Quadrathummel                         6. Mai 2016

 

 

Eigentlich ein schöner Flug

„Eigentlich ein schöner Flug“, sagte ich ins Telefon zu Markus.

Meine Worte hallten aufgrund einer Rückkoppelung wie ein Echo wider.

„Eigentlich – schön“, hörte ich meine verzerrte Stimme klagen und stutzte.

Warum „eigentlich“?

Wer oder was schob sich trübe vor die Schönheit?

Ich war zwei Stunden lang in der Luft gewesen, durfte dabei aus einer Höhe von über 2.700 Metern eine unfassbare Fernsicht genießen – und nun wertete ich das Erlebnis mit einem „eigentlich“ ab.

Was war los mit mir?

Ich ging in mich und stellte fest: Mit mir war alles in Ordnung. Schuld waren die anderen.

Mit dieser Erkenntnis war ich nicht allein. Schon Jean-Paul Sartre hatte erkannt: Die Hölle sind die anderen.

Aber nun der Reihe nach. Was war passiert?

 

Blick aufs Schigebiet Damüls
Blick aufs Schigebiet Damüls

 

Wetterjammer

Der heurige Frühling schwankt zwischen Sintflut und Föhn. Wenn er sich gar nicht entscheiden kann, dann greift er zur Bise und pustet eisige Luft durch die Täler. Die Flugausbeute ist entsprechend gering.

Dann endlich: Ein Feiertag am Donnerstag dehnt das Wochenende zu einem Kurzurlaub und sämtliche Wetterberichte kündigen Rekordtemperaturen mit ungetrübtem Sonnenschein an.

Während sich das normale Volk der Fußgänger, Biker und Gastgartenhocker einfach bloß freut, reagiert ein Gleitschirmpilot skeptisch. Wolkenlos nach soviel Feuchtigkeit?, denkt er und rümpft die Nase. Sicherheitshalber wirft er einen Blick auf die Druckunterschiede zwischen Alpensüd- und Nordseite.

 

Ich gestehe, dass ich es als Zumutung empfinde, ständig die Föhndiagramme studieren zu müssen. Als Zumutung seitens des heurigen Wetters. Die Föhn-App am Smartphone hat sich wegen Vielnutzung bereits vor die Thermikprognose gereiht!

Hatte ich in den vergangenen Jahren eine Föhnphase als willkommene Pause der Fliegerei begrüßt, in der ich mich der liegengebliebenen Gartenarbeit widmen konnte, so blicke ich heuer verdrossen auf die Föhndiagramme und denke, es wird schon nicht so schlimm werden. Die Kurve schwingt sich schließlich nur leicht über die magische Grenze von 4 Hektopascal auf. Dieser Druckgegensatz reicht unter Umständen aus, dass der Föhn bis in die Täler durchbricht. Das habe ich einmal während eines Fluges erlebt. Das brauche ich kein zweites Mal.

 

Am Donnerstagmorgen bläst der Ostwind mit 20 km/h über den Startplatz und ich gehe daher vorsichtshalber wandern. Ich liege am Muttersberg in der Sonne und schaue den Segelfliegern zu, die den weitgehend stofflosen Himmel genießen. Ein paar unerschrockene Gleitschirmpiloten gibt es immer. Aber sie hätten von „unschönen Verhältnissen“ berichtet, sagt Markus zum Trost als er von Schnifis heimkommt. Ich hätte nichts versäumt.

 

Freitagmorgen: Südostwind mit 17 km/h.

Das Föhndiagramm ist hart an der Grenze.

Ich schicke den Schirm per Bahn nach oben und steige zu Fuß auf. Falls es nicht zum Fliegen geht, habe ich wenigstens etwas für die Kondition getan. Außerdem warten Kuchen im Henslerstüble.

Doch als ich am Startplatz ankomme, lässt Markus seine Schüler per Funk in der Thermik kreisen und sogar Piloten aus der Gruppe urlaubender Holländer steigen weg.

 

Mir vergeht der Appetit auf Kuchen. Jetzt bin ich heiß aufs Fliegen!

 

Schnifis darf nicht Andelsbuch werden

Ich habe noch nie so viele Piloten am Hensler gesehen. Die Flugschule teilt sich den unteren Startplatz mit den Holländern. Dort ist kein Fleckchen mehr zum Auslegen frei. Am Straßenrand bilden Gleitschirmsäcke einen Begrenzungswall gleich einer überdimensionierten Perlenschnur. Die Wartenden hocken auf der Böschung und werden unruhig.

Heftige Windböen, Ostwind- mit Thermik aufgemischt, schleifen hin und wieder einen Holländer quer über die Wiese und stürzen die sorgfältig entfaltete Ordnung in ein Chaos. Es dauert, bis die Person wieder aus dem Knäuel von Tuch und Leinen befreit ist.

 

Eine ameisengleiche Kolonne zieht zur Schneise oberhalb der Bergstation hinauf. Doch auch dort liegen bereits Schirme auf halber Höhe der Wiese startklar ausgebreitet. Neben der Windfahne tritt man sich wahrscheinlich gegenseitig auf die Zehen.

Ein anderer Trupp wandert zu den buckligen Grasflächen der früheren Startplätze unterhalb des Waldrandes. Vor zwei Jahrzehnten brauchte man die steilen Abhänge um überhaupt abzuheben.

 

Heute braucht man bloß irgendwo ein freies Fleckchen Wiese um in die Luft zu kommen.

Dank des immer noch kräftigen Südostwindes kann man auch vom „Rentnerplatz“ starten. Die Hügelkuppe direkt neben der Bergstation verdankt diesen Namen der Nähe zur Seilbahn. Selbst Fußmarode bewältigen diese Strecke. Und Eilige. Es gilt, die natürliche Ordnung (Einheimische oben, Holländer unten) möglichst rasch wiederherzustellen. Kurz darauf bin ich in der Luft und mitten drin in dem Gewusel aus bunten Schirmen.

So muss sich Fliegen in Andelsbuch anfühlen. Anstatt mich auf die Thermik zu konzentrieren, bin ich mehr damit beschäftigt, auszuweichen, abzudrehen und entnervt zu flüchten.

Aber dank der großflächig aufsteigenden Luftmassen gewinne ich trotzdem stetig an Höhe. Als ich das erste Mal den Bodensee erblicke, kann ich mich entspannt ins Gurtzeug lehnen. Ab 2000 Metern Höhe nimmt die Dichte der Grätschbein-Sitzer, permanenten Gegendreher oder erstarrt-Geradeausflieger endlich ab.

Die Thermik ist nun schwieriger zu zentrieren, weil sie nicht mehr dem Berghang entlang aufsteigt, sondern nur mehr vom Wind beeinflusst wird. Und der bläst mit zunehmender Höhe immer kräftiger aus Südosten.

„Föhn?“, fragt die ängstliche Stimme in mir und schiebt mir das Druckdiagramm vors innere Auge.

 

Föhn-Trauma

Ich befinde mich fast genau an der gleichen Position wie bei dem Horrorflug vor fast 25 Jahren. Obwohl schon ewig lange her, vergesse ich ihn nie. Damals war ich mit dem Schulungsdrachen unterwegs. Ich war als Dummy des Wettbewerbs Ludesch Open am Thüringerberg gestartet und stieg ohne Aufwand kontinuierlich nach oben. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ganz sanft glitt ich den Walserkamm entlang und stieg und stieg. Das Feld mit den Wettkampfpiloten ließ ich weit unter mir und ich war glückselig. In meinem Wahn, vielleicht sogar eine Task lang mithalten zu können, peilte ich den ersten Wendepunkt, die Kirche Übersaxen an. Ich stieg am Hoch Gerach vorbei und wollte über den Sendemast zum Gulm. Doch der Drachen schien nicht zu reagieren und schob mich ins Laternsertal hinaus. Angesichts des Waldes und des schluchtigen Talgrundes wurde mir mulmig und ich schlug einen Haken um 90°. Dann stand ich. Es gab damals noch kein Vario mit GPS, aber ich sah auch ohne Geschwindigkeitsanzeige, dass ich wie eine Boje über den steilen Abhängen des Laternsertales hing, wenn nicht sogar rückwärts flog. Da setzte Panik ein. Ich war zwar noch hoch überm Grat, aber etliche hunderte Meter hinter ihm. Wenn es mir nicht gelang, vorwärts zu kommen, würde ich ins Lee gespült werden.

Ich gab Vollgas, zog die Basis bis zu den Knien und wiederholte mantraartig nur mehr ein Wort: „Bitte, bitte, bitte, bitte.“

 

Ein Schulungsdrachen zeichnet sich nicht durch besonderes Gleiten aus. Es war ein Einfachsegler, der sich bei Vollspeed auftunnelte und statt mit Beschleunigung mit enormem Sinken reagierte. Mit einem Gleitwinkel „eins zu Stein“ stürzte ich kopfüber – so ist die Pilotenposition beim Drachenfliegen in Höchstgeschwindigkeit – auf den bewaldeten Grat zu. Meter für Meter, Tanne für Tanne kämpfte ich mich gegen den Südwind vor. Endlich war ich auf der Luvseite, aber dann fürchtete ich, am Sendemast aufgespießt zu werden. Ich getraute mich keine Kurve zu fliegen, aus Angst, nicht ausreichend Kraft zu besitzen, wenn der Wind von unten ins Segel greifen würde.

„Bitte, bitte, bitte!“

Ich sank der Geländekontur entlang, ständig in der Gefahr, zuviel Höhe zu verlieren und bei einem sich im Wind krümmenden Baum einzuhängen. Ohne eine einzige Kurve gelangte ich schließlich ins Schnifner Ried hinab, wo ich in einem Ost-Wind-Sturm heil landete. Ich zitterte am ganzen Leib und heulte gleichzeitig vor Erleichterung. Mein Mantra kehrte sich in „Danke. Danke. Danke“. Dann schwor ich mir, nie mehr bei einer Wetterprognose, die das Wort Föhn auch nur als Tendenz erwähnte, zu fliegen. (Den Wettbewerbspiloten war es übrigens nicht viel besser ergangen. Sie schafften es immerhin bis in den Walgau oder ins Rheintal, wo die Verhältnisse allerdings auch nicht rosig waren. Zum Glück gab es nur Materialschäden und keine Verletzte).

 

Blick in den Walgau und uns Schweizer Rheintal
Blick in den Walgau und uns Schweizer Rheintal

 

Wortbruch und Windbojen

Heuer habe ich meinen Föhn-Schwur schon mehrmals brechen müssen, denn sonst wäre ich kaum zum Fliegen gekommen. Aber ich fühlte mich nie wohl dabei.

Jetzt bin ich wieder über den Grat hinaus ins Laternsertal abgedriftet, doch das GPS auf meinem Vario berechnet die Windströmung mit 15 km/h. Das ist vorerst nur lästig, nicht gefährlich.

Aber ich bin auf der Hut, weil sich die Situation schlagartig ändern könnte. Jetzt empfinde ich es sogar als Glück, dass derart viele Gleitschirme in der Luft sind. Sie machen die Windverhältnisse in allen Höhenlagen sichtbar. Dass sie im Schnifner Ried sogar bei leichtem Westwind landen, beruhigt mich ungemein.

 

Statt Blauthermik müsste man heute von Buntthermik sprechen. Weit, weit über mir schwebt der rote Schirm von Armin und zeigt an, was möglich ist. Eine halbe Stunde später verteilen sich die Gleitschirme über den ganzen Walserkamm, jeden Gipfel zieren farbige Punkte.

Ich bin immer noch am selben Fleck. Eine Gefangene des Windes und der eigenen Unentschlossenheit. Es ist schön hier und die Thermik sanft und verlässlich. Jedesmal, wenn ich glaube, das Ende des Steigens zeichne sich ab, sehe ich einen Piloten, der noch höher ist. Das erlaubt mir, die Entscheidung nach dem „Wohin“ vor mir herzuschieben.

„Zuerst ganz nach oben“, heißt meine Rechtfertigung, an Ort und Stelle verharren zu dürfen. Als wäre ich jemandem eine Erklärung schuldig.

 

Blick vom Laternsertal aus zum Bodensee
Blick vom Laternsertal aus zum Bodensee

 

Ich genieße jeden Kreis. Das Ländle liegt mir buchstäblich zu Füßen. Die Luftmasse aus dem Süden ist trocken und lässt nur am Horizont – am deutschen Bodenseeufer und in der Silvretta kleine Wölkchen zu. Dazwischen füllt makelloses Blau den Himmel aus. Jede Erhebung, die die Waldgrenze überragt, ist mit frischem Schnee überzogen. Grate und Rinnen, die vor Tagen bereits ausgeapert waren und schmutzig braun den Frühling ankündigten, sind vom neuerlichen Wintereinbruch mit Deckweiß übermalt worden.

Doch die alten Lawinenbruchstücke an den Abhängen des Walserkammes, teils zimmergroße Blöcke, sind unter der dünnen Schneedecke nur schlecht verborgen. Als hätte man rasch ein Leintuch über ein unaufgeräumtes Chaos geworfen, um Sauberkeit vorzutäuschen, wenn die Sonne einen ihren seltenen Besuche abstattet.

 

Ich bin nun auf 2.700 Metern Höhe angelangt und befinde mich fast in der Mitte des Laternsertales. Es wäre einfach zur Hohen Kugel zu fliegen. Und dann? Ich käme gegen den Wind nie mehr zurück nach Schnifis. Es bereitet mir jetzt schon Mühe, mich bis zum Walserkamm vorzukämpfen. Mir ist es ein Rätsel, wie andere Piloten mit dem Wind zurechtkommen. Ich scheine als einzige in der Luft zu stehen. Als ich endlich den Hoch Gerach erreiche, habe ich 700 Meter Höhe eingebüßt und muss knapp vor dem Gipfel abdrehen, weil ich das Kreuz nicht touchieren will.

 

Genuss oder Überdruss?

Frustriert kehre ich zum Thermikschlauch beim Sendemast zurück und schraube mich allmählich wieder in die Höhe. Von unten kommen neue Piloten nach, manche müssen landen, viele drehen aber auf und fliegen schließlich davon.

Nur ich bin immer noch am selben Fleck.

Egal, es ist schön hier. Die Sicht, die ruhige Thermik – Zeit für Fotos.

Irgendwann zeigt mein Vario erneut 2.700 Meter. Armins roter Schirm ist schon lange über Faschina hinweg verschwunden. Ich beobachte zwei Piloten, die scheinbar ohne Höhenverlust in der Mitte des Walgaus Richtung Montafon gleiten, als hätten sie einen Motor am Rücken. Wie machen sie das?

 

Blick zum Hohen Fraßen (Mitte) und rechts ins Montafon
Blick zum Hohen Fraßen (Mitte) und rechts ins Montafon

 

Mein zweiter Versuch den Hoch Gerach zu überfliegen, scheitert wiederum kläglich am Gegenwind. Ich muss zurück zu meinem Thermikschlauch. Mittlerweile kenne ich die schöne Aussicht zur Genüge. Das Panorama wird durch die Schirme über den weit entfernten Gipfeln bunter, meine Laune davon trüber.

 

Panorama von der Sulzfluh (links) bis zum Panüeler (rechts)
Panorama von der Sulzfluh (links) bis zum Panüeler (rechts)

 

Wäre ich heute die einzige Pilotin am Himmel, wäre ich überglücklich. So aber beschleicht mich das Gefühl, irgendwie versagt zu haben. Nichts „aus dem Tag gemacht“, geschweige denn, das „Beste herausgeholt“ zu haben. Seit eineinhalb Stunden hänge ich mehr oder weniger über demselben Waldrücken, während andere „auf Strecke“ gegangen sind und ihre Geometrieflüge absolvieren, sprich: perfekte Dreiecke für die höchstmögliche Punktezahl beim xc-online-contest erfliegen.

Da kommt mir eine Idee. Ich könnte mich mit einem Quadrat beteiligen und meinem Flug ein geometrisches Denkmal setzen. Eine außergewöhnliche Form als Mittel gegen die Sinnkrise.

Absurd.

Aber das lächerliche Vorhaben gibt diesem Flug erstmals eine Zielrichtung. Ich steuere direkt und wild entschlossen auf das Schwarzhörnle auf der Südseite des Walgaus zu. Es geht so lange gut, bis ich ins Lee der Berge gerate. Mit großem Sinken biege ich rechtwinklig ab, tauche unterhalb von Gamp vorbei bis ich überm Campingplatz Nenzing bin und schlage dann einen 90° Haken zurück nach Schnifis. Leider habe ich mich verschätzt. Meine Höhe reicht gerade noch aus, den Landeplatz im Ried zu erreichen, das Quadrat bleibt unvollendet.

 

Keine Quadratur des Kreises

„Wie war’s?“, fragt Markus am Telefon.

Ich weiß nicht, wie ich meine Gefühle in Worte fassen soll. Denn „eigentlich“ war es ja ein schöner Flug (hätte ich die anderen Piloten nicht gesehen).

Fast schäme ich mich zu sagen, dass ich zwei Stunden lang nur am selben Hügel geflogen bin und mich bloß der Aussicht erfreut habe. Dabei war ich überzeugt gewesen, mich dem Leistungszwang erfolgreich zu widersetzen und nur zu meinem eigenen Vergnügen zu fliegen. Offenbar eine Illusion.

Wie Jean-Paul Sartre seinerzeit schon sagte: Die Hölle sind die anderen.

Ich ergänze: Wenn sie besser, höher und weiter fliegen.

 

Linus zeigte mir am nächsten Tag seine geometrische Figur am Display des Varios.

„Schau!“, sagte er, „Ich bin einen fast perfekten Kreis geflogen und dachte deshalb an dich.“ Wie nett!

Der Radius seines Fluggebietes ist zwar eine Spur größer als eine meiner Quadratseiten, trotzdem freute ich mich.

Das Vergnügen ist ja nicht von der Länge abhängig, oder?

;-)

 

Kopie aus Linus' Flugdaten des xc-contest
Kopie aus Linus' Flugdaten des xc-contest