(Wenn man aus allen Wolken fällt)
„Ja, das kann passieren“.
Ich hatte mit Schock und Entsetzen gerechnet, aber Markus schien nicht einmal überrascht. Seine Stimme klang fern, der Wind riss sie vom Handy weg, obwohl ich das Telefon mit der hohlen Hand zu schützen versuchte. Sie zitterte noch immer. Ich saß am Boden. Nicht nur der weichen Knie wegen, sondern weil ich seine Festigkeit spüren wollte. Am liebsten hätte ich mich bäuchlings in die Wiese gelegt, die Erde umarmt, ihr gedankt, dass ich wieder da war, wo ich hingehörte. Doch das Gurtzeug hinderte mich daran. Ich hatte erst Markus berichten und mich danach aus dem Sitzgeschirr befreien wollen. Jetzt bereute ich die Reihenfolge.
Ich wollte nicht hören, dass das eben Erlebte dazugehöre, quasi die Kehrseite der Medaille war und keine einmalige Ausnahme, die sich nie mehr wiederholen würde.
Ich hatte auf Trost und Zuspruch gehofft. Markus’ lakonische Feststellung erwischte mich kalt und schnürte mir die Kehle zu. „Ich ruf dich später nochmals an“, würgte ich hervor und starrte mit
glasigen Augen zum Roggelskopf hinauf.
Mit Sicherheit keine Geometrie
Da hörte ich jemand fluchen. Neben mir fiel das krause Bündel eines zusammengerafften Gleitschirms zu Boden und ich wischte mir rasch die Tränen aus dem Gesicht, bevor der wie aus dem Nichts aufgetauchte Pilot seinen Helm abnahm.
„Wo kommst du denn her?“, fragte ich und bemühte mich um eine fest klingende Stimme.
Statt mir zu antworten, tippte Klaus auf dem Display eines kleinen Gerätes herum und faselte etwas von fehlenden hundert Metern. Er regte sich auf, als wäre ihm furchtbares Unrecht widerfahren. „Dass es so etwas gibt!“
Als er mich endlich wahrnahm und erkannte, grüßte er und sagte, dass es hier extrem turbulent zum Landen sei. Aber weiter habe er nicht fliegen wollen, denn dort vorne im Lee des Gasünder Hügels wäre es noch gefährlicher gewesen. Und nun fehlten ihm deswegen exakt hundert Meter. Das sei gemein.
„Hundert Meter wofür?“, fragte ich verständnislos.
„Für ein FAI-Dreieck! Das hätte mehr Punkte gegeben.“
„Aha“, sagte ich und dachte, wie absurd das alles war.
„Und du?“, fragte er.
Ich überlegte, denn ich konnte mich nicht entscheiden. Schließlich sagte ich: „Es war der schönste und zugleich schrecklichste Flug meines Lebens.“
„Aha.“
Zum Glück hörte uns niemand zu.
Rückblende:
Schnifis, wie immer
Es war Freitag. Der letzte Arbeitstag einer gewitterhaften Woche. Der Moderator vom Wetterdienst hatte am Abend zuvor von einer Hochdruckbrücke, von Zufuhr warmer und trockener Luft in der Höhe und der damit eintretenden Stabilität gesprochen. Nichts deutete auf gute Thermik hin, es klang vielmehr nach Wanderwetter.
Ich hatte mir trotzdem frei genommen. Zum Wandern. Im Fluggebiet. Natürlich hatte ich auch den Gleitschirm dabei. Man weiß ja nie.
Kurz nach 9:00 Uhr deponierte ich die Flugausrüstung am Startplatz und stieg zum Hoch Gerach hinauf. Zweieinhalb Stunden später war ich wieder zurück. Kleine Quellwolken, die sich wider Erwarten hoch über den Gipfeln gebildet hatten, hatten meine Schritte beschleunigt.
Doch als die ersten Piloten starteten und kein einziger genügend Thermik fand, um die Höhe des Startplatzes zu halten, dachte ich an die gestrige Wetterprognose. Subsidenz, absinkende Luftmasse, Inversion, eh klar. Bloß die Quellwolken passten nicht ins Bild. Sie waren nur da, um uns zu ärgern.
Schnifis, ganz anders
Ich wartete und sah meinen Kollegen beim Kampf gegen das Absaufen zu. Selbst die Vögel hockten im Geäst und schauten. Belustigt, wie mir schien. Wenn sie ihren Aussichtsbaum wechselten, flatterten sie.
Um halb eins wurde es mir zu langweilig. Ich wollte starten, sei es auch nur für einen zehnminütigen Sinkflug ins Tal. Edi, der letzte Pilot, der noch neben mir am Startplatz ausgeharrt hatte, rief plötzlich: „Sie drehen auf!“
Thermik hatte eingesetzt, doch etwas war anders als sonst. Zu den hohen Cumuli, die unsere Sehnsucht geweckt hatten, hatten sich hundert Meter tiefer weitere Wolken gebildet und nochmals ein Stockwerk darunter kondensierten ebenfalls weiße Schleier.
Üblicherweise gibt es eine Wolkenbasis, die zwar je nach Region in der Höhe variieren kann, also beispielsweise im Rheintal tiefer ist als in der Silvretta, aber solche Abstufungen wie heute waren ein für mich unbekanntes Phänomen. A stairway to heaven?
Mit diesem Song von Led Zeppelin im Kopf erreichte ich das tiefste Wölkchen und sah verwundert zu den Piloten hinauf, die weit über mir flogen. And it makes me wonder… Meine Wolke war klein und faserig und ich beobachtete die bewegte Luft in ihr. Ein chaotisches Zusammenballen und sich wieder Zerfransen, als würde ihr Innerstes nach außen gestülpt und dabei weißes Gespinst absondern. Ich ließ mich umgarnen, atmete die kühle Feuchte und sah die Welt durch hauchzarte Schleier. Es war erstaunlich ruhig, obwohl die Nebelfetzen um mich herum Fangen spielten.
Die Wolke zwirbelte sich auf und stieg mit mir in die Höhe. Ihr Kern wurde dichter, undurchsichtig und ich war gezwungen, neben, statt in ihr zu fliegen. Dennoch drang ich bei jeder Umdrehung ein Stück weit in ihr gespenstisches Wesen ein und genoss die Abfolge von weißer Blindheit und klarer Sicht auf die Landschaft. Wenn mein Schatten auf die Wolke fiel, gleißte ringsum ein Lichtkreis aus Spektralfarben. Mein Abbild inmitten eines Regenbogens, wie in einem leuchtenden Medaillon. There's a lady who's sure, all that glitters is gold…
Wolkenwesen
An der höchsten Wolke hingen Fransen gleich Tentakeln einer Qualle herab. Erst vermutete ich ausfließende Luftmassen, bis ich erkannte, dass es aufsteigende Nebelfetzen waren, die der großen Wolke zustrebten. Auch „meine“ Wolke, inzwischen zu einem rüsselartigen Schlauch angewachsen, schraubte sich weiter in die Höhe und ich tat es ihr gleich. Ich flog durch eine Märchenwelt aus Wattesäulen und achtete nur darauf, wo ein Fluchtweg blieb, falls sich die Säulen zu einer Wand vereinigten.
In 2500 Metern Höhe erreichte ich die oberste Etage der Wolken. Wie aufgeplusterte Gluckhennen thronten sie über den Gipfeln des Walserkammes, während ihre flaumig-weißen Küken ein Stockwerk tiefer umherschwebten. Die Miniwölkchen kamen aus dem Wald, lösten sich von den Almen und waren allesamt auf dem Weg hinauf zu Mamas Fittichen. Ich musste bloß an der richtigen Stelle warten, bis einer der Wattebausche zu mir hochstieg, mich kurz einhüllte und wieder frei gab. Treffer!
Die Luft trug mich überall und das Vario piepste gleichmäßig vor sich hin. Ich konzentrierte mich daher auf die Jagd nach Wölkchen und versuchte auf den nächsten zehn Kilometern möglichst viele zu erwischen. Moorhuhnspiel in 3d. Vor jedem Treffer stimmte ich den Refrain an: Ooh, it makes me wonder; Ooh, it really makes me wonder!
Flugzeuggefühl
Plötzlich zog die Thermik kräftig an und hob mich rasch nach oben. Über mir wölbte sich das Dunkelgrau einer mächtigen Wolke. Höchste Zeit dieser Saugglocke auszuweichen! Ich bog nach rechts ab, merkte mir am Kompass die Richtung, es war Südwest, und stieg ins Speedsystem. Das Vario schrillte in selten gehörten Tönen und begleitete Robert Plants Stimme meines Ohrwurms: There's a feeling I get, when I look to the west, and my spirit is crying for leaving…
Ich fürchtete, dass mir die Flucht nicht gelingen könnte. Die Wolke dehnte sich jetzt auch in der Breite aus und griff nach mir! Einen Augenblick lang raubte sie mir sogar die Sicht, dann war ich frei und über 3.000 Meter hoch.
Damit war mir die Entscheidung nach dem „wohin heute?“ abgenommen worden. Zurück zum Walserkamm konnte ich nicht, dort lauerte das Wolkenmonster, also flog ich weiter zum Breithorn auf der anderen Talseite. Aber was war denn das?
Mitten überm Tal lag eine Wolkenbank. Eine fette weiße Made tief unter mir. Ich konnte mir nicht erklären, wie sie dort hin gekommen war.
Die Perspektive war derart unnatürlich, dass ich nicht mehr das Gefühl hatte einen Paragleiter zu steuern, sondern in einem Flugzeug zu sitzen. Für die Talquerung musste ich die Wolke überfliegen und so hielt ich direkt auf sie zu. Hätte sie ihre ursprüngliche Größe behalten, wäre ich locker drüber gekommen. Aber die Made veränderte ihr Aussehen mit rasanter Geschwindigkeit, als pumpte man eine schlaffe Hüpfburg mit Druckluft auf. Aus dem länglichen Gebilde quollen Türmchen und Wülste hervor, die mich zum Slalom zwangen. Ich kurvte eine Zeitlang zwischen den zum Glück harmlosen Hindernissen umher bis ich schließlich ins blendende Weiß eintauchte und darin unterging. Mein Vario zeigte 2.600 Meter Höhe an und ich befand mich mitten überm Tal. Es konnte nichts passieren.
Wie oft hatte ich im Flugzeug während des Sinkfluges aus dem Fenster gespäht und mir gewünscht, selbst das Steuer in der Hand zu haben, wenn die Wolkendecke durchstoßen wird! Jetzt erlebte ich dies hautnah, ohne störendes Cockpit, mit dem Fahrtwind im Gesicht. Ein Traum.
Eiskalt auf Strecke
Mein Blindflug hatte höchstens ein paar Sekunden gedauert, dann tauchten die roten Kugeln der Seilbahn Sonntag-Stein tief unter mir auf. Vor mir ein von Cumuli getupfter Himmel und der felsige Rücken des Breithorns. Im Nu war ich wieder auf 3.000 Metern Höhe und blickte auf schneebedeckte Landschaft. Die Alpe Laguz war zwar ausgeapert, aber das Weiß dahinter nur von wenigen schwarzen Strichen und Punkten unterbrochen. „Stracciatella“, dachte ich unwillkürlich. Der Eisvergleich machte mir bewusst, wie sehr ich fror. Ich war viel zu dünn angezogen für die Temperatur in dieser Höhe. Nullkommadrei Grad zeigte das Vario und ich versuchte die tauben Finger durch Biegen und Strecken wieder zum Leben zu erwecken.
Ich flog über Lusgrind und Hanflender zum Schafberg, links neben mir klotzte die Rote Wand. Eine Zeitlang konnte ich auf ihr Gipfelkreuz hinabschauen, danach war ich zu tief. Es störte mich nicht, denn geringere Höhe bedeutete wärmere Luft. Meine Finger tauten auf und der Schmerz tobte, als wollte er mir die Fingernägel absprengen.
Beim Roggelskopf versprach eine Wolke gute Thermik, aber ich ließ ihn rechts liegen, blieb lieber noch in Bodennähe. Nicht nur wegen der Wärme, sondern weil ich es faszinierender fand, in geringer Höhe über die Landschaft zu fliegen. Konturenflug. Vom Schafberg aus glitt ich über die verschneiten Kuppen der Geissköpfe zum Formarinsee hinab, dessen Blau sich nur in den Kerben und Rissen der Schneemassen zeigen konnte. Ich erinnerte mich an das Bild des Sees vom letzten Jahr, als sich das Eis mit dem Blau am Ufer zu einem türkisen Band vermengte. Damals hatte ich mit dem Handy ein Foto gemacht, heute war mir zu kalt dazu.
Angstfrei über der Hölle
Mein Vario zeigte nur mehr knapp 2000 Meter an und ich flog einem flachen Hang entlang vor zu einer Abbruchkante. Die zackigen Ränder markierten einen großen Graben und ich machte mich auf ruppige Thermik gefasst, die von dort unten aufsteigen würde. Als ich über der Kante war und in den Abgrund blickte, verschlug es mir den Atem.
Wie auf mich gerichtete Lanzenspitzen aus Stein standen da ein Felszacken neben dem anderen, dazwischen steile Schotterflächen, die sich zu einer Schlucht verengten. Nichts Grünes gedieh in dieser lebensfeindlichen Landschaft, die den Namen Hölltobel zu Recht trug. Die Luft brodelte über dem Hexenkessel und ich fühlte mich nicht wohl, als ich den ersten Kreis ansetzte. Aber ich vertraute meinem Schirm, einem gutmütigen ION4, der mich noch nie in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Nachdem ich hundert Meter Höhe gewonnen hatte, entspannte ich mich und genoss die Dynamik des Fliegens in der Thermik. Früher ließ mich die Angst nie los. „Heuer“, so sagte ich unlängst zu meinem Mann, „heuer fliege ich zum ersten Mal aus purer Freude am Fliegen“. Das mag blöde klingen und man fragt sich, aus welchem Grund ich denn all die Jahre in der Luft unterwegs gewesen war? Weil ich die Perspektive mochte. Ich flog, obwohl ich Angst hatte, um die Welt von oben zu sehen.
Die Gier ist verflogen
Ich schraube mich über dem höllischen Tobel auf 2.800 Meter empor, höher will ich wegen der Kälte nicht, und fliege weiter über den Spullersee hinweg in Richtung Arlberg. Erst zweimal hatte ich bisher den Flexenpass erreicht und davon geträumt, weiter ins Tirol bis Landeck zu fliegen. Nun wäre dies leicht möglich, aber seltsamerweise ist der Wunsch nicht mehr da. Stattdessen das Gefühl, für heute sei es genug. Das ist neu. Ich sehe auf die Uhr. Vor zwei Stunden erst bin ich in Schnifis gestartet. Soll ich jetzt schon landen?
Was ist denn los mit mir?
Kurz vor der Valluga drehe ich ab. Der Impuls umzukehren, überrascht mich selbst. Aber plötzlich scheint mir wichtiger, den Flug auf einer geeigneten Wiese im Walgau (dort ist das Tal breiter und der Wind schwächer) gut zu Ende bringen, als eine neue „Trophäe“ einzufliegen. Wen interessiert es denn, ob ich genau überm Gipfel, davor oder dahinter gewesen bin? Eben.
Der Rückflug gestaltet sich einfach. Den Himmel überm Klostertal ziert eine Wolkenstraße, unter der ich ohne viel Mühe dahingleiten kann. Gleich hinterm Flexenpass finde ich Thermik. Sie ist aber schwach und ich will sie grad verlassen, als ich einen großen Vogel tief unter mir bemerke. Ist es ein Adler? Ich beschließe zu warten, verliere ich ihn jedoch aus den Augen und setze meinen Flug Richtung Heimat fort.
Um dem Gegenwind weniger Angriffsfläche zu bieten, lehne ich mich ins Gurtzeug zurück und strecke meine Beine im Speedsystem aus. In dieser Liegeposition wandert mein Blick unwillkürlich hoch zum Schirm.
Da trifft mich fast der Schlag.
Augenblicklich sitze ich wieder kerzengerade, mein Herz rast.
Der Adler!
Er fliegt direkt über der Eintrittskante und hat die krallenbewehrten Füße herab gestreckt, als wolle er landen! Ich zupfe an den A-Gurten, damit das Tuch raschelt und der Vogel erschrickt. Es wirkt. Der Adler klappt seine Beine ein und verschwindet nach hinten. Aber eine Sekunde später ist er wieder da, dieses Mal neben mir, auf Augenhöhe, er berührt mit den Federspitzen fast die Stabiloleine. Ein prachtvolles Tier. Wenn ich nur wüsste, was er vor hat! Ist er bloß neugierig, oder hat er es auf mich abgesehen?
Er mustert mich aufmerksam und legt dabei den Kopf etwas schief, als frage er sich dasselbe. „Was willst du?“, rufe ich hinüber. Sein Blick fixiert den meinen. Er fürchtet sich nicht. Weil ich aber die Spannung kaum ertrage, versichere ich wortreich, dass ich sein Hoheitsgebiet nicht habe verletzen wollen, sondern nur rasch durchqueren müsse. Die Botschaft kommt an, der Vogel dreht ab und augenblicklich tut mir leid, dass ich ihn mit dem Gequatsche vertrieben habe.
Doch er ist nicht weg, sondern wieder über mir. Sein Schatten wandert auf dem Schirm nach vorne. Sobald die dunkle Silhouette die Eintrittskante erreicht hat, taucht der scharf gebogene, gelbe Schnabel auf und gleich darauf äugt der Adler zu mir herab. Er spielt Verstecken mit mir.
Thermik hebt mich an, das Vario beginnt zu piepsen und der Adler steigt weg wie ein Gasballon. Im Nu ist er zig Meter höher als ich, doch das gefällt ihm nicht. Er zieht die Flügel zum Körper und saust im Sturzflug zu mir herab. Wie ein gefiederter Torpedo zielt er auf mich und ich halte die Luft an. Kommt jetzt der Angriff?
Knapp überm Schirm öffnet er seine Schwingen, bremst, schießt ein Stück weit wieder nach oben und versucht sich dann meiner Geschwindigkeit anzupassen. Schließlich schwebt der Adler in höchstens einem halben Meter Entfernung über meinem Schirm. Was für ein majestätischer Anblick! Das Orangerot meines Schirmes, das dunkle Gefieder des Vogels und dahinter die Wolkentürme vor blauem Himmel.
Ich überlege, ob ich das Handy für ein Foto hervorkramen soll, als der Adler erneut Anstalten macht auf der Schirmkappe zu landen. Schon knickt er die Flügel leicht
ein, die kleinen Federn wirbeln im Strömungsabriss und die Krallen berühren beinah das Tuch. „Hey!“, rufe ich. „Untersteh dich!“ Ich mag keine Löcher im Segel. Zur Untermauerung lasse ich
neuerlich die A-Gurten schnalzen.
Der Vogel weicht zur Seite aus und betrachtet mich, als würde er überlegen, wie das farbige Raschelzeug und das quasselnde Ding, das darunter hängt, zusammen gehören. Ich habe keine Angst mehr vor ihm. Sein Revier haben wir längst verlassen. Unter mir liegt dunkelgrün und eisfrei der Spullersee.
Es kann also nur Neugierde sein, die den Adler seit zwanzig Minuten in meiner Nähe hält.
Wieder fixiert er meinen Blick. Diesmal bleibe ich stumm und halte der Intensität des Moments stand. Die Grenze zwischen Mensch und Tier wird porös.
Will mir der Adler vielleicht etwas sagen?
Ich denke an Monika, die vor drei Jahren am Golm tödlich verunglückt ist und an die Begegnung mit einem Adler kurze Zeit später. Damals hatte ich das Gefühl, Monika zöge in Gestalt des Adlers ein paar Kreise mit mir. Wer aber sollte es heute sein?
„Es ist bloß ein Vogel“, sagt die nüchterne Seite in mir.
Doch die Nähe und die Ausdauer, mit der mich der Adler begleitet, berühren mich. Unwillkürlich denke ich an meinen eigenen Tod. Ist der Vogel ein Vorbote oder ein Schutzengel?
„Es ist bloß ein Vogel“, beharrt meine nüchterne Seite.
Da dreht der Adler den Kopf weg und fliegt davon. Schade.
Aber ich sollte mich ohnehin aufs Fliegen konzentrieren. Das Vario zeigt nur mehr 2300 Meter Höhe an. Ich muss Thermik finden, wenn ich nicht im Klostertal landen
will. Bei der Saladinaspitze, hinter der sich das Hölltobel befindet, geht’s rasch aufwärts und als ich mich spiralförmig in die Höhe schraube, sehe ich den Adler wieder.
„Komm her alter Freund!“, rufe ich ihm zu. Der Vogel driftet tatsächlich seitwärts an den Schirm heran und passt sich meiner Drehbewegung an, um mit mir in den Himmel zu kreisen. Meine Freude ist grenzenlos und auf einmal verschwimmen die Zahlen am Display des Varios. Glückstränen trüben die Sicht.
Gemeinsam mit dem Adler drehe ich wieder auf 2.900 Meter auf und fliege dann weiter zum Roggelskopf. Plötzlich schert der Vogel aus und wechselt auf die andere Talseite. Einfach so, ohne Abschied. Ich fühle mich im Stich gelassen.
Allerdings wüsste ich nicht, wie sich ein Vogel standesgemäß verabschieden könnte. Einen Fuß wegstrecken, mit den Flügelspitzen wippen, den Schnabel aufreißen?
Die Tränen haben eisige Spuren auf meinen Wangen gezogen. Gut, dass ich gleich zuhause bin, denke ich. Überm Roggelskopf noch ein letztes Mal Höhe tanken und dann im Gleitflug nach Brunnenfeld.
Da passiert es
Ohne Vorwarnung. Ich falle. Zwei Drittel vom Schirm flattern schlaff herab, das Stückchen, das noch offen ist, beißt sich wie ein aggressiver Hund in der Luft fest und reißt mich mit nach unten. Ich pendle hinterher, weiß nicht, wie mir geschieht, kann nicht sagen, ob ich vorwärts oder rückwärts fliege. Es schleudert mich herum, ich starre auf meinen ansonsten so gutmütigen Schirm und verstehe nicht, was in ihn gefahren ist. Egal, was ich mache, welchen Impuls ich mit den Steuerleinen gebe, es wird nur ärger. Mal ist die Schirmkappe hinter mir, mal fast unter mir – ich verliere völlig die Orientierung. Die Fliehkräfte sind enorm und zerren an mir, auf einmal überkreuzen sich die Gurten vor meiner Brust und ich fürchte eingetwistet zu werden. Da fällt mir ein, dass ich loslassen muss. Wenn mein Eingreifen die Situation bloß verschlimmert, so ist es besser die Kontrolle, die ich ohnehin längst verloren habe, freiwillig abzugeben. „Hände hoch“, sage ich zu mir, aber mein Körper folgt nicht. Ich klammere mich weiterhin panisch an den Steuerleinen fest. „Hände hoch!“, brülle ich mich selbst an und wiederhole es so lange, bis meine Arme endlich nach oben gehen und die Steuerleinen entlasten. Augenblicklich ist der Schirm über mir, vor mir, fast unter mir, ich pendle nach, bremse – und fliege wieder.
Mein Herz rast und ich keuche, als hätte ich einen Sprint hinter mir.
„Nichts wie weg von diesem turbulenten Ort!“, ist mein einziger Gedanke. Erst jetzt blicke ich nach unten. Wie mächtig war das Luftkissen zwischen mir und der Schulter des Roggelkopfs eigentlich noch? Warum hatte ich mich kein einziges Mal vergewissert, ob der Abstand zu den Felsen noch groß genug war? Weshalb hatte ich nie an den Rettungsschirm gedacht?
Mir dämmert allmählich, dass diese Unterlassungen weitaus gefährlicher waren, als mein ungeschicktes Eingreifen nach dem Kollaps des Schirms. Wäre dasselbe in geringerer Höhe passiert, läge ich jetzt zerschmettert dort unten. Mir läuft ein eisiger Schauer über den Rücken.
Ich muss dieses Bild rasch verdrängen, denn auf mich warten neue Probleme. Der Gegenwind frischt auf, je tiefer ich ins Tal sinke. Bis Brunnenfeld werde ich es nie mehr schaffen, sondern stattdessen in Braz landen müssen, im „Windkanal“ des Klostertals. Ich hole die Ohren des Schirms ein und steige ins Speedsystem. Die Bäume biegen sich unter den stürmischen Böen des Talwindes. Das wird nicht lustig werden.
Ich fasse eine große Wiese neben der Bahnlinie ins Auge und wünschte ich stünde bereits da unten. Stattdessen geht es aufwärts. Das Vario piepst und ich steige rückwärts weg. Verdammt. Ich denke an den Adler und frage mich neuerlich, ob es sich um meinen Schutz- oder Todesengel gehandelt hat. Oder beides? Vorhin hatte ich Glück, dass mein Schirm rechtzeitig wieder flog. Was erwartet mich nun? Meine Angst ist enorm, mir schlottern die Knie. Obwohl es heißt, ein Schirm könne mit angelegten Ohren nicht mehr einklappen, fürchte ich genau dies. Jetzt wäre die Pufferzone unter mir zu klein, da nützte auch ein Rettungsschirm nichts mehr.
Es beutelt mich in der Luft hin und her und ich habe kaum Möglichkeiten dagegen zu steuern. Ich bin ein Spielball der Turbulenzen und ob ich die Wiese, einen der Stadel oder die Bahnlinie treffen werde, liegt nicht in meiner Hand.
Ich steige immer noch, nun allerdings mit leichter Vorfahrt. Statt der Wiese habe ich jetzt Häuser und Baumgruppen unter mir. Dann den Golfplatz. Endlich sinke ich ein wenig, aber die Luft ist derart turbulent, dass ich mit bloßer Gewichtsverlagerung nur geringfügig steuern kann. Hinter dem Golfplatz käme wieder eine große Wiese, aber es ist fraglich, ob ich die erreichen werde, denn nun ertönt Sinkalarm. Dieser Warnton schaltet sich bei einer Fallgeschwindigkeit von mehr als 5 Metern pro Sekunde ein.
Vorhin wäre mir dies recht gewesen, aber nicht hier, ausgerechnet überm Teich des Golfplatzes, dessen Ufer von Bäumen gesäumt ist! Es geht nur abwärts ohne einen Meter Vorfahrt! Ich kann nichts tun, was die Situation verbessern würde. Jedes Ausweichmanöver würde mich noch mehr in die Bredouille bringen. „Wasser tut nicht weh“, sage ich mir und versuche Nerven zu bewahren.
Ein kurzes Nachlassen des Talwindes und ein Heber über die Begrenzungsbäumchen retten mich schließlich und ich lande am Rand der großen Wiese.
Alles ist gut
Von wegen!
Es ist gegessen, aber noch lange nicht verdaut.
Dieser dreistündige Flug, mein schönster und schlimmster zugleich, wirkt nach und liegt mir im Magen. Ich glaubte, mit einem gutmütigen Schirm und einer gewissen Vorsicht könnte ich Risiken minimieren. Markus warnte mich stets vor dieser Illusion: „Beim Streckenfliegen kann das jedem passieren“.
Trotzdem hatte mein Gefühl eine Grenze zwischen „jedem“ und mir gezogen. Irgendwie gehörte ich da nicht dazu und meine ereignislose Bilanz der letzten zehn Jahre bestärkte mich in dem irrigen Glauben, die Dinge im Griff zu haben.
Ich muss erst abwägen, ob ich das Risiko, dessen ich mir nun deutlich bewusst bin, erneut eingehen will. In den magischen Momenten, als ich heute mit den Wolken spielte oder mit dem Adler flog, hätte ich sicher mit „Ja, ich will“ geantwortet.
Aber jetzt?
Nachwort:
Aus der Flugaufzeichnung ließ sich rekonstruieren, dass mein „Abgang“ 25 Sekunden lang gedauert hat, von maximal 8 Meter Sinken pro Sekunde begleitet war und mich insgesamt hundert Höhenmeter gekostet hat.
Möglicherweise spielte sich folgendes ab: Ich näherte mich kräftiger Thermik (Wolkenrand) bei starkem Gegenwind. Das GPS zeigte nur 10 km/h über Grund trotz beschleunigten (halbes Speedsystem) Fluges. Dann 2/3 Seitenklapper, Schirm fuhr nach vorne weg, ich zog vor Schreck die Beine an und stieg damit aus dem Speedsystem. Durch diesen Impuls entlasteten die Leinen, ich hechtete der Kappe nach. Der Schirm öffnete halb, fasste aber in der turbulenten Luft sofort den nächsten Klapper aus und kippte erneut in einer Art Steilspirale weg. Ich versuchte die Drehbewegung zu stoppen, stallte den Schirm (kann mich nämlich an die typische Rosette danach erinnern), hatte aber nicht die Nerven abzuwarten, bis ich unter den Schirm gependelt war, sondern löste den Stall wahrscheinlich zu früh und – weil es mich so herumbeutelte – auch einseitig aus. In der Folge drehte der Schirm negativ weg und war für mich nicht mehr zu sehen. Dann wurden die Gurten überm Brustkorb eng, es begann mich einzutwisten. Ab diesem Moment gab ich die Steuerleinen frei und mein braver ION 4 erfing sich schließlich wieder.
So könnte es gewesen sein – im Sicherheitstraining hatte ich diese Manöver alle geprobt. Aber mit entsprechender mentaler Vorbereitung, einer beruhigenden Stimme über Funk im Ohr und in ruhiger Luft. Das ist etwas ganz anderes.
Im Nachhinein erschiene mir diese Doppelübung viel wichtiger:
Erster Blick: nach unten - Höhencheck!
Zweiter Blick: Horizont suchen, um das Gefühl für oben und unten nicht zu verlieren.
Hoffentlich vergesse ich beim nächsten Mal nicht mehr auf diese zwei wesentlichen Punkte.
Beim nächsten Mal?
Ja, das kann passieren.
PS: Dank den beiden Fotografen Emil Rechsteiner und André Hofmann für die schönen Adlerbilder!
Die anderen Aufnahmen stammen aus früheren Flügen von mir.