkopf an der Basis bin. Nur ein Katzensprung trennt mich von Panüler und Schesaplana. Jetzt hätte ich den Mut, um auf die Südseite und somit in die Schweiz zu wechseln. Ein bisschen spät, zugegeben, aber einen Versuch wage ich. Meine Geschwindigkeit über Grund ist lächerlich. Gerade einmal 20 km/h zeigt mein Vario an.
„Armin, was ist aus dem Nordwind geworden?“, möchte ich fragen.
Gegen den Süd komme ich nicht an. Was nun?
Segelflieger umrunden mich, Gleitschirme sehe ich keine mehr.
Carpendale schmalzt eine letzte Beschwörung: „..es wär’ schön wenn du bliebst, doch siehst du das nicht ein, - dann geh’ doch!“
Beim Kreisen rücken die Drei Schwestern ins Bild. Warum eigentlich nicht? Was am Golm noch utopisch für mich klang, ist nun in realistische Nähe gerückt.
Ich muss mich nicht einmal sehr anstrengen, die Topologie gibt die Flugroute klar vor: Querung des Nenzinger Himmels, aufdrehen am Scheuakopf (übrigens ein Grenzberg zu Liechtenstein), ein wenig Höhe tanken am Galinakopf, Überflug des Saminatales und schon sind die felsigen Grate des letzten Bergrückens vor dem Rheintal unter mir. Da ich nicht genau weiß, welches der Hauptgipfel der Drei Schwestern ist, hole ich großzügig aus. Mit einer Höhe von immer noch 2.300 Metern muss ich keine Vorsicht mehr walten lassen.
Am Ziel
Der Blick übers Rheintal ist großartig. Eine Patchworkdecke aus rechteckigen Flecken, die grün, gelb oder braun leuchten, spannt sich zwischen den Berg- und Hügelketten von Vorarlberg und Schweiz. Trotz der vielen Siedlungen und Straßen herrscht der Eindruck einer landwirtschaftlichen Nutzung vor. In der Mitte der Rhein, zielstrebig hält er auf den Bodensee zu, nur in der Hälfte des Weges verliert er sich eine Zeitlang in den wenigen Waldinseln.
Ich fliege nun nach Norden, auf Amerlügen zu, rumple durch alle Bärte durch, es ist mir egal. Mein Ehrgeiz ist erschöpft, ich will nur mehr irgendwo im Walgau landen und meine zum Bersten gefüllte Blase entleeren. Was ist günstiger, Frastanz oder Schlins? Am besten wäre eine gemähte Wiese direkt neben dem Bahnhof, ohne Leitungen, dafür mit einem Busch für den Sichtschutz.
Wusch!
Die rechte Steuerleine ist schlaff, über mir flattert Tuch.
Bevor ich die Pendelbewegung richtig abfangen kann, lässt der Steuerdruck links nach, als wäre die Leine aus Gummi. Ich halte dagegen, trotzdem schießt der Schirm vor. Yeti sei Dank, es wird kein Frontklapper daraus. Mein Herz klopft trotzdem heftig und pumpt das Adrenalin bis in die Zehenspitzen. Jetzt bin ich wieder konzentriert. In zweitausend Metern Höhe übers Biseln nachzugrübeln ist etwas verfrüht. Das könnte – im dümmsten Fall – wortwörtlich in die Hose gehen.
Für Frastanz bin ich zu hoch. Ich habe keine Lust auf viele Kurven. Mir schmerzen nach zweieinhalb Flugstunden die Arme und das Geradeausfliegen scheint am Angenehmsten. Gurtis liegt nun rechts neben mir auf gleicher Höhe. Schlins könnte knapp werden. Ich hoffe auf den Schub des Talwindes, aber wie ich an den Blättern der Bäume erkennen kann, ist er wesentlicher schwächer als sonst.
Die Landung ist denkbar einfach. Direkt neben dem Kreisverkehr vor der ÖBB Haltestelle Schlins setze ich sanft auf. Nur der Busch fehlt, den frau sich als Bisel-Deckung wünscht. Mein armer Yeti muss zum Halbrund aufgebauscht auch dafür herhalten.
Ein bisschen Frieden
Abends, am Balkon mit einer Tasse Tee, betrachte ich die Schattenrisse von Gottvater, Schafgufel und Zwölferkopf vor dem fahlen Himmel. In meinen Kopf entstehen jedoch keine Bilder, es tauchen nicht einmal Gefühlsregungen auf. Ich bin bloß müde und auf eine seltsame Art satt. Den Flug über 42 km muss ich wohl erst einmal verdauen.
„Morgen gehe ich wandern“, lautet daher mein unumstößlicher Beschluss bevor ich ins Bett falle. (Da kenne ich den Wetterbericht noch nicht.)
Die Wanderung des nächsten Tages beginnt früh morgens an der Golmerbahn Bergstation mit einem 12kg Rucksack am Buckel.
„Flieg doch in die Silvretta“, hatte Armin mir zuvor in der Gondel geraten.
Mir, einer Hummel!
Aber das ist eine andere Geschichte, nachzulesen im „Hummelflug, op. 4“.
Zahlen und Fakten
Flug am 7.6.2014 mit einem Yeti 24 II
Dauer: 2 h 40 min
Geflogene Strecke (berechnet nach OLC mit 3 Wendepunkten): 42 km
Start am Golm um 10:30 Uhr, Landung in Schlins)
Größte Höhe: 3250 m
Die Fotos wurden 2 Tage später von mir bei einem 3stündigen Yeti-Rundflug gemacht