Hummel - Heimat                      12. Mai 2015

Heute ist Pankratius. Menschen, die wie ich lange vor dem Klimawandel geboren sind, verbinden mit dem Namen dieses Eisheiligen Kälteeinbruch mit Schnee auf blühenden Obstbäumen. Die jugendliche Moderatorin des gestrigen Wetterberichts hingegen sprach von einem Schweißheiligen. Der 12. Mai, ein weiterer Tag im Zentrum des stabilen Hochs, werde dank föhniger Südwestwindlage voraussichtlich Temperaturrekorde brechen, trotz ausgedehnter Cirrenfelder am Himmel.

 

Die Prognose war leider richtig. Schon am Morgen fühlt sich die Luft stumpf und verbraucht an. Träge döst sie unter dem milchig weißen Himmel.

Eigentlich gibt es keinen vernünftigen Grund heute mit dem Gleitschirm in Schnifis zu sein und ich hadere mit dem Entschluss, Urlaub genommen zu haben. Am liebsten würde ich den Wetterdienst auf Zeitrückerstattung verklagen: Denn noch vor drei Tagen, als ich den Urlaub beantragte, war von Labilisierung, von harmlosen Quellwolken hoch über den Gipfeln und von wenig Wind die Rede. Gestern änderten die Meteorologen ihre Meinung. Und ausgerechnet diesmal behielten sie recht.

Unmotiviert schleppe ich meine Ausrüstung zur Bahn. Es ist erst halb zehn Uhr. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper zwischen all den Wanderern, die vom stabilen Wetter begeistert sind und hoch hinauf wollen. Sie können nicht verstehen, dass derselbe Himmel für mich bedeutet, in zehn Minuten wieder unten zu sein.

 

Außer – ich tue es ihnen gleich.

 

Hoch Gerach zu Fuß

Nachdem ich meine Flugausrüstung bei der Bergstation im Henslerstüble deponiert habe, mache ich mich zu Fuß auf den Weg. Wandern statt Thermik. Eine Vorahnung hat mich bewogen, auch Wanderstöcke und einen kleinen Rucksack mitzunehmen, um flexibel zu sein, falls es nicht gut zum Fliegen ist. Aber kann man das wirklich wissen, bevor man in der Luft ist? Ein Zweifel bleibt.

 

Als ich hinter dem Waldrücken die offenen Wiesen der Alpilaalpe erreiche, bläst mir leichter Ostwind ins Gesicht.

„Es ist föhnig“, stelle ich erleichtert fest. „Ich versäume nichts.“

Mantraartig wiederhole ich den letzten Satz während des Aufstiegs. Trotzdem ertappe ich mich dabei, wie ich in kürzer werdenden Abständen auf die Uhr schaue und einen raschen Blick zurück in Richtung Startplatz werfe. Mein seltsames Verhalten erinnert mich an Kindheitstage, wenn ich mich in einem düsteren Wald verfolgt glaubte. Wohl wissend, dass es keine Gespenster gibt, musste ich mich dennoch ständig umdrehen, um mich dessen mit eigenen Augen zu vergewissern.

Würde ich jetzt einen Gleitschirm 100 Meter über der Waldkante erspähen, wäre mein Schock sicher ebenso groß, als hätte ich einen Geist gesehen.

 

Unwillkürlich lege ich an Tempo zu. Obwohl ich mir vorsage, dass ich nichts versäume, rechne ich mir gleichzeitig aus, dass, wenn ich um 11:00 Uhr auf dem Gipfel stünde, ich um 12:00 Uhr bereits wieder am Startplatz sein könnte. Meine Angst, ich könnte eine außergewöhnliche Thermik verpassen, sitzt mir wie der Teufel im Nacken und nimmt mit jedem Meter, den ich mich vom Startplatz entferne, zu. Ich gerate außer Atem.

„Halt! Jetzt mach mal Pause“, schimpfe ich mich selbst.

Dem eigenen, dummen Kopf kann man nicht davonrennen, man muss ihn überlisten. Ich ziehe die Bergschuhe aus und stopfe sie in den Rucksack. Barfuß gehen zwingt meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf den Weg, gedankliches Abschweifen tut weh.

 

Die Methode hat Erfolg. Außerdem lieben meine Füße die Berührung mit der jungen Alpenflora. Alle Pflanzen sind noch weich und zart, selbst Disteln stacheln nicht. Der Boden unterhalb der letzten Schneereste ist sumpfig und kühl, Lehm knotzt zwischen meinen Zehen, ich lasse keinen Tümpel aus. Immer wieder schreite ich über grünen Plüsch, in dem Enzianblau nistet. Die Schneefelder sind von platt gepressten toten Gräsern umsäumt, gleich einer braunen Filzbordüre. Darüber schaukeln die filigranen Glöckchen der Soldanellen. Ab und zu bleibt eines zwischen den Zehen hängen, ich pflücke Blumen mit den Füßen. Der violette Schmuck leuchtet schöner als jeder Nagellack.

 

Der letzte Anstieg zum Gipfel ist steinig. Ich muss mir die Tritte gut überlegen, um mich nicht an den scharfen Kanten zu verletzen. Außerdem lauern da die großen Waldameisen in todesmutiger Angriffstellung. Die Klammern erhoben, nur auf den Hinterbeinen stehend, warten sie auf den Feind. Mit Bergschuhen würde ich sie zermalmen, so aber weiche ich ängstlich aus.

Erst als ich auf dem Gipfel stehe, fällt mir das Fliegen wieder ein. Aber da nirgends ein Gleitschirm zu sehen ist, kann ich mich entspannt hinsetzen und den Ausblick genießen.

 

Die Heimatberge

Das Panorama reicht von der glatten Fläche des Bodensees bis in die weißen Zahnreihen der Silvretta. Unwillkürlich bleibt mein Blick auf dem Gebirgsstock hängen, aus dessen Mitte sich die Zimba erhebt. Es ist nicht die Besonderheit, die meine Augen magisch anzieht, sondern die Vertrautheit. Diese Berge sehe ich tagtäglich von meiner Wohnung aus. Ihre Silhouette am fahlen Morgenhimmel ist das erste, was ich vom neuen Tag zu Gesicht bekomme. Auch abends träume ich mich gerne dort hinauf, stelle mir vor, wie es sein müsste gerade jetzt auf der Schneewechte des Schafgufels zu balancieren oder an die noch warme Holzfassade der Nonnenalpe gelehnt, den Sonnenuntergang zu beobachten.

Es gibt da oben kaum Wanderwege, der Zustieg ist sehr beschwerlich. Im Winter drohen Lawinen. Selbst jetzt im Mai liegt noch überall Schnee, einzig die schmale Weidefläche ringsum die Nonnenalpe ist aper. Ich nehme mir fest vor, irgendwann einmal dort einzulanden. Aber da werde ich wohl die Flugsaison am Golm abwarten müssen, von dessen Startplatz aus die Alpe ohne Talquerung zu erreichen ist. Bis dahin, denke ich wehmütig, werden die kühnen Wechten wohl längst geschmolzen sein.

 

Rascher Abstieg

Ein Wanderer erklimmt den Gipfel und stellt seinen Rucksack mit aufgeschnallten Firngleitern neben meinen nackten Füßen ab. Wir starren uns gegenseitig verwundert an.

„Ein bisschen spät fürs Schifahren“, spotte ich und pule Blütenstaub zwischen den Zehen hervor. Er behauptet trotzig, dass im schattigen Kellatobel noch mehr als genug Schnee liege.

Das muss man mir nicht zweimal sagen. Ich schlüpfe in meine Bergschuhe und mache mich auf den Weg in Richtung Sendemast. Die Aussicht auf Schnee-Rutschen ist zu verlockend und dafür nehme ich den Umweg über den Rappakopf gerne in Kauf.

„Ich versäume ja nichts“, sage ich zu mir selbst und meine damit das Fliegen.

 

Der Wanderweg teilt sich, einer führt über den schmalen und sehr ausgesetzten Grat mit grandiosem Tiefblick ins Laternsertal, der andere quert die Wiesenflanken des Walserkammes, bevor sich beide vor dem Rappakopf wieder vereinen. Dahinter liegt die tiefe Kerbe des Kellatobels, einer Falte im Bergkamm, in deren Schatten sich der Schnee bis Juni halten kann.

Hier sind die abgenutzten Sohlen meiner alten Bergschuhe von Vorteil. Kein Vibram-Profil bremst mich und ich sause in Windeseile auf den Schneefeldern talwärts bis tief in den düsteren Nadelwald. Als ich beim Sendemast dann aus den Baumschatten heraus ins flirrende Grün der Almwiese trete, bläst mir heftiger Wind Blütenduft und Insekten ins Gesicht. Augenblicklich bin ich alarmiert. „Thermik!“, schreit es in mir und wie von der Tarantel gestochen renne ich die Wiese hinab und in den nächsten Wald in Richtung Hensler hinein. Die Vernunftstimme hat keine Chance. Ihre Argumente, dass doch gar keine Schirme zu sehen waren und es sich einfach um böigen Südföhn gehandelt haben könnte, höre ich erst, als ich den Startplatz erblicke.

 

Abwind

Im Henslerstüble angekommen, bestelle ich etwas zu trinken mit der Begründung, dass ich nämlich nichts versäumen würde. Die Kellnerin blickt mich fragend an.

„Ich versäume derzeit gar nichts“, wiederhole ich und zeige in den schirmlosen Himmel.

„Aha“, sagt sie verständnislos.

Offenbar versteht sie nicht, was ich meine. Ich überlege, ob es Sinn macht, ihr die stabile Luftmassenschichtung zu erklären, aber da hakt sie schon nach.

„Was soll ich nun bringen?“

„Ein alkoholfreies Bier. Hab ich das nicht gesagt?“, wundere ich mich.

„Nein“, sagt sie und lacht über meine Zerstreutheit. „Das hast du versäumt!“

 

Der Windsack ist ein aufgeblasenes Rohr, das bergwärts zeigt. Dennoch steigt keiner der Gleitschirme in die Höhe. Im Gegenteil. Es sieht fast so aus, als flögen sie gleich nach dem Start gegen eine unsichtbare Wand und würden seitlich daran abschmieren und mit großem Sinken vom Berg weggeschoben werden. Die Piloten pendeln recht hilflos hin und her, Tuch raschelt, es gibt kleine Klapper.

„Nein, ich versäume wirklich nichts“, stelle ich fest und nippe am Bier. „Keine Thermik und trotzdem bockig.“

Ich lehne mich zurück und bestelle ein Eis.

 

Plötzlich macht der Windsack einen Schlenker zur Seite und meine Ruhe ist vorbei. „Zahlen, sofort!“, herrsche ich die Kellnerin an, als sie mir das Eis bringt. Nichts geht mir schnell genug. Für mein unmögliches Benehmen lasse ich großzügig Trinkgeld auf dem Tisch liegen, stürze den Rest des Bieres hinunter, beiße das Eis in großen Stücken ab und hole den Gleitschirm aus dem Depot. Im Laufschritt hetze ich zum Startplatz.

 

Holländer haben sich auf der Wiese breit gemacht. Sie kennen keine Hektik, obwohl ihnen der Windsack in immer kürzer werdenden Abständen das offene Maul zuwendet. Abwind rollt die Schirmkappen von hinten auf.

Ich stopfe all mein dickes Gewand ungeordnet mitsamt den einklappbaren Wanderstöcken einfach in das Gurtzeug hinein. Mir ist im Moment egal, ob dadurch den Airbag blockiert wird oder nicht. Ich darf keine Zeit verlieren. Schweiß rinnt mir den Rücken hinab. Den Anorak ziehe ich nur an, weil ich nicht weiß, wohin damit. Nachdem ich ins Gurtzeug geschlüpft bin, liegen die Winterhandschuhe noch am Boden. Verdammt! Ich schiebe sie rasch in die Innentaschen des Anoraks, den ich ohnehin offen lasse.

In einer Nullwindphase renne ich los, doch just in diesem Moment erfasst eine Abwindböe meinen Schirm.

Startabbruch.

 

Die Wanderstöcke drücken gegen meine Rippen. Die Wasserflasche prellt bei jedem Schritt an die Hüfte. Egal. Ich will nicht mit der Bahn hinunter fahren!

 

Der zweite Versuch, nachdem mir einer der Holländer den Schirm wieder auseinander gezogen hat, klappt. Endlich bin ich in der Luft. Allerdings sitze ich ziemlich ungemütlich, weil sich das chaotisch verstaute Gepäck als sperriges Knäuel gegen meinen Rücken drängt und mir kaum Platz lässt. Aber zehn Minuten Flugzeit werde ich auch in dieser beengten Haltung überstehen.

 

 

Landeplatzsuche

Als ich das Vario einschalte (vor dem Start hatte ich nicht daran gedacht), stehe ich wie eine Boje in der Luft und die Flugaufzeichnung will nicht starten, denn sie benötigt eine Geschwindigkeit von 10 km/h über Grund. Eine unsichtbare Wand baut sich über der Waldkante auf.

Ist es Thermik?

Oder der Übergang vom Lee des Startplatzes zum starken Nordwestwind? Oder beides in unheiliger Allianz vereint?

Der Schirm bockt, die Steuerleinen schneiden in meine ungeschützten Hände, dann beginnt das Vario zu piepsen. Gleich darauf entlasten beide Steuerleinen, das Tuch über mir raschelt.

Ich befinde mich immer noch an derselben Stelle hinter der Waldkante.

Unangenehm.

Erneut versuche ich in diese unsichtbare Wand einzufliegen, dazu muss ich dem Schirm allerdings mehr Geschwindigkeit lassen, was ihn anfälliger für Klapper macht.

 

Vielleicht wäre ich doch besser mit der Bahn gefahren.

 

Endlich dringe ich in dieses Aufwindband ein, das Vario piepst erneut, aber gleichzeitig rupft und reißt der Schirm, dass mir die Hände schmerzen. Schließlich habe ich mich so weit in die Thermik vorgearbeitet, dass ich einen Kreis wagen kann. Er verkommt zu einer langgezogenen Ellipse und daraus errechnet das Vario einen Windversatz von 25 km/h aus Westen. Das technische Equipment ist echt gut. Das Flugwetter nicht. Beim nächsten beinah-Klapper habe ich die Nase voll und bevor sich dieser Zustand auf die Hose ausbreiten kann, drifte ich freiwillig vom Berg weg ins Tal hinaus. Sinkalarm begleitet meine Flucht.

 

Ohne eine einzige weitere Kurve geflogen zu sein, komme ich rund 150 m überm Landeplatz an. Die Luft ist auch hier sehr turbulent und ich überlege, ob es nicht sicherer wäre im Schnifner Ried anstatt am Plateau zu landen. Aber auf allen Wiesen kreuzen Traktoren und wenden Heu, die gemähten Flächen heizen die Thermik und die damit verbundenen Böen erst richtig an.

 

Das Vario meldet Steigen überm Dorf. Ich fliege einen Kreis um Bedenkzeit zu schinden. Der kräftige Westwind versetzt mich zurück übers Plateau. Von einem solchen handfesten Argument lasse ich mich überzeugen: Nicht ins Ried! Nach zwei weiteren Kreisen bin ich über dem Tschanischahügel. Die Thermik wird stärker, Bussarde steigen überm Märchental weg. Im Ried unten stehen die Holländer im Wind und mühen sich, heil auf den Boden zu kommen.

Ich drehe ab und folge den Bussarden. In Ludesch gibt es schließlich auch große Wiesen und zudem bin ich näher beim öffentlichen Verkehrsnetz um heimzufahren.

 

Da sich die Landung nun doch etwas verzögern wird, muss ich irgendwie an die Handschuhe herankommen. Die Steuerleinen schneiden zu schmerzhaft in meine Handkanten. Anziehen und gleichzeitig in der Thermik kreisen ist eine Herausforderung. Aber ich brauche für Ludesch beides: Handschuhe und mehr Höhe!

 

Wenn ich die Thermik sauber zentriere, benötige ich bloß eine Steuerleine. Während der Rechtskreise fingere ich mir mit der linken Hand einen Handschuh aus der Innentasche des Anoraks. Zum Anziehen lasse ich kurz beide Leinen los, dann kreise ich links herum, um mir den rechten Handschuh zu angeln. Die großflächige Thermik verzeiht alles: den Richtungswechsel, die Ankleideaktion und belohnt mich sogar mit einem Höhengewinn von 300 Metern. Eine Landung im Walgau ist nun jederzeit möglich.

 

Nur – will ich das noch?

Ich versäum’ ja nichts, wenn ich weiterfliege!

 


Wind und Wanderstöcke im Rücken

Dank des starken Westwindes fliege ich Ludesch fast ohne Höhenverlust an. Ich kann sogar eine Ehrenrunde über der Frohen Aussicht drehen, bevor ich mir an der Landstraße einen geeigneten Landeplatz suchen werde.

Das plötzlich einsetzende Piepsen des Varios überrascht mich. Ich bin noch immer davon überzeugt, dass heute kein gutes Flugwetter herrscht. Zu viel Wind!

„Ja genau, der Wind wird für das Aufsteigen der Luftmassen am Ludescherberg verantwortlich sein“, sage ich mir. Es ginge zum Aufsoaren. Wenn nur die Wanderstöcke sich nicht so unangenehm von hinten in meinen Sitz bohren würden!

Das Vario piepst stärker. Irgendwie fordernd.

Ich kann doch die angezeigten zwei Meter Steigen in der Sekunde nicht ignorieren! Nur weil ich beschissen im Sitz hänge? Nein!

Es ist aber kein laminarer Wind, der über die Frohe Aussicht streift, sondern Thermik. Leider beugt der Westwind den Thermikschlauch nah zum Hang hin und obwohl ich ständig höher steige, bleibt der Abstand zu den Baumwipfeln gering. Ich wage nicht, mir meine Ausrüstung bequemer zurechtzurücken und tröste mich mit dem Gedanken, dass dieser Bart ein Zufallsgeschenk des Tages sei und ohnehin bald aufhöre. Dann würde ich hinterm Sutterlüty landen, die verdammten Stöcke aus meinem Rücken ziehen und mir etwas zu essen kaufen. Hunger quält mich nämlich auch.

 

Mittlerweile bin ich bei den obersten Häusern des Ludescherbergs angelangt. Es wird bockiger. Aber die Turbulenzen zeigen nicht das von mir erwartete Sterben des Bartes an, sondern das Gegenteil. Jetzt geht die Post richtig ab! Da jedoch auch der Westwind heftiger wird, befinde ich mich bald hinter der Geländekante und ich muss aus der Thermik aussteigen. Schließlich will ich nicht in Raggal, sondern in Ludesch landen.

Oder soll ich gar nach Hause fliegen? Dann bräuchte ich weder eine Bushaltestelle noch ein Lebensmittelgeschäft. Nur ein bisschen mehr Höhe.

Prompt schlägt das Vario erneut an.


 

Höhenflug

Diesmal ist der Bart eng und kräftig und bohrt sich senkrecht durch die Inversionsschicht auf ca. 1200m hindurch. Darüber trifft mich erneut starker Westwind mit 25 km/h. Gleichzeitig aber ist die Luftmasse hier deutlich labiler und die Steigwerte in der Thermik erhöhen sich auf konstante fünf bis sechs Meter pro Sekunde.

Ich spirale mich parallel zum Gelände des Hohen Fraßens empor und schieße weit über den Gipfel hinaus in den milchigen Himmel. Keine Cumuluswolke markiert ein Ende der Thermik. Ich lese nur staunend die Anzeige meines Varios ab, das von 2.500m, auf 2.600m springt und unentwegt jubiliert. Welch unfassbares Glück!

Die ganze Zeit über hatte ich mich nur an möglichen Landeplätzen orientiert und jetzt schwebe ich mutterseelenallein zwischen Himmel und Erde.

2.700 Meter!

… mit Wanderstöcken im Rücken und Hunger im Bauch. Ein Bonmot in Fliegerkreisen scheint sich zu bewahrheiten. Demnach sollte man sich möglichst schlecht kleiden, denn dann ginge es bis in eisige Höhen hinauf.

2.800 Meter!

Ich friere wirklich. Der offene Anorak bauscht sich im kühlen Fahrtwind ballonartig auf. Aber in einem 5-Meter Bart habe ich keine freie Hand, um das zu verhindern. Meine Daunenjacke steckt unerreichbar hinten zwischen den Wanderstöcken und hält diese warm. Ich empfinde so etwas wie Neid. Auf Wanderstöcke!

Die Berge ringsum ducken sich als wollten sie mir die Flugbahn ebnen. Wohin soll ich jetzt? Vorarlberg liegt mir zu Füßen.

Ins Walsertal? Mit Rückenwind ins Klostertal? Oder ins schneereiche Montafon?

2.850 Meter.

Das Steigen verringert sich während gleichzeitig die Turbulenzen heftiger werden. Ein neuerlicher Luftschichtenwechsel oder das Ende der Thermik kündigt sich an. Ich fliege weg. Mein Ziel liegt plötzlich klar vor mir: Der Gebirgsstock, aus dessen Mitte sich die Zimba erhebt und den ich heute vom Hoch Gerach aus so sehnsüchtig betrachtet habe. Ich peile die Nonnenalpe an und steige ins Speedsystem.

Die Talquerung von meiner Position aus in Angriff zu nehmen ist strategisch gesehen ein Blödsinn. Aber ich möchte die lange Gleitstrecke nutzen, um endlich meine Ausrüstung in Ordnung zu bringen. Über Bludenz finde ich genügend Zeit, meine Handschuhe aus- und wieder anzuziehen, den Anorak zu schließen, die Socken über die Hosenrohre zu stülpen und ein paar Fotos zu machen. Durch heftige Turnbewegungen im Gurtzeug gelingt es mir auch, die Druckstellen von Wasserflasche und Wanderstöcken im Rücken zu mildern und mir mehr Sitzfläche zu erobern.

 

 

Am Ziel meiner Träume

Ich komme knapp oberhalb der Nonnenalpe auf dem Bergrücken des Rätikons an. Hatte ich mir nicht vor wenigen Stunden gewünscht, hier einmal zu landen? Das Vario piepst und gibt mir zu verstehen, dass dies jetzt kein Thema ist. Erst geht’s hinauf zum Felsmassiv des Zwölferkopfes!

Glückselig drehe ich meine Kreise und schaue auf meine Heimatberge hinab. Jedes Detail möchte ich aufsaugen und speichern. Wie lieblich die mit Almwiesen überzogene Südseite des Kännerberges ist! Von zu Hause aus bekomme ich nur die schrundige Nordseite zu Gesicht. Alt und furchterregend starrt sie mich täglich an, von tiefen Furchen und Felsrippen durchzogen, voller Steinschlagrinnen, in denen nicht einmal Gebüsch überlebt. Ein Lawinenstrich reiht sich neben den anderen, schmutzige Schleifspuren hinterlassend. Jetzt, im Frühling reichen die braunen Schleppen bis weit in die darunterliegenden Weideflächen hinein.

Ich wechsle auf die freundlichere Südseite und glaube mich in eine anderen Jahreszeit versetzt. Die Wiesenflanken sind fast vollständig aper. An flachen Stellen, wo die Gämsen gerne rasten, leuchtet das Gras dank der Düngung saftig grün.

Tief unter mir liegt die Sarotlahütte am Fuß der Zimba. Aus einem Seitental hat sich eine riesige Lawine auf sie zugewälzt. Kompakt, wie der Körper eines Gletschers ruht die eisige Zunge in dem braunen Tal. Unter den Felsengipfeln des Kessels klebt der schmale Rest eines Schneebandes. Es endet abrupt an einer messerscharfen Kante. Die Höhe des Anrisses schätze ich auf mehrere Meter. Die Ausmaße des abgegangenen Schneebrettes sind gewaltig.

 

Vor lauter Schauen habe ich die Thermik verloren. Ich fliege nun direkt auf den Zwölferkopf zu. Sein Gipfelkreuz steht auf der vordersten Kuppe einer immensen Felsscheibe. Ein ebener Wiesenstreifen bedeckt den schmalen Grat zwischen Süd- und Nordwand. Bei der Vorstellung, aufrecht über dieses grüne Band auf das Kreuz zuzugehen, schaudert mir. Selbst beim Überflug wird mir angesichts der Felswände mulmig. Geriete ich hier in Schwierigkeiten und bräuchte den Rettungsschirm, würde mich wohl nie jemand finden (Markus glaubt wahrscheinlich, ich sei noch immer am Wandern).

Wie zur Bestätigung meiner Angst bockt der Schirm und ich versuche den notwendigen Respektabstand zu den Felsen zu wahren. Dadurch kreise ich jedoch am Rand der Thermik und komme nur mühsam über den Zwölferkopf hinaus.

 

Dahinter liegt der Schafgufel. Ein völlig unspektakulärer Berg, wie der Name schon sagt. Doch jeden Winter türmt der Wind aus Schneekristallen eine elegant geschwungene Wechte auf seinen Rücken und setzt diesem unscheinbaren Wiesenbuckel ein glitzerndes Diadem aufs Haupt.

 

Wenn unter der kräftigen Frühjahrssonne die Schneedecke ringsum schwindet, leistet die Wechte noch lange Widerstand. In knapp fünfzig Metern Abstand fliege ich jetzt diesem Kamm entlang, der sich wie ein weißer Aal auf dem braunen Untergrund windet. Ich gleite über die Miniaturausgabe des berühmten Biancogrates hinweg und bin wieder auf der Nordseite des Gebirges.

 

Hier breitet sich eine fast geschlossene Schneedecke aus. Einzig exponierte Felskuppen schmolzen sich Gucklöcher hinein. Die Oberfläche des Schnees ist unter der Sonne gealtert. Die einst makellose weiße Haut ist bucklig als leide sie unter Cellulitis. In den Runsen und Falten sammelt sich vom Schmelzwasser abgelagerter Schmutz. Roter Saharastaub zeichnet mit dünnen Federstrichen die Fließrichtung nach und schmückt die Landschaft mit einem überdimensionalen Henna-Tatoo. Fasziniert gleite ich über das Gemälde dahin. Es ist mir egal, dass das Vario schweigt. Ich will nur schauen, bin regelrecht Augen-süchtig.

Den nächsten Bergrücken quere ich am Gavalinajoch neben dem kleinen Valkastiel und fliege weiter, bis ich die Abhänge der Vandanser Steinwand unter mir habe. Jetzt wäre ein bisschen Thermik angebracht. Aber das Vario ist verstummt.

 

 

Landeversuch(ung)

Ich sinke über den Gavalinakopf zur gleichnamigen Alpe hinab und frage mich nach dem nächsten Ziel. Zur Antwort meldet sich meine volle Blase. Das hastig im Henslerstüble getrunkene Bier drängt. Ich hatte mir ja nicht einmal Zeit für das typische Angstbiseln vor dem Start genommen.

Will ich wirklich landen?

Abgesehen davon, dass ich vom Vario schon lange kein positives Signal mehr vernommen habe, lässt mir der Blasendruck eigentlich keine Wahl. Es ist wie verhext. Einmal bewusst wahrgenommen scheint sich der Drang unmittelbar zu erhöhen und duldet keinen Aufschub.

 

Also gut, ich werde landen. Anstelle der Wanderstöcke hat nun die Blase das Kommando übernommen. Ich fühle mich fremdgesteuert.

Aber wenn ich schon unfreiwillig landen muss, so soll wenigstens das WO meine Entscheidung sein! Hatte ich nicht geträumt, einen Zwischenstopp auf der Nonnenalpe einzulegen? Eben.

 

Der Entschluss ist gefasst, leider etwas zu spät, mir fehlt jetzt wahrscheinlich die nötige Höhe. Ich krebse das Bergmassiv entlang und habe das Gefühl dem Gegenwind schutzlos ausgeliefert zu sein. Ich schwanke zwischen: das geht sich nie / das geht sich knapp aus. Gefühlsmäßig befinde ich mich in einem einzigen langen Endanflug auf die Nonnenalpe.

Das Gefühl täuscht nicht. Ich habe keinen Höhenmeter zuviel oder zuwenig. Ohne eine einzige Kurve zu fliegen, werde ich direkt neben dem Alpgebäude aufsetzen. Zu meiner Linken steilt sich ein kleiner Wiesenhang auf, den ich später zum Starten benutzen kann.

Alles passt perfekt. Ich richte mich im Gurtzeug auf.

 

Dann passiert es.

 

Der Schirm wird von unsichtbarer Hand aufgehalten, ich pendle nach vor, muss die Bremsen widerwillig freigeben. Ich brauche mehr Fahrt, aber ich stehe wie eine Boje in der Luft. Es reißt mich zur Seite, ich stabilisiere die Kappe und habe das Gefühl rückwärts abgedrängt zu werden.

Was ist denn hier los?!

Es fühlt sich an wie ein Lee.

Wahrscheinlich bin ich im Lee.

 

Die Nonnenalpe ist ein langgezogenes Wiesenband auf einem Bergrücken, beidseitig von Bäumen eingefasst. Die Wiese verengt sich unterhalb der Alpe zu einem Schlauch und weist dort nur mehr wenig Gefälle auf.

Wenn ich hier jemals wieder wegkommen will, muss ich jetzt eine der Baumreihen überwinden. Auf eine freiwillige Landung verzichte ich gerne, denn dann würde ich dasselbe Spiel ein zweites Mal mitmachen müssen. Ich habe nicht nur die Blase voll, sondern auch die sprichwörtliche Hose.

 

Angst schärft meine Sinne. Ich versuche auf jedes Signal meines Schirmes zu reagieren. Ein Klapper so knapp überm Boden wäre fatal. Ich denke mit Grausen an die Spitzen der Wanderstöcke in meinem Airbag.

 

Thermik und Gegenwind, vermischt mit Leeturbulenzen halten mich eine gefühlte Ewigkeit bei der Nonnenalpe gefangen. Ich lasse mich etwas nach rechts versetzen, denn dort habe ich eine Lücke zwischen den hohen Tannen entdeckt. Dahinter gähnt der Abbruch eines wilden Felssturzes und ich erwarte dort wegen der aufsteigenden Thermik noch mehr Turbulenzen. Dafür hätte ich sofort ein großes Luftpolster unter mir.

Tapfer arbeite ich mich gegen den Wind auf die Kante zu und biege dann seitlich zum Wind über die Baumreihe hinweg ab. Kurz fühlt sich der Schirm an, als wäre er im Sackflug und ich halte vor Angst den Atem an. Dann aber nimmt er Fahrt auf und ich entferne mich rasch vom Hang.

Heimkehr

Seltsamer Flug. Alle heute angepeilten Landeplätze blieben mir verwehrt. Ich bin gespannt, ob ich in Rungelin bei der Zimmerei Neyer auf den Boden komme.

Noch einmal quere ich den Walgau.

Die Wiese hinter der Zimmerei ist die einzige hindernisfreie Fläche und schmiegt sich an den Ausläufer des Bergrückens von Gasünd. Dort steht allerdings der starke Talwind an und hält mich konstant hoch in der Luft. Ich lege beide Ohren an (dabei werden beim Schirm die äußeren Enden eingeklappt) und trete das Speedsystem durch.

Sinkalarm ertönt. Endlich.

Kurz über Grund, als ich die Ohren freigeben muss, steige ich wieder weg: Jo-Jo-Effekt. Meine Blase warnt, dass dieses Auf und Ab fatal enden könnte.

 

Auf der Suche nach einer Alternative entdecke ich einen Wiesenhang ganz in der Nähe meines Wohnhauses. Zwei Minuten später setze ich dort sanft auf. Das hohe Gras würde mir sogar den nötigen Sichtschutz gewähren, doch vor lauter Erleichterung und Freude über die geglückte Heimkehr vergesse ich völlig, was mich derart zur Landung gedrängt hat.

Als erstes krame ich nämlich zwischen den Wanderstöcken, Daunenjacke und Wasser-flasche mein Handy hervor und berichte Markus von dem unglaublichen Flug.

 

„Ich dachte, du wolltest wandern gehen?“, fragt er erstaunt und will wissen, aus welchem Grund ich mich anders entschieden habe. Denn das Wetter sähe überhaupt nicht nach Thermik aus.

Ich gestehe, dass ich mein Einfluss auf das Geschehen heute ziemlich bescheiden war. Ohne die gespeicherte Flugaufzeichnung am Vario, wäre ich sogar versucht, das Ganze als Wunschtraum zu interpretieren.

Ich blicke nochmals zu den Heimatbergen hinüber und kann mein Glück kaum fassen. Während ich über den wundersamen Streckenflug nachsinne, meldet sich die Blase wieder und rät mir dringend: „Grüble nicht so viel, sondern lass den Dingen ihren freien Lauf …“