(Spionageflug ohne Auftrag)
Freitagmorgen. Wie an jedem Arbeitstag stehe ich um 5:20 Uhr auf, stelle mich ohne das Licht einzuschalten vors Fenster und versuche das Wetter zu erahnen. Heute ist es draußen dunkel, ein schlechtes Omen. Am Himmel zeichnen sich keine Konturen ab, es könnte Hochnebel haben oder eine geschlossene Wolkendecke. Es fehlt sogar der typische Scherenschnitt des Rätikongebirges, der sich ansonsten schwarz gegen den Himmel abhebt. Der Blick aus einem anderen Fenster ist noch trostloser: nasser Asphalt spiegelt den Schein der Straßenlaterne. Es nieselt.
Beim Frühstück klicke ich mich durch die Wetterberichte. Sie halten unbeirrt an ihrer gestrigen Prognose fest: Bereits am Vormittag sollte sich die Sonne durchsetzen. Die Thermikvorhersage ist hingegen bescheiden und variiert zwischen kaum und schwach. Das wundert mich nicht, alles ist tropfnass, es hatte gestern wie aus Kübeln gegossen und die Schneegrenze war wieder mitten in die Wälder hinabgerutscht.
Kurzbesuch im Büro
Gleich nach der Ankunft im Büro schreibe ich auf unsere Planungstafel neben meinen Namen: Ab 10:15 Uhr Zeitausgleich.
„Du willst bei dem Wetter fliegen gehen?“, wundert sich mein Chef und beugt sich demonstrativ zum Fenster. Über Feldkirch hängen graue, schwere Wolken.
„Ich will nicht arbeiten“, müsste ich ehrlicherweise antworten, aber sportliche Aktivitäten klingen deutlich besser. „Die Sonne wird sich bald durchsetzen“, sage ich daher mit gespieltem Optimismus.
Auf dem Weg zum Bahnhof kommen mir ernsthafte Zweifel. Es sieht nicht nach Flugwetter aus. Die Berge sind vollständig in Wolken gehüllt, Nebelbänke wabern an den Hängen und in der Mitte der Täler, wo sich ein bisschen blauer Himmel zeigte, ziehen Fetzen ausgefransten Cumuluswolken vor die Sonne. Lohnt es sich für so einen Tag die mühsam erarbeiteten Überstunden zu opfern?
Aus Unmut wird Ungeduld
In Schlins wechsle ich vom Zug aufs Postauto. Bei der Haltestelle ergibt sich erstmals Sicht auf den Walserkamm. Die Wolken reichen bis unter den Startplatz hinab, nur eine kleine Lücke tut sich beim Hensler auf. Von dort lösen sich bunte Schirme vom Wiesengrün und steuern durch den Wolkentunnel hinaus.
Das würde ich jetzt auch gerne, denke ich, als just in dem Moment das Telefon läutet.
„Wo bist du denn?“, fragt Markus, „Jetzt wäre es grad super!“
Die Gedankenübertragung mit meinem Mann funktioniert tadellos, was den ersten Impuls betrifft. Für nachfolgende Informationen brauchen wir leider immer noch die Technik.
„In Schlins“, antworte ich verärgert, „muss auf den blöden Bus warten.“
Vor einer Viertelstunde hielt ich es noch für idiotisch, überhaupt fliegen zu gehen. Nun nervt mich jede Minute, die ich an der Haltestelle vergeude, während ich am liebsten bei Markus oben am Startplatz stünde. Ich will da hinauf um mit den Wolken zu spielen! Und der beste Zeitpunkt dafür ist, wenn die Wolkenbasis ungefähr auf Startplatzhöhe liegt. Also jetzt.
Der Bus kommt. Der Busfahrer ist freundlich und hilfsbereit. Ich hasse ihn. Er hilft schwer beladenen Hausfrauen beim Ein- und Aussteigen, hievt Kinderwägen raus und rein, trägt heruntergefallene Windelpackungen hinterher, statt auf die Tube zu drücken und mich schnellstmöglich zur Flugschule zu bringen.
Geduld ist nicht meine Stärke, das gebe ich zu. In Schnifis steige ich sogar eine Haltestelle früher aus, als ich den alten Mann mit Rollator dort warten sehe, und renne zur Flugschule. In Windeseile ziehe ich mich um und hetze mit dem Schirm am Rücken zur Seilbahn. Ich überhole mindestens zwei Gondelladungen von Piloten, die soeben ihre Ausrüstung aus einem Kleinbus laden. Sie waren eine Spur zu langsam und ich konnte mich vordrängen. Endlich sitze ich mit zwei von Markus’ Flugschülern in der Bahn, doch Toni fischt sich einen wieder raus. Er müsse ihm helfen, etwas aus dem Keller zu holen. Ich atme tief durch. Ein psychologisches Rezept um Geduld zu wahren. Funktioniert das auch, wenn man gar keine besitzt?
Mit Schachteln voller Tiefkühlpommes ruckeln wir schließlich den Hensler hinauf. Die Wolken haben sich zwischenzeitlich gehoben, aber Markus versichert mir am Telefon, dass ich noch nicht zu spät sei.
Im Laufschritt sause ich von der Bergstation zum Startplatz hinab, stolpere, verstauche mir fast den Knöchel, weil ich die Abkürzung über die von Kuhtrampelpfaden durchzogene Wiese nehme anstatt der Straße zu folgen und packe meinen Rucksack gleich vorne am Startplatz aus. „Bin eh gleich weg“, rufe ich dem etwas verdattert dreinblickenden Wolfgang zu, der weiter hinten ausgelegt hat.
Bevor ich starte, werfe ich einen raschen Blick auf die Farben des Schirms, den Markus heute dabei hat, und dann bin ich in der Luft. Erst da fällt mir auf, dass ich Markus weder begrüßt noch mit ihm gesprochen habe. Sogar das Abschiedsbussi vor dem Start hatte ich vor lauter Eile ganz vergessen. Oje. Kein Wunder, dass seine Flugschüler selten mitkriegen, dass wir miteinander verheiratet sind. Und auf die Idee, dass ich die Autorin der Hummelflüge sein könnte, kommt erst recht niemand. Hummeln wirken auf Menschen ruhig und bedächtig. Aggressiv und hektisch werden sie nur unter Bedrohung.
Bei mir reicht zur „Bedrohung“ das Gefühl, ich könnte etwas versäumen – und sei es nur der optimale Startzeitpunkt. Hummelig bin ich erst beim Streckenfliegen. Da bummle ich gemütlich von Gipfel zu Gipfel und hab nach drei Stunden so viele Eindrücke gesammelt, dass ich das Gefühl habe, es reicht. Selbst wenn ich nur 50 Kilometer weit gekommen bin.
Sinnlose Eile
Es war 11:45, als ich so überhastet gestartet bin, und es sieht fast so aus, als wäre ich noch vor Mittag wieder unten. Ich finde keine Thermik, die groß genug für einen Kreis wäre. Es gibt nur hier und da einen kurzen Heber und wenn ich eindrehen möchte, ist das Steigen verschwunden. Die Wolkenbasis klettert zwar stetig höher, aber ohne mich. Da ist es auch kein Trost, dass diejenigen Piloten, die vorhin fast die Wolken berührt hatten, nun ebenfalls auf meiner Höhe herumkrebsen.
„Besser als im Büro zu sitzen“, sage ich mir, aber es stellt sich trotzdem keine Zufriedenheit ein. Soll die ganze Hetzerei umsonst gewesen sein?
„Sieht so aus“, muss ich frustriert feststellen. Die Thermik ist, wenn sie plötzlich auftritt, bockig und gleich wieder vorbei, als würde sie vom Wind augenblicklich zwischen die Bäume gejagt werden. Ich fliege gefährlich nahe über die gebeutelten Wipfel hinweg.
„Ha! Das wäre die Krönung dieses sinnlosen Tages“, denke ich pessimistisch, „jetzt in einer Fichte zu landen und von der Bergrettung heruntergeholt zu werden“.
Ich könnte den Flug auch einfach beenden. Aber dafür habe ich mir nicht frei genommen! Aus Trotz fliege ich weiter. Idiotisch, ich weiß. Aber eine Stunde lang möchte ich durchhalten, um den Flug wenigstens als „Übung“ für schlechte Verhältnisse verbuchen zu können.
Der Westwind nervt und ich kämpfe mich langsam bis zum kleinen Sender am Dünserberg vor. Ich hoffe auf windunterstützte Thermik hinter der Geländekante. Doch kaum bin ich ums Eck gebogen, fühlt es sich wieder an, als wäre ich im Lee. Ständig raschelt der Schirm über mir, klappt das eine oder das andere Ohr ein.
„Der will heute auch nicht“, stelle ich resigniert fest und schaue auf die Uhr. Erst 20 Minuten sind seit dem Start vergangen und ich bin noch keinen Meter höher.
Neue Motivation
Plötzlich ist Markus in der Luft. Er hat als einziger Pilot die Wolke über dem Startplatz erreicht und kurvt um die Schleierfetzen herum, die die dunkle Wolke aus dem feuchten Wald heraussaugt.
Ich verspüre einen Stich in meiner Brust, wie von einer dünnen, langen, heißen Nadel. Das ist purer Neid, gefolgt vom Gedanken: „Ich will auch!“
Es gibt kaum etwas Schöneres, als mit Wolken zu spielen, sich diesen amorphen, sich ständig verändernden Wesen aus Wasser und Licht zu nähern, sie zu riechen, ihre feuchtkalte Berührung zu suchen, blindlings aufzugehen im grellen Weiß, umgeben von einem Regenbogen.
Während ich verbissen um jeden Höhenmeter kämpfe, lasse ich Markus nicht aus den Augen. Scheinbar mühelos fliegt er von Wolke zu Wolke in meine Richtung. Der Bart, den ich am Sender ausgegraben habe, trägt mich zwar höher, ist aber vom Westwind so sehr verblasen, dass ich weit in Richtung Startplatz abgetrieben werde, bevor ich schließlich aus der Thermik falle. Mit Sinkalarm geht’s bergab, während Markus die Wolke überm Gulm erreicht hat und in sie eintaucht. Es ist wie verhext. Wir haben eine Rochade vollzogen ohne uns zu begegnen. Ich arbeite mich gegen den Wind zum kleinen Sender zurück, fange wieder von unten an, aber Markus hat seine Runde beendet und kehrt Richtung Startplatz zurück. Die zweite Rochade in unterschiedlichen Höhenlagen. Wieso ist Markus eigentlich immer oben?
Endlich schlägt das Vario neue Töne an und direkt über mir entsteht eine frische Wolke. Eine kleine, feine Wolke. Es wird meine Wolke! Auf 1.800 Metern Höhe raubt sie mir schließlich die Sicht und ich muss sie leider verlassen. Ich vermute Wolfgang in der Nähe und will keinen Zusammenstoß riskieren. Wolkenspiele machen nur Spaß, wenn man alleine ist.
Markus ist bereits Richtung Ludesch unterwegs. Er wird dort wohl beim Gasthof landen, wo sich die Flugschule zum Mittagessen trifft.
Wieder gibt’s mir einen Stich. Diesmal ist es der Hunger, der sich meldet. Ich möchte Markus folgen, aber dazu brauche ich neuen Höhengewinn. Der Gipfel des Hoch Gerach steckt nach wie vor in den Wolken, aber über der Alpilaalpe steigt Thermik auf. Während ich kreise, beobachte ich Markus am Ludescherberg. Der gesamte Hang liegt im Schatten, eine Wolkenhaube auf dem Fraßen hat eine breite Krempe entwickelt, die die Sonne verdeckt. Markus fliegt vor zum Steinbruch und wieder zurück zum Hang. Ich darf nicht verpassen, auf welchem Feld er landet, wenn ich ihn später treffen will. Aber es ist mühsam, ihn während des Kreisfliegens nicht aus den Augen zu verlieren. Mein Nacken wehrt sich schmerzhaft gegen eulenartige Drehversuche. Von meinem eigenen Flug und der Landschaft unter mir bekomme ich gar nichts mit. Als Markus endlich am Boden steht, habe ich die Basis erreicht und kann auch nach Ludesch fliegen. Mir ist kalt, mein Magen knurrt vor Hunger und außerdem zeigt die Uhr, dass ich bereits über eine Stunde in der Luft bin.
Mission erfüllt
Ich entspanne mich etwas und schaue mich um. Ich bin überrascht zu sehen, wie grandios sich das Wetter entwickelt hat. Malerische Cumuluswolken sitzen auf allen Gipfeln ringsum. Leuchtend weiße Sahnehaufen, die dunkle Schatten auf den Schnee unter ihnen werfen. Die milchigen Schlieren am Himmel und die Nebelfetzen zwischen den Bäumen sind verschwunden, das Blau oben und das Grün unten makellos rein. Ein Bilderbuchtag mit frischen Farben und aufgeräumten Wolken. Wieso blieb mir das bislang verborgen? Wo war ich bloß gewesen?
Überm Ludescherberg angekommen, zögere ich mit der Landung bei Markus. Augenschmaus oder Mittagessen mit der Flugschule? Sollte ich wider Erwarten auf angenehme Thermik stoßen, könnte ich auch weiter nach Bludenz fliegen, zuhause essen und mich im glasgeschützten Wintergarten aufwärmen. Die Luft ist schneidend kalt. Als das Vario zu piepsen beginnt und meinen knurrenden Magen übertönt, denke ich im ersten Moment „schade“, bevor ich mich dann doch entschließe in die Thermik einzukreisen.
Ein anderer Gleitschirmpilot ist mit mir von Schnifis aus hierher geflogen, allerdings mit geringerer Höhe. Nun sucht er vergeblich nach dem Einstieg in meinen Bart und sinkt dabei immer tiefer. Wahrscheinlich wünscht sich dieser Pilot nichts sehnlicher, als an meiner Stelle zu sein, und ich Idiotin denke „schade“, wenn das Vario piepst. Das Leben ist ungerecht.
Thermik verpflichtet
Ich steige, vom Wind versetzt, an der Fraßenhütte vorbei Richtung Muttersberg und peile die Obere Furkla an, die in steilen Felswänden zu meinem Wohnhaus hin abbricht. Meine Höhe würde bereits ausreichen, um dort unterhalb des Felsbandes in der Nachbarswiese zu landen, aber wieder durchkreuzt Thermik mein Vorhaben. Diesmal ist sie so rabiat, dass mir aus Angst gar nichts anderes übrig bleibt, als im Aufwindschlauch zu kreisen um den Turbulenzen der angrenzenden Abwinde zu entgehen. Unter mir schrumpft das Dach meines Hauses zu einem ziegelroten Fleck, während ich überlege, was ich machen soll, wenn mich die Thermik oben ausspucken wird.
Das Variometer kann während des Kreisens einen Windversatz berechnen, weil ich in Wahrheit Ellipsen und keine Kreise fliege. Demnach bläst mich Nordwind mit 15-20 km/h von den Bergen, die ihre Häupter in den Wolken verstecken, weg. Die Basis liegt knapp über 2.000 Metern Höhe und der Weg ins Klostertal über die Gipfel ist mir versperrt.
Ich könnte jedoch mit dem Nordwind im Rücken den Walgau queren. Eine großartige Idee! Wenngleich völlig absurd. Niemals käme ich oberhalb der Nonnenalpe an, eine notwendige Voraussetzung für den Anschluss an die Thermik, die von der Südseite her aufsteigt. Aber das ist mir egal. Mir fällt nämlich Simons Tour ein, von der er schon seit Jahren träumt.
Dazu eine kleine Rückblende:
Paraskiing
Jedes Jahr, wenn sich der Winter in die Berge zurückzieht, schauen wir sehnsüchtig zur Nordseite des Rätikons. Im Ochsental, das sich von der Stieralpe knapp an der Waldgrenze bis hinauf zu den weiten Hängen unterhalb des kleinen und großen Valkastiels erstreckt, liegt noch lange Schnee. Seiner Abgeschiedenheit wegen gibt es im Ochsental keine Schispuren, eine Tatsache, die uns magisch anzieht. Wie könnte man dorthin gelangen? Siebenhundert Höhenmeter weit die Schiausrüstung über eine Forststraße hinauf und wieder hinunter tragen? Keine angenehme Vorstellung. Außerdem lauern unterhalb der Stieralpe gefährliche Lawinenstriche. Simon träumt daher von einer Alternative: Hinfliegen. Mitsamt der Schitourenausrüstung.
Leider gibt es zwei gravierende Probleme bei der Umsetzung seiner Idee:
· Erstens der Schneemangel am südseitig gelegenen Startplatz in Schnifis. Der Versuch mit angeschnallten Schiern in der grünen Wiese abzuheben, wäre bloß für Zuschauer lustig.
· Zweitens ist, so lange am Hensler noch Schnee liegt, die Thermik zu schwach oder die Basis zu niedrig für die lange Talquerung bei Bludenz.
Die Katze beißt sich also in den Schwanz. Schnee und Thermik gleichzeitig gibt es nur in Ausnahmefällen.
Doch heuer schien die Verwirklichung von Simons Traum plötzlich in greifbare Nähe gerückt. Die späten und massiven Schneefälle im April kleisterten den Startplatz mit einem halben Meter Weiß zu. Simon wartete bloß mehr auf die richtige Thermik. Am 23.4.17 glaubte er, der Tag für seine „Gottvatertour“ sei gekommen. Der Namen für sein Vorhaben hat übrigens nichts mit Religion zu tun, vielmehr heißt die schöne Felspyramide, die sich am rechten, hinteren Ende des Ochsentales erhebt, Gottvater. Ochsentour klänge nur halb so abenteuerlich.
An diesem 23. April, einem Sonntag, rief er abends bei Markus an und wollte ihn überreden am nächsten Tag mitzukommen.
„Richte die Schi her“, rief er fröhlich und aufgekratzt.
„Simon“, sagte Markus am Telefon, „der Wetterbericht prognostiziert föhnigen Südwind!“
„Aber gute Thermik“, wand Simon ein, der sich nur ungern mit Widerspruch konfrontiert sieht.
„Du fliegst dort trotzdem ins Lee“, beharrte Markus und setzte nach, „vorausgesetzt, du schaffst überhaupt die Talquerung gegen den Wind.“
Simon wollte das nicht hören. „Du kommst also nicht mit?“, fragte er zum Schluss.
„Sicher nicht.“
Offenbar waren alle von Simon angerufenen Personen derselben Meinung.
Simon blieb am Boden. Nur Christian, einer von Simons treuesten Begleitern auf den Para-Schitouren, nutzte den Tag für einen Erkundungsflug mit dem Segelflugzeug. Per Telegram (eine Alternative zu whats app) standen die beiden in Verbindung. Christian schickte ein Foto vom ausgeaperten Startplatz mit Kommentar (orange Blase), Simons Optimismus (violett) war jedoch durch nichts zu bremsen. Durch fast nichts…
Ende. Aus der Traum. Nicht mal ein Foto vom Sehnsuchtsort gab es als Trophäe.
Soll ich es wagen?
An diese Konversation erinnere ich mich jetzt beim Anblick des tief verschneiten Ochsentales. Könnte ich die Rolle des Kundschafters übernehmen? Das wäre der Clou! An einem Tag, der sich überhaupt nicht als „Flugtag“ angekündigt hat und mit einer Wolkenbasis auf 2.000 Metern Höhe – wo wir für die Talquerung mindestens 2.700 Meter veranschlagt hatten – einfach ins Ochsental fliegen?
Aber wie fotografieren, wenn die Kamera zuhause liegt? Ich konnte ja nicht ahnen, dass ich sie brauchen würde. Aber das Handy steckt im Gurtzeug, neuerdings mit einem Bändel gesichert. Damit müsste ich ein Beweisfoto zustande bringen, vorausgesetzt, mein Vorhaben würde gelingen. Entschlossen gleite ich über Bludenz hinweg in Richtung Nonnenalpe. Hunger und Kälte sind vergessen. Mein Herz klopft vor Freude und Aufregung, während ich mich dem vertrauten Bergmassiv nähere.
Es sind nämlich diese Alpen, Mähder, Felsschrofen und Tobel, die ich vom Wohnzimmer aus tagtäglich sehe. Oft nehme ich ein Fernglas zu Hilfe. Wenn ich den Begriff Heimat bildlich darstellen müsste, würde ich die Silhouette dieser Berge skizzieren. Angefangen bei der runden Waldkuppel am Eingang zum Brandnertal, über die langen flachen Wiesen der Nonnenalpe, hinauf zu den schräg liegenden Felsrippen des Kännergipfels, hinter dem der Zwölferkopf aufragt. Weiter über die Schneewechte des Schafgufels, die ich schon oft in meinen Hummelflügen erwähnt habe, zur Felspyramide des Gottvaters und schließlich über den großen und kleinen Valkastiel wieder im Bogen nach vorne zum Gavalinakopf, dem Eckberg am Eingang zum Montafon. Drei große, V-förmige Einschnitte teilen den Bergstock, der mittlere bildet das Ochsental, mein Ziel.
Ich bin jedoch viel zu tief, um einen Blick in dieses Tal werfen zu können. Unter mir ist nur steiler Bannwald, der im Schatten liegt. Wo soll ich da Thermik finden?
Die Frage ist unnötig, denn die Thermik findet mich. Das Vario piepst und ich blicke erstaunt nach unten. Woher kommt die aufsteigende Luft? Wo konnte sie sich erwärmen? Egal. Die Antwort ist nicht wichtig. Ich kreise vorsichtig und behutsam, aus der absurden Angst heraus, ich könnte das zarte Steigen zerstören. Die Thermik schert sich freilich nicht um meine Anwesenheit und nimmt kräftig zu, anstatt sich zu verflüchtigen. Ich lehne mich beherzt in die Kurve und genieße das Gefühl, endlich zur richtigen Zeit am richtigen Fleck zu sein. Und das entgegen jeglicher Logik und Absicht! Der Bart zieht in Richtung Gipfel, der den seltsamen Namen Tantermauses trägt. Schon als Kind faszinierte er mich und ich sprach das lustige Wort laut und Buchstabe für Buchstabe betonend aus: T a n t e r m a u s e s. Tantermauses. Tantermauses, bis meine Eltern sagten, es reiche jetzt. Schluss.
Kindische Freude
Hier heroben hört mich niemand und ich greife dieses Lautspiel wieder auf. Jeder Kreis ein Tantermauses! Ich war noch nie auf diesem Berg. Tantermauses! Der Wald endet knapp unterm Gipfelkreuz. Beim Tantermauses! Die Rückseite eine senkrechte Felswand. Tantermauses! Die von der Sonne aufgeheizt wird. Tantermauses! Und zusätzliche Thermik auslöst. Tantermauses adieu! Ich bin über dir und steige weiter.
Das Ochsental liegt offen und breit vor mir. Was für ein grandioser Anblick. Man sollte mit den Augen fotografieren können, wünsche ich mir. Denn der Gedanke daran, dass ich jetzt die Handschuhe ausziehen, das Handy hervorkramen, den Entsperrcode tippen und die Kamera starten sollten, gefällt mir gar nicht. Dafür ist es noch zu früh. Erst will ich alles mit den Augen inhaliert haben, bevor ich mich der Gefahr aussetze, durchs Hantieren mit dem Handy massiv an Höhe zu verlieren.
Unter mir auf einer Hügelkuppe steht die winzige Hütte der Stieralpe, nicht weit davon ragt ein Kreuz aus dem Schnee. Das sind die einzigen Hinweise auf Menschen im gesamten Gebiet. Wie gerne würde ich meine Spuren in dieses unberührte Weiß setzen, doch die Schneedecke gleißt nicht wie ein Sommerfirn, sondern sieht weich und pulvrig aus. Wie tief würde ich darin versinken? Ein neuerlicher Start wäre unter Umständen ein Problem, das weitere, sehr viel strapaziösere Probleme zur Folge hätte. Also beschränke ich mich aufs Schauen, meine Lieblingstätigkeit. Ich lasse meine Augen über die Landschaft schweifen, die der Schnee gezähmt hat, indem er Blockfelder in weiße Decken mit Noppen verwandelte, Felsvorsprünge mit runden Kappen verzierte und scharfe Grate mit eleganten Wechten krönte. Mein Blick verfängt sich im frischen Lawinenkegel und folgt ihm über gepresste Schneeballen bis hinauf zum Ursprung, einer schmalen Rinne zwischen den Felsen. Eine Gamsspur quert dort das Schneefeld und hat den Rutsch wahrscheinlich ausgelöst. Wurde das Tier mitgerissen? Ich fliege näher heran und drehe erst wieder ab, als ich die Fortsetzung der Spur in der nächsten Schneise entdecke.
Nun ist es Zeit für die Fotos. Es kostet mich einige Überwindung, die ohnehin schon kalte Hand aus dem dicken Handschuh zu ziehen. Die eisige Luft brennt auf dem Handrücken. Mit klammen Fingern knipse ich die Steuerleine fest und ziehe das Handy hervor. Das Display verlangt allerdings nach mehr Wärme als meine tauben Fingerspitzen bieten können. Ich wische mit Handballen, Nase und Wange darüber und nach etlichen Versuchen gelingt es mir, die Kamera zu aktivieren. Nur schaltet das blöde Ding auf Selfiemodus und ich sehe mich anstelle des Ochsentales. Endlich schaffe ich es zu fotografieren, während ich stetig nach links kreise. Kurvenflug erscheint mir in dieser Situation am sichersten.
Danach verstaue ich das Handy, ziehe den Handschuh an und muss feststellen, dass ich wieder auf Höhe des Tantermauses abgesunken bin. Ich begrüße ihn wie einen alten Freund, steige in den Bart ein, der an seiner Flanke auf mich gewartet hat und fühle mich wie in einer Art Wachtraum, den ich mit Wünschen steuern kann. Fliege ich hier wirklich, oder bin ich ihm Lehnstuhl meines Wintergartens eingeschlafen, den Feldstecher noch im Arm und träume mich in das Motiv hinein, das ich zuvor durch die Vergrößerungslinsen erblickt hatte?
Die Kälte knabbert durch die dicken Handschuhe an meinen Fingerkuppen und der Schmerz bringt mich zur Besinnung. Es ist real, ich schwebe hier überm Gipfel mit dem seltsamen Namen und schreie vor Freude wie in Kindertagen: T a n t e r m a u s e s !
Dann habe ich mich wieder im Griff, werfe einen letzten Blick ins Ochsental und quere zur Nonnenalpe hinüber. Ich möchte auf die Sonnenseite wechseln, in der Hoffnung, dort vielleicht bis zur Wolkenbasis aufdrehen zu können, die mittlerweile auf fast 2.300 Meter angestiegen ist. Mein Plan geht schief. Ich bin zu tief. Das heißt, ich könnte schon ins Brandnertal abzweigen, müsste aber, falls ich ohne Thermik bliebe, den ganzen Berg umfliegen, um in Bürs einen Landeplatz zu erreichen. Das steht sich nicht dafür. Ich fliege deshalb geradeaus auf den Waldhügel, der die letzte Erhebung vor dem Taleingang bildet, zu. Kurz vor den Tannen will ich auf die Bürser Seite abbiegen. Aber, ich kann es kaum glauben, Thermik hebt mich plötzlich über die Wipfel hinweg! Es geht immer weiter aufwärts und schließlich bin ich über dem Hügel und kann völlig stressfrei einen Kreis einleiten.
Bald erblicke ich die glatte Rückseite des Kännerberges, die in krassem Gegensatz zu der schräg geschichteten, wie schraffiert wirkenden Felsplatten der Nordseite steht.
Mit zunehmender Höhe rückt auch die Zimba besser ins Bild, der einzige Berg im Rätikon, den die Wolken aus irgendeinem Grund verschmähen. Auch heute ist der Himmel über der Zimba makellos blau, während sich die Gipfel rechts und links von ihr mit weißen Hauben krönen. Die Schesaplana hat die Kappe sogar tief ins Gesicht gezogen.
Ab 2.200 Metern Höhe wird es furchtbar turbulent. Die bis dorthin vorherrschende Nordströmung wird plötzlich durch eine südliche abgelöst und die Windscherungen vernichten die Thermik und möchten dies auch mit meinem Schirm tun. Übrigens ein neuer Schirm. Meinen ION 2 habe ich heuer gegen einen ION 4 eingetauscht. Zum Glück verhält er sich ebenso gutmütig wie sein Vorgänger und ich wage trotz Turbulenzen nochmals zu fotografieren, mitsamt dem dazugehörenden Prozedere: Handschuh ausziehen, Steuerleine befestigen, Handykamera aktivieren, knipsen, dabei beständig weiter kreisen, usw. Aber die Fotos sind den erlittenen Höhenverlust wert.
Ich versuche erneut, die Wolkenbasis zu erreichen, scheitere aber wieder an der turbulenten Windscherung und gebe erschöpft auf. Mir ist dermaßen kalt, dass mir die Zähne klappern und die Augen tränen. Zeit aufzuhören, bevor ich unkonzentriert werde. Zum Abschied gleite ich über den Kännergipfel zurück zum Tantermauses, überfliege ein letztes Mal das Ochsental und schaue noch kurz im hintersten V-förmigen Einschnitt bei der Gavalinaalpe vorbei. Das Vario piepst und piepst, ich spüre, wie mich die Thermik weiter tragen möchte, aber ich ignoriere sie. Das warme Grün des Talbodens ist viel verlockender. Ich kann mein Haus sehen, das kleine Waldstück und die Wiese dahinter.
Eine viertel Stunde später setze ich im hohen Gras auf und trage meine Sachen rasch an den Rand des Grundstückes, ins Lee einer mächtigen Brombeerhecke. Lange Zeit bleibe ich in voller Montur in der Sonne liegen, wie ein Kaltblütler, der sich erst erwärmen muss, bevor er sich bewegen kann. Drei Stunden bin ich in der Luft gewesen und Zehen und Fingerspitzen tauen schmerzvoll auf, als wollten sie sich nachträglich für die Tortur rächen.
Huch!
Schon wieder Selfiemodus.
Ich wollte doch die Berge vor mir fotografieren, wo ich vor einer Viertelstunde noch war....
Ich liege in dieser Blumenwiese, sehe vor mir den Rätikon mit meinen Lieblingsbergen und am Handydisplay leuchten ihre Details. Beim schönsten Foto drücke ich auf Senden und maile es an Simon.
„Ich war da“, schreibe ich dazu, „nur leider ohne Schi. :-)“
Es läuft eben nicht immer nach Plan, oder?