(Entgegen Murphy's law)
Es ist Ende März. Die Magnolienbäume verströmen süßen Duft, die Vorgärten sind primelbunt. Ringsum im Grünland werden Frühlingsgefühle jedoch im Keim erstickt. Schwenkbare Güllespritzen, die an Kanonenrohre erinnern, feuern braune Fontänen bis in die hintersten Wiesenwinkel. Wo einst Himmelschlüssel gediehen, verklebt jetzt ätzende Flüssigscheiße den Boden und ich kann verstehen, wieso nektarliebende Insekten allmählich aussterben. Es gibt zu wenig Blüten und zu viele Bauern.
Nach einem langen Arbeitstag an der „frischen Luft“ stinken meine Haare, meine Kleidung und selbst mein Atem, als wäre ich in eine Jauchegrube gefallen. Ich hab die Nase gestrichen voll. Für den Körper reicht eine Dusche, das Gewand kommt in die Waschmaschine, aber die Seele giert nach einer anderen Art von Reinheit. Sie träumt von unberührter Natur ohne menschliche Spuren. Also ab in die Berge! Ich könnte eine Schitour im Firn unternehmen, oder per Gleitschirm in der Luft gehen.
Ich ringe um eine Entscheidung…
Der Wetterbericht kündigt eine klare Nacht an, gefolgt von einem wolkenlosen Tag. Diese Prognose macht eine Entscheidung schwer. Schifahren oder fliegen?
Solange ich unschlüssig bin und nicht weiß, was ich tun soll, nerve ich jeden in meiner Umgebung. Markus seufzt über meine Luxusprobleme und will sich nicht weiter dazu äußern.
In der Hoffnung, mich jemanden anschließen zu können, surfe ich auf Michaels Wetterseite herum. Mein Entschluss fürs Fliegen steht fast fest. Aber die Schnifner Bahn ist wegen Revision geschlossen und am Hochjoch war ich bei Schnee noch nie.
Ich rufe Thomas an und frage, wie es dort oben zum Starten sei.
„Geht schon“, sagt er und macht dann eine lange Pause, als müsse er überlegen, wie er die komplexe Situation in eine für mich eine verständliche Sprache bringen soll.
„Es kommt halt drauf an –“, wieder eine Pause, „wie es so ist.“
„Aha, Verstehe. Und wie ist es so?“, hake ich nach.
„Also richtig gut war es bislang nie“, gesteht er. „Wind von hinten, Wind von der Seite, der Schnee -“. Pause. „Aber wenn man mal in der Luft ist, dann ist es super!“
„Danke Thomas, hast mir sehr geholfen!“- Eine glatte Lüge. Ich tendiere wieder zur Skitour.
Im Internet finde ich Fotos vom Startplatz. Ein kleines Schneefeld für nur einen Schirm. Hinten begrenzt von einer Wechte, vorne gleich der Steilhang.
Für meinen ersten Flug in diesem Jahr wäre mir eine sanft geneigte Wiese lieber.
„Und?“, fragt Markus spätabends, „weißt du endlich, was du morgen machst?“
Ich blicke ihn gequält an.
Schleunigst vertieft er sich wieder in seinen Tolstoi: Krieg und Frieden.
Ein seltsamer Titel, fällt mir auf. Kein ODER, das eine Entscheidung verlangt, sondern ein verbindendes UND. Wäre dies eine Lösung für mich: Schitour UND Fliegen?
… und treffe die falsche
Am nächsten Tag fahre ich mit Markus nach Schnifis. Ohne Schi. Ich habe den Gleitschirm dabei und hoffe auf irgendein Wunder. Sollte es nicht eintreffen, würde ich das Postauto bis zur Parzelle Boden nehmen, ein Stückchen wandern, starten und bald darauf wieder unten stehen. Denn Schnifis liegt heute in einer stabilen Luftmasse, die das Tal fast bis zur Waldgrenze hinauf füllt und keine Chance auf Thermik bietet. Ich habe mich falsch entschieden. Ob Schitour oder ein Flug vom Hochjoch, alles wäre besser gewesen, als ein 10-Minuten-Abgleiter in Schnifis.
Ein Wunder namens Wolfgang
Völlig unerwartet taucht Wolfgang auf, denn die Flugschule hat heute offiziell geschlossen. Ihn trieb die schiere Not hierher: Er will unbedingt fliegen, aber an seinem Schirm ist eine Leine kaputt.
„Und wo wirst du starten?“, frage ich so beiläufig wie möglich, während Markus eine Ersatzleine näht.
„Hochjoch“, antwortet er und mein Herz hüpft vor Freude. Er ist das Wunder, auf das ich gehofft habe.
Ein paar Minuten später sitze ich bei ihm im Auto und wir fahren nach Schruns und von dort mit der Zamang- und Sennigratbahn hinauf. Wolfgang hat eine Wintersaisonkarte, mich kostet die „Fußgängerkarte“ ins Schigebiet 19 €. „Dafür ist die Talfahrt inkludiert“, sagt die Dame an der Kassa und blickt angestrengt an meinem Gleitschirmrucksack vorbei.
Von der Bergstation des Sesselliftes queren wir gefrorene Schneefelder in Richtung Wormserhütte. Ausrutschen sollte man hier nicht. Vorsichtig balancieren wir über die vereisten Trittspuren der Vortage. Dann sind wir da. Ein zerfetzter Windsack markiert die Stelle, wo der Felsgrat endet. Die Schneefläche dahinter trügt. Sie ist eine Wechte ragt und weit über die Felsen hinaus.
„Nicht draufsteigen“, warnt mich Wolfgang.
Der begehbare Teil des Schneefeldes ist übersät mit Schuhabdrücken, die sich zu einer festgetrampelten Startbahn vereinen. Daneben zeigen beeindruckende Löcher, wie tief man versinken kann, wenn der Schnee aufgeweicht ist.
„Und wie geht es vorne weiter?“, frage ich und deute in die Richtung, wo die Fußspuren immer weniger werden und das Schneefeld sich nach unten wölbt.
„Da wird es richtig steil“, sagt Wolfgang vergnügt als würde er mir eine frohe Botschaft verkünden, „und irgendwann kommen dann Felsen oder Lawinenverbauungen.“
„Ah“, mehr kann ich nicht durch meine plötzlich eng gewordene Kehle quetschen. Ich sehe mich nach einem missglückten Start im Schirm verwickelt den vereisten Schneehang hinabsausen und unten an einem Lawinenrechen zerschellen.
Mother’s Law
Danke Mama, murmle ich und schüttle den Kopf um die Katastrophenfantasien zu verscheuchen. Sie sind mir von Kindesbeinen an eingeimpft worden. Mama war (und ist es heute noch) Spezialistin für worst-case Szenarien. Es mag ja üblich sein, dass man sein Kind vor den Scherben warnt, damit es das Trinkglas nicht fallen lässt. Aber meiner Mutter war das zu banal. Sie, die Negativspiralen stets konsequent zu Ende dachte, prophezeite mir, was passieren würde, wenn ich auf das Glas nicht aufpasste: „Du wirst dir an den scharfen Kanten alle Fingerchen abschneiden!“
Als ich in der Schule zum ersten Mal von Murphy’s law hörte, dachte ich, Murphy müsse meine Mutter gekannt haben. Er sah es als eine Gesetzmäßigkeit an, dass allein die Möglichkeit einer Katastrophe früher oder später auch zur selbigen führen würde. Der Volksmund formulierte es so: Alles was schief gehen kann, geht irgendwann einmal schief. Mamas Gesetz war drastischer, denn es ließ den Zeitfaktor weg. Bei ihr stand die Katastrophe unmittelbar bevor. Gemäß dieser Erziehung kann mich ein Weltuntergang nicht überraschen, denn unbewusst rechne ich immer mit dem Schlimmsten. Wolfgang hingegen scheint völlig angstfrei zu sein.
Hier ein Beispiel: Letztes Jahr musste ich im Rellstal landen. Ich hatte mich versenkt und nicht genügend Höhe um durch das schluchtartige Talstück nach Vandans zu fliegen. Kaum stand ich am Boden, kam Wolfgang, deutlich niedriger als ich zuvor und flog nach Vandans. Einfach so. Getragen von einem Urvertrauen, das ich nicht kenne.
Beim nächsten Zusammentreffen sprach ich ihn darauf an, erzählte ihm von meinen Ängsten, in dieser Waldschlucht an einem Baum zu streifen, in die Felsen zu knallen, etc. Ich hörte regelrecht Mamas Stimme aus mir sprechen.
„Deine Warnung hat mir damals zu denken gegeben“, gestand Wolfgang heute während der Fahrt nach Schruns. Ihre Wirkung kehrte sich jedoch ins Gegenteil und führte beinah zur Katastrophe. Wolfgang war nämlich nochmals in dieselbe Situation geraten und flog wieder mit geringer Höhe im Rellstal herum. Nun hatte er aber meine Angstbilder im Kopf und schreckte davor zurück, seinen arglos gemachten Flug zu wiederholen. Er drehte im letzten Moment ab, erreichte die Wiese nicht mehr und krachte mit Rückenwind ins felsige Bachbett.
Dass er das überlebte, ist gemäß meiner Weltsicht ein Wunder. Für Wolfgang hingegen eine Selbstverständlichkeit.
Eine Sache des Vertrauens
Jetzt steht er zuversichtlich am Startplatz und freut sich auf den Flug. Keine Spur von Angst. Warum auch? Die Sonne scheint, ein leichter Aufwind weht, was soll passieren? Es gibt keinen Grund für einen Fehlstart (auch wenn Mama garantiert einen finden würde). Ich weiß, dass ich hier gefahrlos starten kann. Trotzdem ist mir im Magen flau.
Es kommen noch mehr Piloten, darunter auch Kurt. Kurt ist ein guter Pilot aber kein Draufgänger. Dass er hier starten will, beruhigt mich. Aus Dankbarkeit schlinge ich meine Arme um ihn und drücke ihn fest an mich. Kurt weiß gar nicht, wie ihm geschieht und ich stottere irgendeine Erklärung für meinen spontanen Sympathieanfall. Niemand würde mir glauben, dass ich mich vor dem Start fürchte. Weil ich etwas von Kurts „gefahrlosem“ Alter gefaselt hatte, will auch der gleichaltrige Robert eine Umarmung – aber danach reicht es mir. Genügend Zuversicht ist getankt, ich bin reif für den Start. Fehlt nur noch die Thermik.
Wolfgang, der schon seit einer Viertelstunde in der Luft ist, wollte Richtung Zamangalpe und dort an der aperen Südseite des Hochjochs Aufwinde finden. Seit er hinter der Geländekante verschwunden ist, ward er nicht mehr gesehen.
Kurt und Robert sind trotzdem optimistisch und probieren es in die andere Richtung. Ich warte noch. Erst als ich sehe, dass sich die beiden über dem Bergrestaurant halten können, starte ich. Problemlos und sicher. Ätsch Mama!
Alles ist gut, oder?
Obwohl ich seit fünf Monaten nicht mehr geflogen bin, fühlt sich alles vertraut an. Fliegen verlernt man eben nicht, denke ich und werde zehn Minuten später eines Besseren belehrt. Kurt und Robert steigen neben mir weg, während ich verzweifelt nach dem Aufwind suche, der sie nach oben trägt. Ist es ein gemeiner Zufall, der mich unter der 2000 Meter Marke gefangen hält, oder liegt es an meinem Flugstil, der noch zu plump für die schwache Thermik ist?
Ich versuche mich mit dem Gedanken zu trösten, dass es mir heute Morgen am wichtigsten erschien, den ersten Flug sicher und problemlos über die Bühne zu bringen. Muss ja nicht gleich ein Streckenflug sein, dachte ich bescheiden. So kann man sich anlügen. Ich bin das Gegenteil von bescheiden. Neid und Gier erfüllen mich beim Blick hinauf zu Kurt und Robert, die jetzt zum Bartholomäberg hinüberwechseln und mich alleine über dem verdammten Restaurant der Bergstation zurücklassen. Ich hasse die Ansammlung von bunten Liegestühlen unter mir, möchte den Blicken, die meinen Flug verfolgen, entfliehen und sinke dennoch immer weiter zu ihnen hinab. Schon kann ich die Musik hören, die die Sonnenbadenden beschallt während das Vario beharrlich schweigt.
Ein blauer Schirm nähert sich. Ich habe ihn vor kurzem starten gesehen. Jetzt ist er neben mir, fliegt einen Kreis und steigt! Das gibt es doch nicht!
Endlich, ich bin schon auf 1.800 m hinabgesunken, beginnt auch mein Vario zu piepsen. Zögerlich, aber immerhin. Südwind verbläst die Thermik in Richtung Silbertal, es ist schwierig sie nicht zu verlieren. Aber nun fliege ich mit höchster Konzentration. Diese letzte Chance darf ich nicht verpassen!
Es gelingt mir, die Höhe des Startplatzes zu erreichen. Mehr ist leider nicht drinnen. Die Thermik stoppt an einer unsichtbaren Inversionsschicht auf knapp 2.100 Meter. Aber durch den Südwindversatz bin ich dem Bartholomäberg ein Stückchen näher gekommen, sodass ich die Talquerung wage.
Wo sind bloß Kurt und Robert?
Hab Vertrauen!
Während ich mit frustrierenden zweieinhalb Metern pro Sekunde zum Fritzensee hinabsinke, erspähe ich einen Schirm überm Itonskopf. Er ist wie eine Verheißung, die verspricht: „Nach dem Tiefpunkt der Talquerung wird dein Aufstieg in Gipfelhöhe erfolgen, denn die Wiesen des Bartholomäbergs sind aper und die Sonne heizt die Südosthänge seit dem Vormittag auf!“
Zuversichtlich suche ich die verkündete Thermik. Vergeblich. Ich sinke so tief, dass ich Baumwipfeln ausweichen muss. Die Mama-Stimme prophezeit mir, dass ich es unter diesen Umständen nicht einmal bis zum Landeplatz schaffen werde, sondern irgendwo am Hang einlanden müsse (und mir den Knöchel verstauchen werde, etc). Ich würge den unheilvollen Gedanken ab.
Da zupft Aufwind am Schirm. Augenblicklich reiße ich eine Kurve, viel zu steil, vernichte den Höhengewinn und bin danach tiefer als zuvor. Das war dumm. Beim nächsten Heber bin ich vorsichtiger, warte erst einmal ab, wie sich die Thermik entwickelt. Wusch, es raschelt über mir, - ich habe „eine aufs Dach“ bekommen.
„Öha, bizzile turbulent hier“, sage ich laut. Idiotische Selbstgespräche beruhigen mich, wie andere Menschen das Pfeifen im dunklen Wald. Sie übertönen nämlich die Absturzwarnungen, die Mamas Stimme mir einflüstern will.
Auf weiteres Ungemach gefasst, steure ich dieselbe Stelle nochmals an. Das Vario piepst laut, steigert sich und verstummt plötzlich. Die Thermik ist zu eng für einen vollen Kreis. Aber die dreiviertel-Umdrehung hat mich immerhin zehn Meter höher gebracht und den Abstand zu den Baumwipfeln vergrößert. Ich beginne mich zu entspannen. „Geht doch, Baby.“ Womit ich natürlich den Schirm meine.
Die aufsteigende Luftsäule weitet sich nach oben hin wie ein Trichter auf, verliert dabei aber nicht an Intensität. Im Gegenteil. Endlich geht’s richtig ab! In einer langgezogenen Spirale steige ich an den Bäumen vorbei hinauf zu den Schneefeldern, die sich als blendendweißer Latz um den Felsgipfel des Itonkopfes schmiegen. Die Thermik reißt auch über dem Grat nicht ab, sondern trägt mich darüber hinweg in den wolkenlosen Himmel hinein. Was für ein Genuss! Zum Glücksgefühl, „es geschafft“ zu haben, kommt der einmalige Fernblick, den die trockene Luft ermöglicht. Die Schneeberge reflektieren das Sonnenlicht, als hätte man sie verspiegelt. Ihr Gleißen treibt mir Tränen in die Augen.
Unberührtheit gibt es nicht
Auch Schifahren wäre heute schön gewesen, aber ich hätte sicherlich keinen von Menschen unberührten Schnee vorgefunden. Hier, direkt unter mir, sehe ich nur Fährten von Gämsen, die ausgeaperte Hügelkuppen miteinander verbinden. Ein Netz aus Fresswegen mit Abzweigungen zu Latschen, die Schutz und Deckung bieten. Nur eine Spur tanzt seltsam aus der Reihe. Um sich selbst kreisend malt sie ein Schnörkelmuster in den Firn, das an die verschlungenen olympischen Ringe erinnert. Sind diese magischen Schneeornamente das winterliche Äquivalent zu den Kornkreisen? Des Rätsels Lösung liegt am Rand der Szene und bildet einen hässlichen Fleck aus Fellresten und Blutspuren. Hier hat der Fuchs den panisch umherjagenden Hasen endlich erwischt. Die schönen Spurgirlanden zeugen von Todesangst und Triumph zugleich.
Vor lauter Schauen habe ich die Thermik verloren. Dabei hatte ich mir vorgenommen, beim Erreichen von 2.500 Metern das Klostertal zu queren. 2.450 Meter zeigte das Vario bereits, aber seither sinke ich wieder. Macht nichts, denke ich mir und fliege vor zum Wannaköpfle, das ich schon lange nicht mehr schneebedeckt gesehen habe. Die alten Schispuren sind verwaschen und kaum zu erkennen. Als habe ein wässriger Pinsel Schlangenlinien über weißes Papier gezogen.
Gegensätze
Ich fliege weiter Richtung Davenna, wo ich mir Thermik aus den steilen Wald- und Wiesenflanken, in denen kein Schnee mehr liegt, erwarte. Der schmale Grat unter mir bildet eine Temperaturscheide. Links die warmen Farben des Herbstes, die unterm Schnee konserviert waren und nun wieder leuchten, als wäre das goldgelbe Gras erst vor wenigen Tagen verdorrt.
Rechts die bläuliche Kälte, die die Schattenbereiche zwischen den Felsschrofen beherrscht und dort solche Schneemengen angehäuft hat, dass sie dem halben Sommer zu trotzen vermögen.
Der Südwind verbläst die Thermik nach Norden und ich kreise über der Winterlandschaft mit den dunklen Nadelwäldern. Mich friert plötzlich, obwohl das mit der tatsächlichen Lufttemperatur nichts zu tun haben muss. Ich bekomme auch im Sommer Gänsehaut, wenn ihm Fernsehen eine Doku über die Arktis gezeigt wird.
Ob eingebildete Kälte oder nicht, meine klammen Finger schmerzen und ich blicke sehnsüchtig auf die Sonnenseite des Klostertales hinüber, wo sich aus erstaunlich grünen Wiesen die Felswände erheben, über die sich der Masonbach hinabstürzt, als wolle auch er so rasch wie möglich den schneebedeckten Hochalmen entfliehen.
Endlich zeigt mein Vario wieder 2.500 Meter Höhe an und ich steure auf den Regenbogen, der in den Gischtwolken über dem Wasserfall gefangen ist, zu.
Die Schneeschmelze hat den Masonbach zu einem beeindruckenden Wildbach anschwellen lassen. Die Wassermassen schießen einige Meter weit über die Felskante hinaus, bevor sie im freien Fall in Millionen funkelnder Wassertropfen zerbersten. Ich hätte dem Schauspiel gerne länger zugeschaut, aber die Thermik trägt mich so sanft höher, dass ich sie nicht verschmähen darf.
Kurz darauf bin ich über der felsigen Flanke des Klostertales und blicke erneut auf Winterlandschaften. Dahinter erhebt sich der mächtige Klotz der Roten Wand und ich frage mich, ob ich es jemals schaffen werde, diesen Berg zu überfliegen.
Vor mir liegt ein unbeschreiblich schöner Streckenabschnitt: Ein bizarrer Felsgrat, mit Türmen auf denen schiefe Schneehauben sitzen und Scharten, die das Ausmaß von abgrundtiefen Schluchten erreichen. Das noch komplett schneebedeckte Hinterland bricht jäh ins Klostertal ab, Wechten spannen sich wie elegante Brücken zwischen die Felszacken. Es scheint, als würden die runden Formen des Winters versuchen, die schroffen Auswirkungen der Erosion zu mindern. War es beim Davennagrat nur der Gegensatz zwischen warm und kalt, so gesellt sich hier noch die Spannung zwischen hart und weich dazu.
Ich fingere die Kamera hervor und opfere etliche Höhenmeter, um die Eindrücke festzuhalten. Dann schwebe ich diesen Grat entlang. Die Luft ist ganz ruhig und es kommt mir fast so vor, als würde ich vom Wohnzimmersessel aus Filmaufnahmen betrachten. Ohne jede Thermik sinke ich beständig hinab und bald trennen mich nur mehr wenige Meter von der Gratkante. Der Blick in den Abgrund unter mir ist schaurig schön und es kribbelt in der Bauchgegend. Am liebsten würde ich in der Luft stehen bleiben!
Aber ich muss den Grat verlassen, denn er bäumt sich zum Rücken der Gamsfreiheit auf. Ich schwebe auf Höhe des Gipfelkreuzes vorbei, an dessen Querbalkenenden je eine schwarze Krähe hockt. „Krrroak“, sagte die eine und ich grüße zurück. Die andere putzt sich das Gefieder und nimmt keine Notiz von mir.
Hinter der Gamsfreiheit, wo der der Grat wieder abfällt und ich erneut über ihm fliegen kann, erhoffe ich mir Thermik. Vergebens. Ich gleite weiter bis ich über der trichterartigen Schlucht des Grubser Tobels bin. Nun ist es mit der Beschaulichkeit vorbei. Die Thermik fühlt sich bockig und unwillig an, als ritte ich auf einem jungen Gaul, der sich weigert, mich zu tragen. Aber ich lasse mich erst abschütteln, als ich auf die Elsaspitze hinabblicken kann. Mit dieser Höhe komme ich zumindest nach Ludesch, denke ich. Insgeheim aber hege ich die Hoffnung, dass ich es bis Schnifis schaffe. Dann würde sich der Kreis des heutigen Tages vollständig schließen.
Telepathie wäre sicherer
Auf dem Weg zum Hohen Fraßen gesellt sich ein Adler zu mir. Er scheint bemüht, sich meinem Gleitwinkel anzupassen und zieht die Flügel leicht an, sobald ich tiefer bin als er. Nachdem er mich ausgiebig mit dem rechten Auge betrachtet hat, lässt er sich kurz zurückfallen und wechselt auf die andere Seite. Als das linke Auge nichts anderes sieht, dreht er gelangweilt ab und steigt davon. Wie macht er das? Mein Vario meldet keine verwertbare Thermik und so fliege ich mit geringem Abstand über die Fraßenhütte weiter zum Ludescherberg. Wenn ich bis Schnifis kommen will, muss ich hier Höhe tanken. Da fällt mir ein, dass Markus vielleicht gar nicht mehr in der Flugschule ist, dann wäre es dumm für mich, dort zu landen. Soll ich ihn anrufen? Ich habe letzte Woche vom meinen Arbeitgeber ein nagelneues Iphone bekommen, das in einer verschließbaren Tasche des Gurtzeuges steckt. Weil es dort nur für den Notfall (Baum- oder Bruchlandung) verwahrt ist, habe ich es nicht mit einem Bändel gesichert. Ich verschiebe den Anruf auf später, zuerst will ich mich der Thermik widmen, die meinem Vario die ersten Piepser seit langem entlockt. Da klingelt das Telefon. Ich bin mir sicher, dass es Markus ist. Diese Art der Gedankenübertragung haben wir oft genug erlebt. Leider reicht unsere geistige Verbindung nicht aus, konkrete Botschaften zu übermitteln. Da sind wir nach wie vor auf die Telekommunikation angewiesen. Ich schlüpfe aus einem Handschuh und krame vorsichtig das Iphone heraus. Der Touchscreen reagiert nicht auf meine kalten Finger und der Anruf ist verpasst. Nun brauche ich auch die zweite Hand zur Bedienung und muss die Steuerleinen loslassen. Ausgerechnet jetzt klettern die Steigwerte über die Ein-Meter Marke hinaus! Mit Gewichtsverlagerung versuche ich vom Hang wegzusteuern, während ich den dämlichen Entsperrungs-Code eintippe und Markus’ Nummer wähle. Da fällt mir ein, dass ich mit Helm ja nichts hören kann und auf Lautsprecher schalten muss. Als es lang genug geläutet hat und ich annehme, dass Markus nun dran ist, schreie ich gegen den Fahrtwind, dass ich versuchen würde, zu ihm zu fliegen und er in Schnifis warten solle. Dabei komme ich den Bäumen gefährlich nahe und muss mit der freien linken Hand rasch die rechte Steuerleine greifen, um gegenzulenken. Das Vario piepst immer noch. Unglaublich. Ich habe ohne mein Zutun fast hundert Meter Höhe gemacht. Ich lasse das Telefon in die Tasche des Gurtzeuges zurückgleiten, aber irgendetwas fühlt sich dabei komisch an. Als hätte die Tasche keinen Boden. Schreck fährt mir in die Glieder und ich schaue nach unten. Fällt da ein Iphone hinab? Ich versuche mir den Ort einzuprägen und die Wiese zu merken, wo es aufgeschlagen wäre. Oder ist es noch irgendwo im Gurtzeug, vielleicht in einer Falte hängengeblieben? Nur keine unnützen, heftigen Bewegungen machen!
Wie sollte ich denn den Verlust meinem Chef erklären? Dringendes Telefonat in luftiger Höhe?
Hoffnung versus Murphy’s law
Das Vario hat das Piepsen aufgegeben. Ich weiß zwar, dass meine jetzige Höhe nicht ausreicht, um Schnifis zu erreichen, aber vielleicht passiert ja noch ein Wunder.
Über dem Thüringer Weiher beginnt sich das Wunder zu manifestieren. Im Geradeausflug jubiliert das Vario und ich gewinne Höhe, aber sobald ich zu einem Kreis ansetze, bläst mich der Talwind zurück und ich befinde mich schlussendlich an derselben Stelle wie zuvor. Mit dem Gedanken an das eventuell im Gurtzeug liegende Handy beschließe ich im Märchental an der Straße nach Schnifis zu landen.
Allerdings habe ich die Turbulenzen an diesem Ort unterschätzt. Mir war zwar klar, dass ich mich im Lee des Tschanischahügels befinde, aber mit derartigen Verhältnissen hatte ich nicht gerechnet. Thermik schleudert mich in die Höhe und in der nächsten Sekunde kippt der Schirm seitlich weg, dass man die Mär von den Luftlöchern fast glauben könnte. Ich kämpfe darum, den Schirm zu stabilisieren und gleichzeitig irgendwie aus diesem Teufelskessel weg zu kommen. Seitlich drifte ich allmählich Richtung Walgau hinaus und kann schließlich in Thüringen zwischen zwei Einfamilienhäuschen landen.
Sicher auf dem Boden zu stehen, ist die erste Erleichterung. Aber wo ist das Handy? Am Ludescherberg hinabgefallen oder im Märchental herausgeschleudert worden? Die Tasche, wo es hingehört hätte, ist jedenfalls leer. Mit fiebrigen Händen taste ich im Gurtzeug herum und finde es tatsächlich! Es liegt lose hinter den Beingurten und hätte ganz einfach hinausrutschen und Mamas Logik zur Folge dabei mindestens einen unschuldigen Spaziergänger erschlagen können. Aber Murphy’s Law war heute außer Kraft gesetzt.
„Yeah!!“
Ich vollführe einen Freudentanz und reiße mir dabei die viel zu warmen Sachen vom Leibe. Anorak und Daunenjacke, Schal und Überhose, Faserpelz und Schisockenstulpen. Bis ich im T-Shirt in der Frühlingsonne stehe. Ach ja, der Helm, den hätte ich fast vergessen!
Als ich zum Haus blicke, weil ich mich beobachtet fühle, pendeln die beiseite geschobenen Gardinen des Fensters wieder zurück. Der seltsame Striptease einer Verrückten hat wohl Besorgnis erregt.
Egal.
Der Hummelstart in die neue Saison ist geglückt!
Und nichts ist passiert, Mama.....