Ist der Ruf erst ruiniert….
Gestern, nach meinem anstrengenden Flug, war ich felsenfest davon überzeugt, die nächsten Tage am Boden zu verbringen. Wandern wollte ich gehen und all die nimmersatten Gleitschirmpiloten neidlos von unten betrachten.
Beim Frühstück öffnete ich trotzdem den Internet-Flugwetterbericht. Wahrscheinlich in der heimlichen Hoffnung, meine Wanderlust würde bestätigt werden.
„Thermisch sehr aktive Luftmasse, wenig Wind, große Operationshöhen, keine Gewittergefahr“ – stand da im krassen Widerspruch zu meinem Vorhaben zu lesen. Gleich darauf schickte Steffen ein SMS, dass neuerlich gute Chancen bestünden, die 4.000er-Höhenmarke zu knacken.
Mir schmerzte der Arm allein schon beim Heben der Teetasse. Konnte ich mit diesem Muskelkater nochmals Steuerleinen bedienen?
Außerdem – ich blickte verstohlen zu Markus – wie den plötzlichen Meinungsumschwung erklären? Hatte ich nicht großmäulig hinausposaunt, dass es mir ein Leichtes wäre, einen flugfreien Tag einzuschieben? Muskelkater hin oder her – damit käme ich zurecht. Der Imageverlust, die Tatsache, dass meine felsenfesten Vorsätze wie Sandstein dahinbröckeln, wenn das richtige Lüftlein weht, tut mehr weh. Vor allem das Eingeständnis.
Ich seufze.
Ich räuspere mich.
Ich starte einen Probelauf: „Hmmmm. Der Wetterbericht klingt gut.“
Markus liest weiter in der Zeitung.
„Zu gut.“
Markus’ Blick läuft ungestört den gedruckten Zeilen entlang.
„So ein Wetter müsste man fast ausnützen.“
(Es sollte wie eine vorsichtige Frage klingen. Danach lege ich eine wirkungsvolle Pause ein).
Nichts passiert.
Hört er mir eigentlich zu?
„Ich geh’ nochmals auf den Golm!“
Markus zeigt keine Reaktion.
„Wunderst du dich gar nicht?“
Erst jetzt krümmen sich seine Augenbrauen ein wenig nach oben, um sich jedoch gleich wieder auf Normalniveau abzusenken.
„Ich wusste schon gestern Abend“, sagt Markus lapidar, „dass du nicht wandern gehen wirst.“
Mist! 23 gemeinsame Jahre gehen eben nicht spurlos vorüber.
… fliegt sich’s ungeniert
Zufällig begegne ich Armin an der Talstation der Golmerbahn und wir fahren gemeinsam empor. Stolz berichte ich ihm, dass ich seinen Vorschlag zu den Drei Schwestern zu fliegen, in die Tat umgesetzt habe.
Die Berge, die er als Eckpunkte seines gestrigen Streckenfluges angibt, kenne ich nur vom Hörensagen. Sie befinden sich weit außerhalb meines fliegerischen Horizonts. Dennoch ist Armin mit seiner Leistung nicht zufrieden. Auf dem Heimweg war er gleich nach der Überquerung des Arlbergs zur Landung gezwungen gewesen. Heute will er die Aufgabe zu Ende fliegen.
Dasselbe noch mal? Ich staune. Hätte ich bloß die Option, meine Flugroute von gestern zu verlängern, so wäre ich wahrscheinlich wirklich wandern gegangen.
Mich reizt die entgegengesetzte Richtung. Östlich des Golms war ich noch nie.
Armin schlägt mir einen Flug in die Silvretta vor. Witzbold. Ich dachte eher an nahe Liegendes, wie Schwarzköpfle, Tilisunasee und Reutehorn. Für mehr reicht meine Kondition heute sicher nicht. Den Reisepass habe ich zwar im Gepäck, aber die Schweizer Seite erscheint mir drohender als je zuvor. Bloß keine beschwerliche Tour riskieren!
Trotzdem würde mich interessieren, wie Armin sich einen Streckenflug mit einem Yeti in die Silvretta vorstellt. Geht das auch ohne Grenzübertritt?
„Du drehst am Golm auf 2.500 Meter auf“, beginnt er seine Wegbeschreibung. Dann bessert er auf 2.700 Meter nach, quasi ein Yeti-Sicherheits-Puffer. „Diese Höhe reicht für die Querung des Gauertales. Am Schwarzköpfle tankst du nochmals Höhe. Danach fliegst du zur Versettla, die geht immer gut, und dann bist du eh schon in der Silvretta.“
So einfach ist das.
Silvretta, den Namen hör’ ich wohl…
Der Startplatz ist noch menschenleer. Armin ist gleich weiter zum Gipfel aufgestiegen. Ich bin froh über die äußerliche Ruhe und hoffe, dass sie sich auf mein Inneres überträgt. Silvretta.
Ein magisches Wort für mich. Selbst zu meinen Drachenfliegerzeiten lag dieses Ziel für mich in unerreichbarer Ferne. Nicht einmal Starts in Galtür ermöglichten mir den Traum, von dem andere mit schwärmerischen Augen berichteten. Stets waren die Verhältnisse dagegen. Mit den Worten: „Gestern flogen sie über den Piz Buin!“ fuhr uns Elmar Ganahl auf den Predigtberg. „Kaum zu glauben, dass heute gar nichts geht“, sagte er achselzuckend, wenn er uns kurz darauf am Landeplatz wieder einsammelte.
Silvretta.
Ein fahlgelber Himmel spannt sich über die hohen Berge am Horizont. Das seltsame Licht färbt auf den Schnee ab. Marillenhaut auf den Gletschern. Zimtpulver an den Flanken. Eine ungewöhnlich hohe Konzentration von Saharastaub schafft diese eigenartige Atmosphäre, die überhaupt nicht nach Thermik aussieht.
Vielleicht erübrigt sich jede Zielvorstellung und wir sinken einfach ins Tal hinab.
…allein mir fehlt der Glaube
Nach und nach eintreffende Piloten diskutieren heftig über den Sand in der Luft und seine möglichen Auswirkungen. Manche behaupten allerdings, die trübe Sicht könne nur von Feuchtigkeit verursacht sein. Dunst sei des Rätsels Lösung. Zählt nicht ein gewisses Maß an Wetterkunde zu den Voraussetzungen fürs Fliegen? Wie auch immer, unklar bleibt, wie effektiv Sonnenwärme durch diese schwefelgelbe Suppe dringen wird und ob die Flugwetterprognose halten kann, was sie versprochen hat.
Mir ist es egal. Im Getriebe meiner Gedanken knirscht Sand. Ich baue heute weder Wolken- noch Luftschlösser.
„Du bist so still“, wundert sich Steffen.
Ich gestehe, dass mein Geist eigentlich vom gestrigen Flug gesättigt ist. Mein Körper sowieso.
Steffen grinst. „Aber bei DEM Wetterbericht, - “
„Eben“, seufze ich.
„Welches Ziel hast du vor Augen?“, will Steffen wissen. „Wagst du dich heute mit mir in die Schweiz?“
„Armin schickt mich in die Silvretta“, weiche ich aus.
„Armin?!?“
„Ja. Gestern sagte er, ich solle zu den Drei Schwestern fliegen. Das hab ich getan, wenn auch über Umwege. Heute schlägt er die Silvretta vor.“
„So einfach lässt sich eine Hummel steuern?“, stichelt Steffen.
„Ich glaub’ ja eh nicht daran.“
„Das ist ein Fehler“, sagt Steffen, plötzlich ernst geworden.
Startstories sind kein Betthupferl
Armin hantiert an seinen Steuerleinen. Er will eine Kugel, die oberhalb der Schlaufen montiert ist und ihm Druckstellen an den Händen verursacht, entfernen. Es gelingt ihm nicht. Manche Piloten würden die Hände durch die Schlaufen stecken und sich an den Kugeln halten, erklärt er mir. Dies sei aber extrem gefährlich, denn man könne im Falle des „Eintwistens“ regelrecht gefesselt werden. Dann bestünde keine Chance mehr, den Auslöse-Griff des Rettungsschirms zu erreichen. Tödliche Unfälle habe es deshalb bereits gegeben.
Aufbauend, diese Geschichten vor dem Start.
Gestern machte mich jemand darauf aufmerksam, dass die halboffenen Ösen an meinen Bergschuhen im wahrsten Sinn des Wortes verhängnisvoll werden könnten, sollten sich Leinen nach einem Klapper darin verheddern. Leinen auf Schuhniveau?!?
Um Himmels Willen, dachte ich mir, zu welchen Manövern sind Schirme fähig? Zählt da mein Yeti auch dazu?
Heute trage ich Gamaschen, die sämtliche Ösenhaken bedecken. Allein die Vorstellung, kopfüber in den Leinen zu hängen, ließ meinen Magen rumoren.
Warum werden die radikalsten Flugerlebnisse stets in der letzten halben Stunde vor dem Start besprochen? Beinahabstürze, haarsträubende Außenlandungen, Turbulenzen ohne jede Vorwarnung – ich frage mich, stimuliert die Adrenalinproduktion das Erinnerungsvermögen an entsprechende Episoden, oder sind die Horrorgeschichten eine Art Kriegsgeheul, mit dem man sich selbst aufstachelt, bevor man sich in den Kampf mit dem unsichtbaren Gegner stürzt?
Mein Lust zu starten hält sich in Grenzen. Ich lasse Armin, Steffen und vielen anderen den Vortritt. Mit Staunen beobachte ich, wie einer versucht, einen schmalen Streifen Gleitschirmsegel in die Luft zu bekommen. Leistungsstarke Schirme sehen ja schon wie Sicheln aus, aber mit diesem Ding könnte man Werbung für Tanga-Slipeinlagen machen. Trotz Helfer schafft es der Pilot erst beim fünften oder sechsten Versuch abzuheben. Im Flug sieht der schlanke Schirm jedoch sehr elegant aus, wenn auch nicht vertrauenserweckend. Mit welchem Risikofaktor bezahlt man da die höhere Gleitzahl?
Liebevoll breite ich den Yeti aus. Seine gutmütigen Eigenschaften schätze ich heute besonders. Erstens sitzt mit der gestrige Flug noch in den Knochen und meine Konzentration ist dadurch sicher beeinträchtigt, zweitens dürfte die Thermik ziemlich heftig sein. Überm Startplatz kreisen die Schirme bereits nach kurzer Zeit in wahnwitziger Höhe.
Das Glück ist ein Vogerl….
Sieben Minuten später bin ich fünfhundert Meter überm Golm. Hätte ich Armins Schirm, so könnte ich jetzt schon zur Gauertalquerung ansetzen. Ich bin erleichtert darüber, dass ich wegen der schlechteren Yeti-Gleitzahl mindestens zweihundert Meter mehr benötige. Sonst ginge mir das alles zu schnell, ich bin ja keine Speed-Hummel.
Gemütlich ziehe ich meine Kreise in der großflächigen Thermik. Die Verhältnisse sind idiotensicher, bedürfen keiner besonderen Aufmerksamkeit. Das Vario piepst unablässig, während ich meinen Blick schweifen lasse. Unglaublich, dass unter diesem gelbgrauen Himmel, dessen Sandgehalt alles zu erdrücken scheint, solche Bewegung in der Luft ist. Wie in einem unsichtbaren Fahrstuhl schwebe ich nach oben, keine Wolke zeigt das Ende des Steigens an. Die Möglichkeiten erscheinen grenzenlos.
Doch halt, was ist das für ein gelbes Ding da unten?
Bevor ich es recht erkennen kann, ist es meinem Blickfeld entschwunden. Bei der nächsten Umdrehung schaue ich gleich zum Lünersee hinab. Tatsächlich, dort bei den Gipslöchern an der Lünerkrinne soart ein gelber Schirm hin und her. Dem Schatten nach zu urteilen, ist er nicht weit vom Boden entfernt. Wieder muss ich einen Halbkreis abwarten, bevor ich ihn weiterbeobachten kann.
Es könnte Steffen sein, denn er folgte Armin in Richtung Schesaplana. Das würde aber bedeuten, dass meine als idiotensicher eingestufte Thermik dieses Attribut nicht verdient. Oder gerade doch? Von profisicher war schließlich nicht die Rede. Meine mittlerweile erreichte Höhe von 3.000 Metern ist mir plötzlich peinlich. Wer will schon ein Idiot sein?
Trotzdem, Steffens „Überlebenskampf“ dort unten vergällt mir die Lust, einen Selbstversuch an der Schweizer Grenze zu wagen. Ich wünsche dem zähen Kämpfer an der Lünerkrinne viel Glück und verabschiede mich kurz entschlossen zur Gaisspitze. Dort wartet der Bart bereits auf mich und ich empfinde fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen.
Bevor ich zur Querung des Gauertales ansetze, erhasche ich nochmals einen Blick auf Steffen. Er hat es geschafft, sich über den Gipslöchern empor zu arbeiten und ist jetzt über dem Grat des Schafgafalls! Ich freue mich mit ihm.
Kurz bevor ich das Schwarzköpfle erreiche, beginnt das Vario erneut zu piepsen. Kreisend schraube ich mich im Anflug auf den Gipfel höher, steige an ihm vorbei und bin bald wieder an der Basis, sofern man das bei Blauthermik wissen kann. 3.100 Meter zeigt der Höhenmesser.
Da sehe ich links in einiger Entfernung einen winzigen blauen Schirm, der das Gauertal direkt vom Golmer-Startplatz aus gequert hat. Er fliegt in aberwitziger Höhe über die Tschaggunser Mittagsspitze. Ich schätze ihn rund tausend Meter höher als mich! Und ich dachte, den Plafond erreicht zu haben, nur weil das Steigen kurz nachließ. Sofort kehre ich um, suche ehrgeizig nach Aufwinden, aus den Augenwinkeln immer den blauen Punkt verfolgend, der ohne einen einzigen Kreis einfach weiter fliegt.
Neid ist beim Fliegen ein ebenso schlechter Ratgeber wie Angst. Anstatt Höhe zu gewinnen, purzeln die Meterzahlen nach unten und ich bin gezwungen den Ort zu verlassen, wenn die Höhe noch reichen soll, um die Bergkette hin zum Gargellner Tal zu überwinden.
Fensterln
Das Sinken normalisiert sich. Ruhig gleite ich über das sanft gewellte Hochplateau, das sich von der Walseralpe bis zum Plasseggenpass ausbreitet. Die Landschaft ist gescheckt wie eine Kuh in Militärtarnfarben. Die Hügelkuppen tragen braune Glatzen, die der Sonne zugewandte Stirn leuchtet bereits grün. Am Hinterkopf rumpfeln sich Schneereste zusammen. Mittendrin das große, blaue Auge des Tilisunasees. Zahlreiche Quellen speisen den See. Sie durchziehen einen morastigen Schwemmfächer mit einem Gewirr krauser Bächlein. Bald schon werden sie von einem Teppich blühender Dotterblumen überwuchert sein.
Zu meiner Rechten endet die fruchtbare Humusdecke abrupt. Knochenhelles Kalkgestein, entstanden vor 40 Millionen Jahren in einem seichten Korallenmeer, bricht unvermittelt aus der lieblichen Landschaft hervor und bäumt sich zu einem mächtigen Gebirgsstock auf. Die Weißplatte und ihre beide Nachbarberge Sulzfluh und Scheienfluh bilden eine vom Karst zerfressene Steinwüste. Die Gegend ist wegen dieser Kontraste berühmt. Namen wie Weißplatte und Schwarzkopf kennzeichnen jedoch bloß die Eckpunkte der Farbpalette. Unterschiedliche, übereinander gestapelte Gesteinsdecken, dunkle Schiefer, rote Sedimente, helles Kristallin – wurden unter immensem Druck aufgefaltet und danach von der Erosion gekappt. Das so entstandene geologische Fenster ermöglicht den Blick auf sonst in der Tiefe verborgene Schichten. Welch unerhörtes Privileg dies alles gemütlich von oben betrachten zu können!
Luftwandern
Ich nähere mich dem Grat, der den hinteren Abschluss dreier Gargellner Seitentäler bildet, in denen ich oft zu Fuß unterwegs bin. Meine Augen suchen markante Punkte am Boden, die ich wiedererkenne. Etwas bewegt sich am Wegweiser auf dem Gweiljoch. Wehen da die tibetischen Gebetsfahnen im Wind, die ich im Winter angebracht habe? Oder dort, am Ende des Platinatales: Stammen die beiden weißen Striche im steilen Schneefeld von meinen Sohlen? Wo hat sich der winzige See am Übergang des Sarotlatales versteckt? Liegt er unter der bläulichen Delle in der Schneedecke noch im Winterschlaf?
Vor lauter Begeisterung über die ungewohnte Perspektive habe ich vergessen, dass ich dafür etwas tun muss. Zugegeben, groß ist mein Beitrag nicht. Der Grat ist ein einziges Aufwindband. Ich kann mir den stärksten Bart aus dem breiten Angebot auswählen. Er bringt mich bis auf 3.700 Meter Höhe. Links unter mir verschmilzt das sonst so imposante Reutehorn mit dem Grat als würde es sein stolzes Haupt einziehen.
Das Gargellnertal ist rasch überquert. Der Schmalzberg formt die erste Erhebung auf der anderen Seite und dort steht auch der nächste Bart. Ungläubig verfolge ich die Zahlen am Vario. 3.800, 3.900 – wie hoch will es denn noch hinauf? Ich warte, bis ich einen Vierer an der Tausenderstelle sehe und fliege weiter. Der Beweis ist abgespeichert. Mir ist zu kalt, um herauszufinden, wo die Thermik heute tatsächlich endet. Außerdem sind die Berge der Silvretta nun in erreichbare Nähe gerückt. Da will ich keine Zeit mehr verschwenden. Wenn der plötzlich auflodernde Ehrgeiz nur auch meine Finger erwärmen könnte!
Verschätzt?
Die Kälte treibt mir Tränen in die Augen. Verschwommen nehme ich beim nächsten Kreisen die Madrisa im Süden wahr, weit hinter mir die Zimba, im Norden der tiefe Einschnitt des Montafons bei Gaschurn und vor mir der Hochmaderer, das letzte Hindernis auf dem Weg zur Silvretta.
Den Blick auf mein Ziel geheftet, werde ich nachlässig. Nur ein halber Meter Steigen bei der Heimspitze? Schwache Thermik ist zeitraubend. Meine Finger sind klamm, das Vario zeigt immer noch 3.400 Meter, ich will weiter. Im Geradeausflug steuere ich den Hochmaderer an. Da merke ich, dass ich das Ganeratal vergessen habe. Egal, das überfliege ich locker, denke ich zähneklappernd. In 3.000 Meter ist es dafür wärmer.
Diese Höhe habe ich schneller erreicht, als mir lieb ist. Mit fünf bis sechs Meter in der Sekunde geht es plötzlich abwärts. Nichts wie weg von hier! Ich steige ins Speedsystem und peile das Joch zwischen Tschambreuspitze und Hochmaderer an, beide 2.800m hoch. Über die Gipfel komme ich leider nicht mehr.
Natürlich reut es mich jetzt, dass ich den Bart an der Heimspitze verschmäht habe. Was passiert, wenn ich es nicht über den Sattel auf die Sonnenseite schaffe?
Meine Beine zittern vor Anstrengung. Das leichte Wendegurtzeug ist nicht für Streckenflüge konzipiert. Im Speedsystem zu stehen kostet Kraft. Endlich ist die extreme Sinkphase überwunden, ich gleite mit Normalwerten dahin. Die Luft wird ganz ruhig. So nahe war ich dem Gelände seit dem Start nicht mehr. Dicke Schneewülste liegen wie Zahnpaste auf den Felszacken des scharfen Grates. Ein wunderbarer Kontrast zwischen weich und hart. Lautlos schwebe ich darüber und fühle mich dabei wie in einem Bergfilm, wo Zeitlupe diesen magischen Moment, wenn der Kamerablick vom fast greifbaren Grat in den dahinter lauernden Abgrund fällt, hinauszögert.
Ich halte die Luft an, gleich ist es so weit! Nur wenige Meter trennen mich vom Joch. Die wilde, unberührte Hochgebirgslandschaft unter mir ist faszinierend schön, gleichzeitig fürchte ich die vor mir abbrechende Felswand. Muss ich mich auf Turbulenzen gefasst machen? Steigt da vorne Hammerthermik auf?
Nichts dergleichen passiert. Sanft, wie in einem morgendlichen Gleitflug schwebe ich über die atemberaubende Kulisse, an Felstürmchen und auskragenden Wächten vorbei, sinke in ein schneebedecktes Kar hinab und fliege dann knapp an der sonnenbeschienenen Felswand entlang. Kein Lüftchen regt sich, nicht ein Hauch von Thermik steigt auf. Unter mir schimmert die türkise Wasserfläche des Vermuntstausees.
Ich kann beides kaum fassen. Weder die Tatsache, dass ich die Silvretta erreicht habe (wenn auch bloß am Rande), noch die Konsequenz, dass ich da unten landen muss, wenn nicht bald etwas Bewegung in die Luftmasse kommt.
Am Ziel?
Kurz spiele ich mit dem Gedanken, einfach geradeaus zu fliegen, um die Landung weiter in das Gebiet der Silvretta zu verlegen. Aber das käme einer Kapitulation gleich. Wer weiß, wann sich mir die nächste Chance bieten wird, hier aufzudrehen.
Ich brauche Wiesen- und Waldhänge, die schneegefüllten Felsrinnen und Klüfte unter mir bringen nichts. Schweren Herzens verabschiede ich mich vom Blick auf das Bergpaar Litzner & Seehorn und fliege Richtung Partenen, vor zum Breitfieler, dem langen aperen Rücken, den sich Latschengruppen und Mooshügel teilen.
Mein Entschluss wird belohnt. Zuerst meldet sich das Vario nach zwanzigminütigem Schweigen mit einem zarten Piepsen. Die Luft brodelt. Vorerst sind es nur kleine Thermik-Blasen, die gleich wieder verpuffen, doch ich ahne, etwas Gewaltiges braut sich hier zusammen. Ich darf bloß den Einstieg nicht verpassen. Zweihundert Meter Höhe gewinne ich mühsam dazu, aber auf 2.600 Meter verliere ich den Anschluss.
Arme und Schultern schmerzen. Soll ich weiterkämpfen? In Partenen fände ich sicherlich einen Platz zum Landen. Zwei Stunden fliege ich bereits. Wie lange wird meine Kondition reichen?
Ein schriller Ton des Varios reißt mich aus den Überlegungen. Zufällig bin ich ins Zentrum des Aufwindes geraten. Bei Steigwerten bis zu 8 Metern in der Sekunde gibt es nur ein sicheres Manöver: Kreisen und um Himmels Willen nicht aus der Thermik fallen! Nach den ersten fünfhundert Höhenmetern geht das Steigen auf ein angenehmes Maß zurück und ich genieße den Triumph. Die Silvretta gehört mir!
In einer Höhe von 3.400 Metern quere ich die Hochalpenstraße, auf der sich ein glitzernder Blechwurm auf- und abschlängelt und fliege über die blanken Felsen der Kresperplatten in Richtung Bielerspitze. Ich habe erneut den richtigen Flugrhythmus gefunden, die Thermik scheint just in dem Augenblick zu entstehen, in dem ich an einem Berg ankomme. Kreisend lasse ich mich weiter nach Tirol versetzen, bis ich am Passübergang der Bielerhöhe wieder auf fast 4.000 Meter Höhe bin.
Euphorie
Der Himmel ist noch immer wolkenlos und das Panorama einzigartig. Diesmal mischen sich in die von Kälte ausgelösten Tränen auch Tränen der Freude. Ich kann auf den höchsten Berg Vorarlbergs hinunter schauen! Der Piz Buin ist zwar ein paar Kilometer entfernt, sein Gipfel jedoch 600 Meter tiefer als ich. Die trockene Saharaluft ermöglicht einen Blick bis weit in die Bernina hinein, ein weißes Meer aus Bergspitzen türmt sich hinter Vorarlbergs Grenzen.
Glückshormone überschwemmen mich. Suchend schaue ich mich um. Ist denn da niemand, dem ich meine Freude zurufen könnte? Kein Gleitschirm teilt sich mit mir den Himmel.
Die Menschen unter mir sind bloß Punkte, die die Staumauer des Silvrettasees und den Promenadenweg tüpfeln. Sie werden von den am Pass eintreffenden Bussen ausgespuckt und strömen auseinander. Andere ballen sich zu Punkthaufen zusammen, bis ein Bus sie einsaugt und der Parkplatz einen Moment lang leergefegt ist.
Es ist schwierig, in der Einsamkeit eine so überwältigende Freude auszuhalten. Das Gefühl des völligen Alleinseins löst den abstrusen Gedanken aus: „Wenn ich jetzt sterben müsste, dann wüsste Markus anhand des Flugtracks, dass ich zuvor wahnsinnig glücklich gewesen bin.“ So ein Blödsinn! Es gibt weder Turbulenzen noch droht sonst eine Gefahr. Mitten im schönsten Augenblick an den Tod zu denken, erscheint mir derart absurd, dass ich unwillkürlich den Kopf schüttle, um das Thema zu verscheuchen. Ich ahne ja nicht, dass bald darauf ein Vorarlberger Pilot, der ebenfalls am Golm gestartet ist, sein Leben bei der Landung verlieren wird.
Ist das Ziel weg?
Das Ausflugsboot pflügt eine silberne Schleppe ins Türkis des Gletscherwassers. Nach einer kurzen Runde kehrt es an die Anlegestelle zurück.
Für mich wäre es auch an der Zeit umzukehren. Wie immer nach über zwei Stunden Flugzeit drückt mich eine volle Blase. Ich könnte es mir einfach machen und auf der Bielerhöhe landen, gemütlich ins Silvrettahaus einkehren und dann mit dem Bus nach Schruns fahren.
Klingt verlockend, die Sache hat nur einen Haken. Ich bin auf 4.000 Meter Höhe und mir stehen Möglichkeiten offen, von denen ich bislang nicht einmal zu träumen gewagt habe. Soll ich diese Chancen einfach verschenken? Wie lange würde es dauern, bis mich die unerzwungene Landung reute? Eine halbe Stunde? Wahrscheinlich würde ich bereits kurz nach dem Toilettenbesuch sehnsüchtig in den Himmel blicken…
Oder der Weg das Ziel?
Also weiter. Nur wohin? Unschlüssig mustere ich die Bergwelt ringsum. Daran merke ich, wie müde ich bin. Es fehlt die Energie, mich nochmals irgendwo hinauf zu kämpfen. Es ist genug, gestehe ich mir ein.
Umkehr.
Ich werde versuchen über meine Lieblingswanderpfade nach Schruns zu fliegen. An heißen Sommertagen flüchte ich gerne zu kühlen Bergseen und oft schon habe ich, dort im Gras liegend, den Himmel betrachtet, als plötzlich ein Gleitschirm auftauchte. Ich ging davon aus, dass ich nie über diese Gebiete würde fliegen können. Wie denn auch, mit meinem Schulungsschirm?
Nachdem ich mein heutiges Ziel, die Silvretta erreicht habe, ist das nun die Draufgabe. Als erstes gleite ich über den Felsgipfel der Vallüla, an deren Fuß ich schon oft übernachtet habe. Von den unzähligen Seen sind nur die größten ausgeapert. Ich fliege meiner Wanderroute entlang, beseelt vom Anblick aus der ungewohnten Perspektive. Am Breiterspitz finde ich Thermik. Aber sie ist vom heftigen Wind, der vom Montafoner Tal kommend übers Zeinisjoch bläst, derart versetzt, dass sie mich nicht weiterbringt. Die Höhe, die ich in ihr gewinnen kann, verliere ich, sobald ich versuche gegen den Wind zurückzufliegen.
Das wird unangenehm werden, befürchte ich. Eigentlich hatte ich erwartet, von leichtem Rückenwind unterstützt ohne viel Aufwand nach Schruns zu kommen. Schließlich hatte ich vom Golm bis zur Bielerhöhe stets Ostwind verspürt.
Vor dem Kopssee quere ich zur Versalspitze. Obwohl ich im Speedsystem stehe, erreiche ich bloß 20 km/h. Es ist wie verhext. Auf dieser Talseite bricht offenbar der Nordwind durch. Zwischen Augstenberg und Valschavieler Maderer wird er noch heftiger. Jeder Kreis, den ich in der schwachen Thermik ansetze, eiert sofort in eine langgezogene Ellipse aus. Ich will aber nicht mehr in die Silvretta zurück!
Zum ersten Mal heute kommt mir ein Schirm entgegen. Mit einem Affenzahn zieht er an mir vorbei Richtung Galtür. Ich habe das Gefühl in der Luft zu stehen wie eine Boje.
Überm Maderer zeigt sich eine Kondensation. Bis ich jedoch den Gipfel erreiche, hat sich der Wolkenansatz schon wieder aufgelöst. Dafür beginnt über dem nächsten Gratzacken eine weiße Verheißung zu quellen. Erneut bin ich zu spät. Das Spiel setzt sich fort. Ich fliege den Wölkchen hinterher, wie ein Esel der Karotte nachrennt, die man vor seiner Nase baumeln lässt.
Genug
Dann verschwindet der Nordwind genauso plötzlich, wie er aufgetreten ist. Ich finde den richtigen Rhythmus wieder und kann die Wolkenstraße für die rasche Heimkehr nutzen. Nie drehe ich höher auf, als nötig ist um den nächsten Bart zu erreichen. Am Hochjoch weiche ich der heftigen Thermik absichtlich aus – ich will hinunter.
Es gibt nur ein Problem: Der Talwind. Zwei Uhr Nachmittag ist mittlerweile vorbei und es ist wahrscheinlich weder lustig noch ratsam, in Schruns zu landen. Das hätte ich mir vorher überlegen sollen.
Ich fliege über die neuerbauten Tschaggunser Schanzen in Richtung Gauertal. Dort hatte ich letztes Jahr schöne Außenlandeplätze gefunden. Leider fehlen mir rund zweihundert Meter Höhe, um sie zu erreichen. Was ist mit Latschau? Stand da nicht irgendwo ein Windsack? Die Wiesen sehen allesamt verdammt mickrig aus, sind umzingelt von Häusern, Bäumen und einem Umspannwerk!
Mein Blick schweift zurück nach Schruns. Wo soll ich es wagen? Hier oder dort?
Da sehe ich einen Schirm überm Schrunser Landeplatz. Gespannt beobachte ich, ob er noch vorwärts fliegt, im Wind steht oder womöglich rückwärts verblasen wird. Er macht ein bisschen Vorfahrt. Nichts wie hin! Meine nachlassende Konzentration sehnt sich nach großen und bekannten Wiesen.
Ich sinke in die Wärme hinab. Erst in den tiefen Luftschichten erfasst mich der berüchtigte Montafoner Talwind, turbulenter und heftiger, als ich vermutet habe. Bei anderen sieht es immer relativ harmlos aus. Die letzten Minuten kosten mich mehr Nerven als der gesamte Flug.
Aber dann stehe ich am Boden. Zwei Sekunden lang. Ein heftige Böe fährt in das Tuch, die Wucht des zerrendes Schirmes reißt mich herum und ich bekomme gerade noch rechtzeitig die hinteren Gurte zu fassen, um meinen Yeti daran zu hindern, mich über den Boden zu schleifen. Meine Aufmerksamkeit hatte bloß eine winzige, aber gefährliche Pause eingelegt. Gut, dass der Flug zu Ende ist.
* * *
Die Feiertage gehen jedoch weiter. Das Wochenende verlängert sich dank Pfingsten um einen Tag. Die am Landeplatz anwesenden Piloten freuen sich über das Flugwetter, das für Montag vorhergesagt wird: Beste thermische Bedingungen mit einigen Quellwolken am Nachmittag.
Mir wären ein Föhneinbruch oder eine Kaltfront willkommener gewesen. Aber das versteht hier niemand.
Ich rufe Markus an, berichte ihm von der Silvretta und von dem herrlichen Gefühl, jetzt ausgestreckt, entspannt und sicher auf dem warmen Wiesenboden zu liegen.
„Morgen gehe ich wandern“, sage ich mit Bestimmtheit zu Markus.
„Mit dem Gleitschirm?“
Mist. Er hat mich schon wieder durchschaut!
Zahlen und Fakten - Hummelflug 4:
Flug am 8.6.2014 (Pfingstsonntag) mit einem Yeti 24 II
Dauer: 3 h 40 min
Geflogene Strecke (berechnet nach OLC mit 3 Wendepunkten): 55 km
Start am Golm um 10:50 Uhr, Landung in Schruns um 14:30 Uhr
Größte Höhe: 4016 m