Premieren
Es ist der erste brauchbare Flugtag am Golm.
Und, von den Föhntagen abgesehen, auch der erste Tag ohne Wolken (Meteorologen und Statistiker mögen widersprechen, aber ich kann mich jedenfalls an keinen erinnern). In den vergangenen 6 Wochen wurde ja schon ein niederschlagsfreier Tag wie eine Sensation gefeiert. Und jetzt das: subtropische Luftmassen trocknen alles weg, was das Blau trüben könnte. Sie sorgen nicht nur für einen sensationellen Fernblick, sondern auch für einen Hitzerekord. Auf dieses erstmalige Überschreiten der 30° Schwelle hätte ich allerdings gerne verzichtet.
Ungeübt (weil – heute geschieht offenbar alles zum ersten Mal) kommt mir der Gleitschirmrucksack deutlich schwerer vor als letztes Jahr. In der morgendlichen (!) Hitze quäle ich mich zum Startplatz hinauf, vorbei an letzten Schneefeldern, die wie Requisiten eines falschen Films anmuten. Ich bewege mich derart langsam, dass ich das Gefühl nicht loswerde, der Schnee wäre mit seiner Schmelze schneller. Jedenfalls rinnt uns beiden das Wasser in Strömen.
Und tatsächlich: als ich Schweiß triefend oben ankomme und mir nichts sehnlicher wünsche, als mich mit einer Handvoll Schnee abzureiben, ist kein eisiges Weiß mehr vorhanden. Nicht einmal ein bräunlicher Rest.
Eine mitfühlende Seele überlässt mir seinen Wassersack für eine Dusche, bevor ich mich umziehe. Ich kann es ja nicht den Männern gleichtun und mit blankem Oberkörper in der Sonne trocknen. Und falls jetzt jemand einhakt: Wollen tät ich schon, aber mein Ruf ist bereits angeschlagen. Beispielsweise reicht mir niemand mehr die Hand zur Begrüßung, weil ich in einem Hummeltext beschrieben hatte, dass mir graust, wenn ich darüber nachdenke, was diese Hand kurz zuvor gemacht haben könnte. Schnäutzen und Schweiß abwischen waren die harmloseren Tätigkeiten, die mir einfielen. Jetzt bin ich von dieser sozialen Pflicht des Begrüßungsrituals befreit. Vielleicht könnte man Nasenstubsen einführen, oder mit erhobenen Varios anstoßen?
Armin macht blau
Zurück zum Fluggeschehen: Es fehlen heute nicht nur die Wolken, sondern auch der Armin. Wie sollen wir nun erkennen, ob uns die Thermik bereits tragen würde? Mein Bauchgefühl sagt Ja, aber die Uhr zeigt erst kurz vor zehn. Linus’ Bauch stimmt mit meinem überein. Thomas’ eigentlich auch. Im Prinzip sind wir uns alle bäuchlings einig: Nur wer wagt sich als Dummy hinaus?
Wir ziehen uns gemächlich an, obwohl der Aufwind immer kräftiger wird. Thomas warnt vor dem typischen „Golm 2-Phasen-Phänomen“. Er beschreibt es sinngemäß so: „Zuerst geht’s super, dann kommt eine Flaute, danach wird’s wieder besser, bevor es zu spät ist.“
Linus und sein Kollege erwischen Phase 1. Sie steigen gleich nach dem Start sanft in den makellos blauen Himmel, in dem üblicherweise bereits der Armin schweben und die Basishöhe markieren würde.
Ich will es Linus gleichtun, stehe fix und fertig eingehängt vor dem Schirm, als mir der kräftige Aufwind Gräsersamen in die Augen bläst. Verdammt. Ich habe die Sonnenbrille vergessen. Sie ruht irgendwo im Gurtzeug.
Bis ich wieder startklar bin, sind Thomas und Robert in der Luft. Der Wind hat nachgelassen, die beiden kämpfen um jeden Meter. Ist das die berüchtigte Flaute? Gerne würde ich ihr Ende abwarten, aber wie? Mit Überhose, Daunenjacke, Gesichtsmaske und dicken Handschuhen in der prallen Sonne auszuharren ist unmöglich. Also muss ich raus und ins sprichwörtlich Blaue hinein!
Einige bange Minuten lang krebse ich unterhalb des Startplatzes hin und her.
„Keine Panik“, versuche ich mir selbst gut zuzureden, während in mir Alarmsirenen aufheulen.
„Abgesoffen!“, kreischen sie, als wäre es bereits geschehen.
Ich habe Mühe das zarte Piepsen des Varios zu hören, das darin unterzugehen droht. Es kündigt hoffentlich Phase 2 an! Mit höchster Konzentration ziehe ich meine Kreise und als ich endlich den Startplatz unter mir sehe, beruhigt sich auch mein Puls. Ich schließe zu Robert auf und genieße das gemeinsame Fliegen. Er hält großen Abstand zu mir, passt sich augenblicklich an meine Drehbewegungen an und mich beschleicht der Verdacht, dass er das nur mir zuliebe macht. Habe ich in einem Hummeltext über nervige „Dagegendreher“ gewettert, oder mich beschwert, dass man mir zu nahe kam? Welches Bild zeichne ich eigentlich von mir in aller Öffentlichkeit? Das einer Hummel mit vielen Stacheln?
Egal. Jetzt herrscht im Himmel überm Golm Eintracht und Friede. Selbst die Thermik ist sanft. Bei zwei Metern Steigen pro Sekunde blicke ich überrascht aufs Vario und wundere mich über die neuen Töne. Ein Hammertag fühlt sich anders an. Die Prognosen ließen große Hoffnungen entstehen, denn gute Steigwerte und eine Basis von 4.000 Metern waren prophezeit worden.
Robert und ich stehen bei 2.500 Metern Höhe an. Aber Thomas beweist, dass es ein Stockwerk höher geht und wir folgen ihm zum Kreuzjoch.
Wunderwelt
Die Schönheit der Bergkulisse überwältigt mich jedes Jahr aufs Neue. Ich kann mich weder an der Sulzfluh, die wie eine schlafende Schönheit unter einer Schneedecke ruht und nur das Felsköpfchen zeigt, noch an der Dreiergruppe der Türme mit der glatt polierten Sporaplatte satt sehen. Auch die Nordflanke der Drusenfluh versetzt mich immer wieder in ehrfürchtiges Staunen. Verschiedene Gesteinsmassen, rote, hellgraue und fast schwarze Schichten sind von Riesenkräften zusammengeknetet worden. Die daraus entstandene bunte gescheckte Formation ist selbst um diese Jahreszeit noch mit Schneewülsten bedeckt. Weiter nach Westen rücken die Kirchlispitzen in mein Blickfeld: aperer trockener Fels, in Gestalt einer zur Hälfte in Alpweiden versunkenen Steinscheibe. Ich verfolge den Flug eines Gleitschirmes, der übers Schweizertor auf die Südseite der Kirchlispitzen wechselt. Mit konstantem Höhenverlust sinkt er an den Felswänden vorbei, die anscheinend nichts von der eben erst getankten Sonnenwärme abgeben wollen.
„Nein“, denke ich mitleidig, „das erspare ich mir.“
Dabei stecke ich seit meiner unfreiwilligen Landung in der Schweiz stets den Reisepass ein.
Gleich nach dem ersten Höhengewinn über die Grenze zu wechseln hat etwas mit Eile zu tun. Um ein 200 Kilometer-Dreieck zu fliegen benötigt man Zeit. Zeit, die man nicht am Kreuzjoch vertrödeln kann, indem man die Aussicht genießt.
Mein Warten hat sich gelohnt: eine etwas stärkere Thermikblase überwindet die Inversion und trägt mich über 2.900 Meter hinauf. Mit jedem Kreis ändert sich meine Perspektive und zu Füßen der Schesaplana wächst der Lünersee aus einer kleinen grünblauen Fläche, als würde er die Landschaft eben erst fluten und sich die Farbe der Almwiesen mit der des Himmels im Wasser vermischen.
Einen Halbkreis später bleibt mein Blick an Thomas hängen, der dabei ist die Drei Türme zu überfliegen. Wie ferngesteuert folge ich ihm. Sein Schirm verschwindet jedoch alsbald hinter den Gipfeln und taucht nicht wieder auf. Ich parke mich über dem Grat zur Gaisspitze und ziehe Wartekreise. Auch Robert scheut offenbar das Risiko und gesellt sich zu mir.
Mächtige Türme und die kleine Rochade
Thomas’ Abenteuer auf der Schweizer Seite währt nicht lange. Zwischen dem großen Turm und der Drusenfluh gibt es einen tiefen Einschnitt. Diese schattige Kluft bot früher einem kleinen Gletscher Zuflucht, was ihm den Namen Eisjöchle einbrachte. Jetzt liegt dort nur mehr ein vereistes Schneefeld, das den Sommer überdauert. Direkt am Grat des Eisjöchles stehen zwei spitze Felstürme Spalier, als bewachten sie den Eingang. Von meiner hohen Warte aus betrachtet, habe ich den Eindruck, sie würden Thomas Schirm nur knapp vorbeilassen. Vielleicht ist es bloß eine optische Täuschung, aber es sieht spektakulär aus, wie Thomas sich durch diese Felsschlucht wieder ins Ländle rettet.
Das reizt mich zur Nachahmung. Mir ist bewusst, dass ich mit meinem Schirm nicht über die Gipfel kommen kann, aber in deren Nähe will ich sein. Für den Anblick der Sporaplatte zu meinen Füßen bin ich bereit viel Höhe zu opfern. Mein Herz pocht heftig während ich auf diese riesige Kalkfläche zuschwebe. Bis auf ein paar kleine Reste ist aller Schnee abgerutscht und der Fels erscheint nackt und schutzlos. Die hellgraue Oberfläche ist von Längsrillen durchzogen, Spuren kleiner Rinnsale, die sich in den Stein gefressen haben. Einige sind dunkel und feucht, weil sie noch vom Schmelzwasser des großen Turmes gespeist werden. Sie wirken wie Bleistiftsschattierungen auf einer einheitlich grauen Leinwand.
Mein Höhenverlust ist geringer als erwartet und ich kann sogar noch eine Achterschleife hinter dem mittleren Turm ziehen, bevor ich über die Sporaplatte wieder retour fliege. Ich verstehe Markus’ Versuchung, auf dieser schrägen Felsfläche einzulanden. Zum Glück hatte er es nicht probiert. Sie ist viel zu abschüssig und darüber hinaus sind die Ränder der Wasserrillen scharfkantig wie Rasiermesser.
Bald darauf habe ich wieder grüne Farbe unter mir und es kommt mir vor, als wäre ich aus einer Mondwüste auf die Erde zurückgekehrt. Am Wiesengrat zur Gaisspitze bin ich nun alleine. Robert ist Thomas zum Kreuzjoch gefolgt.
Die Thermik ist immer noch schwach und ich brauche lange, um die Höhe wieder zu erreichen, die ich vor dem Abstecher zur Sporaplatte hatte. Genug Zeit, um die anderen Piloten zu beobachten. Überm Golmstartplatz sind nur mehr wenige Schirme zu sehen, die meisten dümpeln auf der Schweizer Seite der Berge herum. Ein paar hängen an der Schesaplana fest, allerdings weit unterm Gipfel, andere sind ins Vorland ausgewichen und polieren die Wiesenhänge an unscheinbaren Hügeln. Ob sie ihr Flüge wohl wie geplant vollenden werden können?
Mich hat am Startplatz nur einer nach dem heutigen Ziel gefragt. Auf meine Antwort reagierte er verwundert. Von diesem Schafgufel, auf dem noch eine Schneewechte liegen soll, hatte er noch nie gehört. Ich sehe diesen Berg tagtäglich. Er ist nichts Besonderes. Weder in seiner Form noch in seiner Position. Ein langgezogener Wiesengrat, der nach Osten zu in einer Felswand abbricht, zwischen dem Zwölferkopf und dem Gottvater gelegen. Doch im Winter türmt ihm der Westwind eine Schneekrone aufs Haupt. Eine wunderschön gebogene, mitunter weit auskragende Wechte, die sich bis ins Frühjahr hinein halten kann. Während ringsum die Schafweide bereits ausgeapert ist, liegt der Rest der Wechte wie ein weißes Diadem auf seinem Grat. Heute früh, im ersten Sonnenlicht erglühte es mit rötlichem Schein.
„Jetzt dort oben stehen!“, wünschte ich mir. Aber dazu hätte ich um Mitternacht losgehen müssen.
„Drüberfliegen“, war der nächste Wunsch. Den könnte ich mir vielleicht erfüllen.
„Schau, da bin ich!“
Es gibt noch einen Grund, weshalb ich heute zum Schafgufel will. So wie andere Piloten im xc-contest wahrgenommen werden wollen, will auch ich gesehen werden. Von Augen, die mich beneiden und die in diesem Moment viel dafür gäben, dasselbe sehen zu dürfen.
Dazu eine Vorgeschichte:
Als ich anfing zu fliegen, war meine Mutter begeistert. Sie, die an jedem Sonnentag in den Bergen unterwegs ist, hatte einen neuen Blickfang. Plötzlich waren Wolken nicht mehr lästig, sondern Cumuli, die ihre Tochter dem Himmel näher bringen konnten. Sie hielt ständig Ausschau nach mir und brachte von jeder Tour vermeintliche Sichtungen mit.
„Ich hab dich gesehen!“, sagte sie überzeugt und erzählte von Drachen über diesem oder jenem Berg.
„Mama ich war im Büro“, widersprach ich genervt. Den ganzen Tag lang hatte ich gelitten und mir versucht einzureden, dass alle mein Schicksal teilen mussten. Bei der Heimfahrt hatte ich nicht aus dem Zugfenster geblickt, ich wollte nichts von irgendwelchen hohen Wolken oder anderen Piloten wissen.
Es war damals prinzipiell möglich sich abzuschotten, zwischen Büro und Wohnung Scheuklappen zu tragen und in der Illusion zu Bett zugehen, dass man nichts versäumt hatte. Bis zum nächsten Treffen am Startplatz wusste man nicht, wer wo wie weit geflogen war. Und bis dahin hatte man den größten Schmerz verdaut.
Nicht so bei mir. Ich erfuhr stets brühwarm, dass es „super gegangen“ sein musste. Mama kannte kein Pardon. Über Jahre hinweg quälte sie mich. Sie war die fleischgewordene Vorwegnahme des online-contest. Das Internet lässt sich vermeiden, eine mit Erwartungen und Bildern vollgestopfte Mama nicht. Wir wohnen im selben Haus.
Als sie draufkam, dass ich mich an Schönwettertagen abends an ihr vorbei schlich, wurde sie vorsichtiger.
„Warst du heute fliegen?“, fragte sie, bevor sie mir erzählte, über welchem Gipfel sie mich entdeckt zu haben glaubte.
„Ich bin in Schnifis abgesoffen!“
„Wieso?“, hakte sie mitleidlos nach und streute Salz in meine Wunden: „Die, die ich gesehen habe, waren alle extrem hoch!“
Irgendwann aber merkte sie, dass solche Meldungen meiner Laune nicht dienlich waren und sie begann mich auszuhorchen. Mit: „Warst du heute lange in der Luft?“, tastete sie meine Belastbarkeit ab, bevor sie mir hineindrückte, in welch „irrer“ Höhe sie Massen von Gleitschirmen und Drachen erspäht hatte.
Sie konnte es nicht fassen, dass ich nie unter ihnen war. Ich auch nicht.
Im Laufe meiner 25 jährigen Fliegerei drehte sich der Spieß um. Da ich meistens wusste, wo sie gerade in den Bergen herumkraxelte, fragte ich sie nach einem gelungenem Flug über dieser Gegend: „Und, hast du mich endlich einmal gesehen?“
„Nein“, antwortete sie überrascht, „ich dachte, du seist im Büro!“
Meine Mutter ist auf all diesen Gipfel gestanden und malte sich aus, wie es sein müsste, diese nun aus der Vogelperspektive betrachten zu können. Schwerelos über die Erinnerungen dahinzugleiten, mühelos von einem Berg zum nächsten, was früher zu Fuß eine gefährliche Überschreitung war. „Grüß mir die Zimba“, sagte sie, wenn ich zum Fliegen aufbrach und seufzte: „Kannst mich nicht mitnehmen?“
Heute wollte sie mit dem Rad nach Bürserberg fahren und zur Sarotlahütte aufsteigen. „Vielleicht noch ein Stückchen höher hinauf“, sagte sie. Mit 79 Jahren wusste sie nicht mehr sicher, wie weit sie ihre Füße tragen mochten.
Ich stellte mir vor, wie sie mittags Rast machen, sich auf den Rücken legen und in den Himmel schauen würde. Wie sie ihren Blick von der Brandner Mittagsspitze über die Zimba zum Gottvater und weiter zum 12er-Kopf schweifen ließe – und dann: mich über dem Schafgufel entdeckte!
Das ist mein Ziel.
Wird es klappen?
Noch bin ich weit davon entfernt. Die Thermik scheint eher nachzulassen, anstatt aufzufrischen. Einzig Thomas hat überm Kreuzjoch wieder kräftig Höhe dazu gewonnen und mit Entsetzen beobachte ich, wie er schnurstracks zur Zimba fliegt.
„He, das ist heute meine Bühne!“, möchte ich ihm nachrufen. Womöglich sieht meine Mutter ihn und hebt danach den Blick nicht mehr, wenn ich auftauche. Der Gebirgsstock rund um die Zimba wird nur selten beflogen. Thermisch ist dort nicht viel zu holen und für die Geometrieflüge sind diese Berge uninteressant. Wenn Mama einen Schirm sieht, dann wird sie überzeugt sein, mich vor Augen zu haben.
Ich fliege mit höchster Konzentration um das Letzte aus dem Bart herauszuholen. Endlich springt die Tausenderstelle auf der Höhenanzeige des Varios von 2 auf 3. Eine gute Ausgangsposition um sich in die Schweiz zu wagen. Ein Direktflug zur Zimba ginge sich mit meinem Schirm nicht aus, daher wähle ich die sichere Variante über die Südwände der Kirchlispitzen. Aber was ist schon sicher?
Meine Schweiz-Phobie erweist sich als begründet. Nichts gibt es jenseits der Grenze zu holen. Die Eidgenossen sperren sogar die Thermik weg, wenn man unangemeldet in ihr Staatsgebiet eindringt. Wahrscheinlich müsste man ein paar Franken in die Luft werfen, um einen kleinen Heber zu erhalten.
Mir reicht’s – ich drehe wieder nach Vorarlberg ab. Doch auch hier herrscht Flaute. Mein Gedächtnis kramt bereits die Fahrpläne vom Rellstalbus hervor. Aber vor mir erstrecken sich die langen Wiesenflanken des Rossberges, die zumindest einen Nullschieber versprechen. Denkste! Ich saufe daran vorbei und habe jetzt nur mehr eine Option: der kurze Grat bis zum Freschluakopf, dem letzten Berg vor dem Rellstal.
Mein Vario schlägt an und ich achtere behutsam vor dem steilen Hang hin und her, bis ich endlich einen Kreis fliegen kann und überm Grat bin. Fünfzig Meter Höhe reichen mir aus und ich lasse mich mit dem Ostwind über die Alpe Lün zum Schafgafall versetzen. Von seinem Gipfel winken Wanderer zu mir herab.
Über dem untersten Felsabsatz grabe ich einen zerrissenen Bart aus, der es nicht zulässt, dass ich zurückwinke, als ich an den Wanderern vorbei nach oben steige. Und danach bin ich zu hoch, als dass sie meine Fuchtlerei noch erkennen könnten.
Geschafft!
Das Vario zeigt wieder über 3000 Meter an und ich krame den Fotoapparat hervor. Der Lünersee liegt wie eine flaschengrüne Glasscherbe unter mir. Die eigenartige Farbe raubt dem Wasser die Transparenz einer Flüssigkeit und lässt die Spiegelbilder der Berge wie aufgedruckte Etiketten erscheinen. Ich knipse die Schesaplana und stelle beruhigt fest, dass sich kein Gleitschirm über ihrem Gipfel befindet. Es ist heute ein zäher Tag, aber ich habe mein Ziel fast erreicht.
Mama, ich komme!
Zuversichtlich fliege ich zum Saulakopf, der mich mit schöner Thermik empfängt und dann setze ich zur Brandner Mittagspitze über. Von da an muss ich nur mehr dem Grat zur Zimba folgen. Es ist kurz vor 12 Uhr Mittags und meine Mutter sollte bereits auf der Sarotlahütte eingetroffen sein.
Jetzt geht es darum, ihren Blick auf mich zu ziehen. Rufen ist sinnlos, also konzentriere ich mich gedanklich und emotional auf ihre Person. Kurz bevor ich die Zimba überfliege, sehe ich zum ersten Mal zur Hütte hinab. Unwillkürlich brülle ich wie ein kleines Kind, das auf sich aufmerksam will: „Mama, schau her, hier bin ich!“.
Gleichzeitig muss ich lachen. Wie alt bin ich eigentlich?
Vielleicht bilde ich mir das nur ein, aber plötzlich spüre ich eine Gewissheit: Meine Mutter hat mich entdeckt! Es besteht eine Verbindung zwischen mir und der Frau da unten. Ab diesem Zeitpunkt fliege ich nur mehr für sie. Ich stelle mir vor, wie sie durch meine Augen auf das Gipfelkreuz der Zimba blickt, ich höre ihre Stimme, die mich bittet, noch einen Kreis beim Gottvater zu drehen und all die Berge von ihr zu grüßen. Bei jedem Gipfel nehme ich mir Zeit, immer im Bewusstsein von Mama beobachtet zu werden. Vor mir liegt nun der Schafgufel, mit den zusammengeschmolzenen Resten der einst imposanten Wechte. Der verbliebene Schneewust auf seinem Wiesengrat sieht aus, als hätte ein Riese Zahnpaste darauf gedrückt. Jetzt bin ich genau an der Stelle, wohin ich mich frühmorgens voller Sehnsucht gewünscht hatte.
Eigentlich könnte ich umkehren. Aber da vibriert mein Handy im Gurtzeug.
„Ja Mama“, sage ich Gedanken, „natürlich fliege ich noch bis zum Zwölferkopf vor.“
Danach verabschiede ich mich mit einem letzten Kreis beim Valkastiel und peile den Golm an. Tief unter mir sehe ich zwei Gleitschirme, die sich durchs Rellstal nach Vandans retten. Dort stehen sie im Talwind und scheinen beinah rückwärts zu fliegen.
Das gefällt mir nicht. Ich hoffe, bei der Golmer Mittelstation einlanden zu können. Doch als ich dort eintreffe, spüre ich, wie mich der Talwind von hinten packt und mich regelrecht über den Golmerrücken ins Gauertal schiebt. Soll mir recht sein. Im vorderen Gauertal bin ich schon öfters gelandet. Es ist dort weder so turbulent noch so heiß wie in Vandans.
Kurz darauf setze ich auf einem gemähten Streifen inmitten einer herrlich duftenden Heuwiese auf. Während ich mich aus der Daunenjacke und der Überhose schäle, lasse ich mir den Mobilboxinhalt über Lautsprecher von meinem Handy vorspielen.
Die Nachricht von 12:00 Uhr lautet: „Ich seh dich! Ein Schirm ist über der Zimba: Grün und weiß mit einem orangen Streifen. Das kannst nur du sein! Und so hoch. Ich flieg in Gedanken mit dir mit…“