Swisshummel                        27. August 2016

(Unerwartete Grenzerfahrung)

 

Ende August, kurz nach dem letzten Schneefall, bricht der Sommer über Vorarlberg herein und wirft die bereits beklagten negativ-Statistiken der Freibäder über den Haufen. Eine wolkenlose Hitze treibt die Menschen scharenweise ins kühlende Nass oder in die Berge. Stabiles Hochdruckwetter, garantiert wolkenlos und gewitterfrei, mit Warmluftzufuhr auch in der Höhe – frustrierender kann eine Prognose für einen thermikliebenden Gleitschirmpiloten kaum sein. Ich verkrümle mich am Mittwoch zum Wandern in die Silvretta und sehe dort den Adlern beim Flattern zu.

Am Freitag tauchen die ersten Segelflieger über den Gipfeln auf, winzigen Wolkenfetzen nachjagend, die sie jedoch nie erreichen. Die Wetterprognose für das Wochenende schmückt sich mit einem neuen Wort: Gewitter. Zwar nur mit einer geringen Wahrscheinlichkeit, aber immerhin. Zur Klarstellung: Kein Pilot wünscht sich Gewitter, aber es ist ein Hinweis auf Veränderung. Endlich tut sich etwas in der Atmosphäre.

Am Samstag ist der Startplatz am Golm gerammelt voll. Michael hatte am Vorabend auf seiner Webseite (www.meteo.mkessler.at) verkündet, dass er am Golm zu finden sein werde. Ein neuer Wetter-Guru ist geboren.

 

Ohne Ambitionen…

Ich bin auch hier, obschon aus anderen Gründen wie die meisten. Die Streckenflugsaison habe ich abgehakt. Vielleicht, weil es bereits so herbstlich war. Daher ließ ich Kamera und Reisepass zuhause. Zum ersten Mal heuer.

Um ehrlich zu sein, schleppte ich meinen Schirm nur hier herauf, weil ich daheim sonst für eine unangenehme Arbeit eingeteilt worden wäre. Ein Fluchtflug quasi. „Ich muss unbedingt fliegen gehen“, log ich meine Mutter an, „denn heute ist der Tag der Tage!“

Dabei füllt eine Dunstsuppe das Tal auf und schwappt sogar über die niederen Gipfel hinweg. Thermisch aktive Luft sieht anders aus. Kilometerzahlen von geplanten Flugrouten, die in den Startplatzgesprächen zu hören sind, werden allmählich nach unten revidiert.

Mir ist das egal. Hauptsache ich bin hier und nicht zuhause. „Genießen wir doch einfach die Aussicht“, rate ich angesichts der trüben Inversionsschicht. Obwohl dieser Vorschlag nicht zynisch gemeint war, ernte ich wenig Sympathie dafür.

Während ich mich innerlich schon mit einem Gleitflug abgefunden habe, will Michael wissen, weshalb ich so gar keine Lust zeige, „auf Strecke zu gehen“.

Ich vermute, dass die Inversion die Thermik bei rund 2.500m deckelt und keine Talquerung zulässt.

„Dann musst du eben auf die Schweizer Seite wechseln!“, ruft Michael enthusiastisch.

„Sicher nicht“, sage ich entschieden.

„Wieso nicht?“, fragt Michael ungläubig.

Am liebsten würde ich antworten: „Lies meine diesbezüglichen Erfahrungen in den Berichten x-Hummel 1 und 2 nach, dann verstehst du meine Aversion gegen diese Route!“

Stattdessen aber sage ich, ich hätte keine Franken dabei, und ohne ein paar „Stutz“ abzuwerfen, würden die Schweizer bekanntlich keine Thermik aufsteigen lassen.

Michael grinst pflichtbewusst, er ist ja ein liebenswerter und höflicher Kollege, aber zwei Piloten, die das Gespräch teilweise mitgehört haben, wollen von mir genauer wissen, wie ich das gemeint hätte, von wegen keine Thermik in der Schweiz oder nur gegen Bares. Obwohl sie mit mir Hochdeutsch sprechen, ist ihr Schwizerdütsch unverkennbar.

Mist. Am Startplatz liegen mehr Fettnäpfchen als Kuhfladen herum. Es wird Zeit in Luft zu kommen. Außerdem graut mir davor, dass wir uns bald den geringen Spielraum zwischen Startplatz und Inversionsdecke streitig machen werden. Das ist ziemlich wenig Luft für so viele (ehrgeizige) Piloten.

 

…aber trotzdem nicht bereit gleich aufzugeben

Es kommt, wie ich befürchtet habe. Gleich nach dem Start wird es in einem schwachen Bart recht eng. Einer mit einem roten Schirm hält sein Aufsteigen für wichtiger als meines und drängt mich sukzessive aus der Thermik hinaus. Ich habe keine Nerven für einen Platzkampf und flüchte lieber. Doch anstatt abzusaufen fliege ich prompt in den nächsten, deutlich besseren Bart hinein. Ich freue mich wie das sprichwörtlich blinde Huhn über das zufällig gefundene Korn.

Mein kräftiges Steigen bleibt nicht unbemerkt und der rote Schirm nimmt augenblicklich Kurs auf mich. Aber dieses Mal bin ich rücksichtslos. Auf meine Art. Der Bart gehört mir! Ich habe ihn „ausgegraben“ und bestimme daher die Drehrichtung. Im Gegensatz zu vielen anderen Piloten habe ich mir meine Schokoladenseite abgewöhnt. Mir ist egal, in welche Richtung ich kreise. Die Mehrheit bevorzugt rechts. Ich leite einen Linkskreis ein. Zwei andere Piloten, die in meinen Bart gewechselt sind, haben kein Problem damit. Synchron steigen wir in einer Linksspirale höher. Aber der Pilot des roten Schirms, dem meine Rache gilt, kommt damit nicht zurecht. Immer wieder versucht er, ausschließlich rechtsdrehend wie ein probiotisches Joghurt, einen Teil der Thermik mitzunehmen. In der Folge fliegt er stets einen Halbkreis in sinkender Luft und bleibt weit unter uns zurück. Nachdem ich ihn abgehängt habe, stelle ich wieder auf rechts um. Den anderen zu liebe. Ich bin ja nicht so.

 

Sicher nicht in die Schweiz!

Meinen Freund Steffen, der als erster gestartet ist und bereits eine kleine Sondierungsrunde geflogen ist, treffe ich überm Kreuzjoch wieder. Die Thermik ist sehr schwach und verpufft auf rund 2.500 Metern Höhe. Wir parken an der Inversionsgrenze und beobachten die anderen Piloten. Etliche wechseln trotz der geringen Operationshöhe auf die Schweizer Seite hinüber. Ich bewundere ihre Zuversicht.

Auf mindestens 3.000 Metern Höhe müsste ich mich befinden um diese Flugroute überhaupt in Erwägung zu ziehen, hatte ich vorhin gesagt und die leidige Schweizdiskussion damit abgewürgt.

Noch während ich diesen Gedanken nachhänge, beginnt die Luft zu brodeln, es zupft hier und dort am Schirm. Ohne einen richtigen Steigkern zu finden, blubbere ich hundert Meter höher und erkenne am frischen Geruch, dass ich durch die Inversion hindurch bin. Das schwülfeuchte Gemisch ist einer klaren, kalten Luft gewichen. Gleichzeitig schlägt das Vario neue Töne an, die Thermik wird kräftiger und bildet einen schönen „Körper“ aus. Mir fehlt das richtige Wort um die unsichtbare Luftbewegung zu beschreiben. Ich stelle sie mir ebenmäßig wie ein gedrechseltes Tischbein vor. Ohne störenden Windversatz und Inversionen variiert bloß ihr Durchmesser. Es ist ein Genuss, darin zu kreisen. Der Druck auf den Steuerleinen bleibt verlässlich gleich und wie in einem Fahrstuhl, bei dem man nur einen Knopf drücken muss, geht es konstant aufwärts. Am Ende der Himmelsfahrt erwartet Steffen und mich ein kleines Wölklein und am Variodisplay springt die Tausenderstelle von 2 auf 3.

3000 Meter! Damit hatte ich heute nicht gerechnet. Was nun?

Für Steffen lautet die Antwort offenbar Schweiz. Schon zieht er Richtung Schesaplana davon.

 

Glaub nicht alles, was du sagst

Zwei Kreise später fliegt mein Schirm in dieselbe Richtung, obwohl ich mich nicht daran erinnere, diese Entscheidung bewusst getroffen zu haben. „Wenn es nicht gut gehen sollte, kann ich ja immer noch umkehren oder zur Not im Rellstal landen“, beruhige ich mich. Mein Herz klopft trotzdem schneller.

Steffen, der zuvor noch höher war als ich, ist nun unter mir. Er peilt der Freschluakopf vor dem Lünersee an. Kurz darauf fliege ich in sinkender Luft, während Steffen schon wieder steigt. Der Abstand zwischen uns wird rasch größer und ich komme mir verloren und abgehängt vor. Am liebsten würde ich umkehren oder stehen bleiben wie ein trotziges Kind, dem die Mama zu schnell gegangen ist und das nun schmollend darauf wartet, dass Mama zurückkommt und es an der Hand nimmt. Aber ich bin 49! Also treffe ich die altersgemäße Entscheidung, die eingebrockte Suppe selbst auszulöffeln und fliege weiter. Was habe ich zu verlieren? Nichts! Zuhause wartet bloß Arbeit auf mich.

 

Und beim Freschluakopf piepst auch mein Vario wieder. Glücklich darüber den Anschluss gefunden zu haben, gönne ich mir eine Verschnaufpause. So lange es piepst, kümmere ich mich weniger um die Suche nach dem besten Steigen, sondern genieße die Landschaft. Der Lünersee hat es mir besonders angetan. Wie hypnotisiert starre ich auf die Wasserfläche. Sie wirkt dunkler als sonst. Irgendwie unheimlich. Im Frühjahr ist der See türkis, als mische sich das Weiß des schmelzenden Schnees in seine grünliche Farbe hinein. Das Wasser erscheint dann matt und träge, fast dickflüssig. Heute trägt der See eine Spur Himmelsblau in sich, das ihm Transparenz und mystische Tiefe verleiht. Doch ein Wolkenschatten schiebt sich über die Wasserfläche und löscht das am Seegrund verborgene Licht aus. Bald bedeckt ein dunkler Scherenschnitt aus lauter Kreissegmenten, die in alle Richtungen wachsen, den See. Gezeichnet von den Konturen einer hübschen Cumulus, die sich bei der Schesaplana bildet. Cumulus? Schesaplana? Wach auf!

Oh je, Steffen ist schon auf dem Weg dorthin, während ich mich bloß dem Augenglück hingegeben habe. Mir fehlen mindestens 200 Meter bis zu seiner Abflughöhe!

Jetzt, da ich mich wieder aufs Fliegen konzentriere, lässt die Thermik nach und ich irre zwischen Freschluakopf und den Gipslöchern hin und her, ohne richtig Höhe zu machen. Wo ist die verdammte Thermik? Ich wollte doch mit Steffen gemeinsam fliegen!

So farbenprächtig und interessant die Kraterlandschaft mit den Gipslöchern auch ist, ich habe nun keinen Blick mehr dafür. Mühsam ringe ich der sterbenden Thermik noch ein paar Höhenmeter ab und fliege dann Steffen nach, im Bewusstsein, dass ich an der Schesaplana sehr tief ankommen werde. Zu tief vielleicht.

 

Wider besseren Wissens

Während Steffen bereits wieder in der Thermik kreist, zittern mir die Knie. Dieses Mal hat mein Kopf entschieden und der Körper fürchtet sich. Zudem habe ich keine Ahnung, wie ich das riesige Felsmassiv der Schesaplana anfliegen soll.

Die Frage erübrigt sich, je tiefer ich sinke. Schließlich bleibt mir nichts mehr anderes übrig, als den niedrigen Felsgrat an der Schweizer Grenze anzupeilen, hinter dem ich Wiesen als Notlandeplätze vermute. Dann stünde ich zwar im Nachbarland (wäre ja nicht das erste Mal) aber der Lünersee ist zum Landen keine Option. Wasser fürchte ich mehr als einen Fußmarsch über Heidialmen.

Jetzt muss ich meine Entscheidung durchziehen. Knapp bevor ich den Felsgrat erreiche, habe ich das Gefühl abgebremst zu werden. Wahrscheinlich steigt von den Südwänden Thermik auf und ich bin an deren Rückseite wie in einem Lee. Ich mache mich auf Turbulenzen gefasst. Der Anblick der Felszacken kaum 100 Meter unter mir trägt nicht zur Entspannung bei. Einen massiven Klapper darf sich mein Schirm nicht erlauben.

 

Schweizer Luftabwehr?

Wie erwartet reißt Thermik am Schirm, aber gleichzeitig schieben und drücken mich Luftmassen wieder hinter die Gratkante zurück, als wäre mir der Grenzübertritt nicht erlaubt. Ich probiere es erneut, nun mit offenen Bremsen, damit der Schirm schneller ist. Ich muss auf die sonnenbeschienene Seite hinüber!

Diesmal fühlt es sich an, als bekäme ich einen Schlag verpasst, mein Schirm kippt weg, ich habe Mühe ihn zu stabilisieren, gleichzeitig piepst das Vario und zeigt an, dass ich zehn Meter Höhe gewonnen habe. Der Preis dieses Gewinns ist hoch, aber ich habe nur die Wahl die hier turbulente aufsteigende Luft zu nutzen, oder gleich in die Schweiz zu fliegen, ohne Chance auf eine baldige Rückkehr.

Denn obwohl die Thermik auf der Südseite der Felswände ablöst, wechselt sie gleich über dem Grat auf die Ostseite der Schesaplana zu den nackten Felsen, die sich seit den Morgenstunden in der Sonne erhitzen konnten. Gleichzeitig bläst Westwind über den Felsgrat herab. Zusammengefasst in einem Wort: Leethermik. Bockig, widerspenstig und nicht ungefährlich.

 

Ich sehe, dass selbst Steffen, etliche hundert Meter über mir, mit diesen Verhältnissen kämpft. Nach zehn Minuten und nur geringem Höhengewinn habe ich die Schnauze voll. Das Risiko dieser unberechenbaren Luftturbulenzen ist mir zu hoch. Lieber wage ich den Sprung in die Schweiz, als auf der Vorarlberger Seite im Lee zu bleiben. Ich werde versuchen die Schesaplana zu umrunden. Wenn ich Glück habe, wird es mich irgendwo wieder hinauftragen, andernfalls steht mir ein langer Fußmarsch bevor. Seltsamerweise fühle ich mich sehr zuversichtlich.

Ab in die Schweiz!

Gerne würde ich jetzt Steffens Gesichts sehen, wenn er – wie ein Schutzengel über mir schwebend – meinen Wechsel auf die Schweizer Seite beobachtet. Wahrscheinlich denkt er sich „arme Hummel“, denn so lange er mich sehen kann, sinke ich kontinuierlich tiefer. Dann kehrt er der Schweiz den Rücken und fliegt Richtung Golm zurück. Das macht mich stutzig. Steffen war doch viel höher als ich und trotzdem dreht er um? Außerdem hatte er im Gegensatz zu mir nicht kategorisch ausgeschlossen, heute in die Schweiz zu fliegen. Ich hingegen wollte genau diese Situation, in der mich gerade befinde, vermeiden. Denn meine Hoffnung, an einer der Felsrippen Aufwind zu finden, erfüllt sich nicht.

 

Trotzdem ist es atemberaubend schön den gewaltigen Wänden aus Stein entlangzugleiten. Sie sind nicht glatt, sondern von Schluchten zerfurcht, Zacken und Spitzen ragen wie Wachtürme auf. Obwohl die Luft ruhig ist, halte ich einen ziemlichen Respektabstand. Wenn dann plötzlich das Vario anschlägt, bin ich nicht sicher, ob ich einen Kreis wagen kann. Vorsichtig taste ich mich an die ungewohnte Flugsituation nahe einer Felswand heran und verpasse dabei wahrscheinlich etliche Chancen Höhe zu machen.

Während ich im unteren Drittel der Bergflanke herumkrebse, sehe ich andere Piloten hoch über den Grat hinwegfliegen. Der permanente Rechtsdreher, das Joghurt mit dem roten Schirm ist sicher auch dabei. Wahrscheinlich hat er unserem Kampf um den Startplatzbart überhaupt keine Bedeutung beigemessen. Welche Rolle spielen fünf Minuten, die man länger bis zur Basis braucht, bei einem achtstündigen Flug? Am Schluss zählt die Gesamtbilanz. Und die sieht für mich im Moment gar nicht gut aus. Ich kann mir in Kürze bloß aussuchen ob ich rechts- oder linksdrehend in der Schweiz landen werde. Neidisch blicke ich zu den Schirmen hinauf und versuche mich zu orientieren. Sind sie überm Brandner Gletscher oder schon beim Panüeler? Wo bin ich?

 

Vor mir, in einiger Entfernung, beginnt sich die Felswand leicht nach Süden zu krümmen, das bedeutet, sie bekommt eine nach Osten ausgerichtete Komponente. Spätestens dort erwarte ich die rettende Thermik. Ansonsten – mein Blick schweift über endlose Almwiesen zum Waldgürtel hinab, der Straßen und Häuser verschluckt, als gäbe es dort nichts, was mich jemals zurück nach Hause bringen könnte – ansonsten wird es ein langer, anstrengender Tag werden.

 

Hätte ich doch auf mich hören sollen?

Das Vario zeigt weniger als 2.400 Meter an. Ein Tiefpunkt. Ich sehe Wanderer auf einer Wiesenflanke, in deren Grün das scharfe Zickzack eines Weges geschnitten ist. Sie winken mir. Ich bin nicht mehr weit von ihnen entfernt. Von dem kleinen Grashang steigt gleich darauf eine Thermikblase auf, die ich drei Kreise lang nutzen kann. Haben die Wanderer die Ablösung verursacht? Ich winke dankbar zurück.

 

Es folgt ein kleiner Einschnitt in dem Felsband (die Karte bezeichnet es als Schafloch). An seiner Kante kann ich neuerlich etwas Höhe gewinnen. Überraschenderweise sind auch hier Menschen unterwegs. Sie tragen Helme und metallische Gegenstände blitzen im Sonnenlicht. Hinter dem Einschnitt an der nächsten Steilflanke finde ich endlich Thermik, deren Durchmesser groß genug zum Kreisen ist. Das ist meine Chance! Ich gebe mir selbst das Versprechen, dass ich, wenn ich hier genügend Höhe tanken kann, die erste Möglichkeit nutzen werde, um wieder nach Österreich zurückzukehren.

Zurück in die Heimat?

Es klappt! Und wie erhofft, bietet sich mir kurz darauf ein Fluchtweg über die Staatsgrenze: Nicht weit von mir entfernt duckt sich ein Joch, das den Überflug in den Nenzinger Himmel erlauben würde.

Aber was soll ich auf der Schattenseite? Landen? Jetzt, wo mich die Thermik endlich über den Bergkamm hinweg hebt? Zum Glück hatte ich das Versprechen zur Rückkehr nur mir selbst gegeben. Großherzig verzeih ich mir den Wortbruch und bleibe in der Thermik. Mit jedem Kreis verletze ich zweimal die EU-Außengrenze. Eine Verletzung, die niemandem weh tut. Unter mir ist bloß ein Felsgrat, dem seine staatspolitische Funktion nicht anzusehen ist.

Bald steuere ich den nächsten Gipfel an: Eine schöne Spitze, mit großen Steinplatten gefliest, die das Sonnenlicht brechen. Sie funkelt wie eine Verheißung und hält auch, was sie verspricht. In herrlicher Thermik kreise ich höher und höher bis ich wieder über 3.000 Meter hoch bin.

Später identifiziere ich den Berg auf der Karte als Hornspitze. Während ich fliege habe ich keinerlei Namen für die Landschaft unter mir. Es ist ein Premierenflug in dieser Gegend. Zwar bin ich mit der Geographie meines Heimatlandes einigermaßen vertraut und erkenne die großen Seitentäler, wie den Nenzinger Himmel und das nächste, das Saminatal, das nach Frastanz hinaus führt. Allerdings irritieren mich die vielen Häuser am Ende des Tales. Ist meine Annahme falsch? Es dauert eine Weile, bis mir einfällt, dass es sich um Malbun handeln muss. Ja, ja, ich hätte in der Schule besser aufpassen sollen. Aber wer ahnt denn als Kind, was man einmal im späteren Leben brauchen würde? Malbun wäre sicher nicht auf der Liste gestanden!

 

Es lockt eine Wolkenstraße, die jeden Berg bis vor zum Rheintal mit einer weißen Haube krönt. Der letzte Gipfel der Kette ist der Vilan, so vermute ich. Auf dem war ich nämlich schon einmal. Das ist zwar 25 Jahre her, aber trotzdem glaube ich mich an seine Form zu erinnern. Ich bilde mir sogar ein, den Startplatz von damals zu erkennen.

Es ist der Falknis, wie spätere Recherchen ergeben. Aber mit dem Rheintal lag ich richtig. Immerhin.

 

Nach der felsigen Hornspitze ändert sich das Landschaftsbild radikal. Eine andere geologische Schicht tritt an die Oberfläche. Anstelle von hartem Gestein herrscht nun ein Material vor, das sich schnell zersetzt. Die Berge zerbröseln und lösen sich in gelbliche, rötliche und braune Schuttströme auf. Ab und zu kann sich eine Insel festen Felses behaupten, die dann warzengleich hervorsteht. Ein Felswust thront wie ein geschwollener Hahnenkamm auf einem schmalen Grat. Im Schatten seines Überhangs wuchert Gestrüpp, während die Bergflanken ringsum wie rasiert aussehen. Nur ein Hauch von Grün liegt über den Zonen von Verwerfungen, den Zeugen der Alpenbildung, als braune und rote Gesteinsschichten wie Plastilinmasse verknetet worden sind.

Warum ließ ich *!* (Ausdruck zensuriert) bloß den Fotoapparat daheim? Denn nicht nur der Blick auf die Berge unter mir ist wunderschön, auch die Fernsicht ist immens. Zum ersten Mal sehe ich den Walensee aus der Luft! Ich habe das Gefühl, ich müsste bloß geradeaus weiterfliegen, das Rheintal queren, am Gonzen aufdrehen und schon wäre ich dort.

Abrupter Sinkalarm holt mich in die Wirklichkeit zurück. Die Wolken lösen sich auf und mit ihnen verschwinden auch die Gleitschirme, die ich noch vor kurzem überm Falknis gesehen habe. Sie treten tief unter mir den Retourflug an. Sollte ich ebenfalls umkehren?

Nein! Meine Neugier ist zu groß. Ich war noch nie beim Falknis und möchte unbedingt von diesem letzten Berg der Kette aus ins Rheintal hinabschauen können.

 

Armin predigte mir immer, wie wichtig es beim Streckenfliegen sei, ein konkretes Ziel vor Augen zu haben. Jetzt ist es nicht nur in Sicht-, sondern auch in Reichweite! Noch zweimal aufdrehen und ich könnte beim Falknis sein, hoffe ich. Da kommt plötzlich Westwind auf. Der Gegendwind drosselt mein Tempo auf bescheidene 20 km/h ab. Ich bleibe trotzdem bei meinem Entschluss.

Die Entscheidung war richtig. Es bilden sich lauter neue Cumuli und schlussendlich erreiche ich über dem Falknis auf 3.200 Meter deren feuchte Basis. Ich möchte schreien vor Freude. Wahrscheinlich tue ich es sogar. Es ist niemand in meiner Nähe, der es hören könnte. Die guten Streckenpiloten sind alle längst unterwegs zu neuen Wendepunkten.

Mein Rückflug gestaltet sich anfangs recht einfach. Ich muss nur darauf achten, nicht in die Wolken gesaugt zu werden. Zudem schiebt mich der Westwind von hinten an.

Beim schönen Berg, der Hornspitze, muss ich mich entscheiden. Soll ich nach Vorarlberg abzweigen und über Fundelkopf und Co in den Walgau fliegen, oder soll ich zurück zur Schesaplana?

Ich ruckle im Gurtzeug hin und her und versuche zu ergründen, wie lange mir meine Blase noch Zeit lassen wird. Gespannt, aber nicht dringend, interpretiere ich das Gefühl aus dem Unterbauch.

Ein schöner Bart am Salaruelkopf nimmt mir die Entscheidung schließlich ab. Ich kann dort so hoch aufdrehen, dass ich mich problemlos wieder in die Wolkenstraße einreihe und im Geradeausflug den Brandner Gletscher und die Schesaplana überfliege. Ohne jede Anstrengung. Einfach so. Als hätte ich nicht eine Stunde zuvor ganz tief da unten gegen das Absaufen gekämpft.

 

Die Wolkenstraße weitet sich auf, jede Erhebung trägt einen Wattebausch voller Verheißung. Wohin soll ich mich wenden? Weiter in Richtung Silvretta? Oder übers Hochjoch ins hintere Montafon? Oder doch lieber Tälerhüpfen und über den Itonskopf ins Klostertal?

 

Statt Rekordflug aufs Klo

Da meldet sich meine Blase mit eindeutiger Botschaft. Mehr als eine weitere Stunde würde ich sie nicht ignorieren können. Dabei hatte ich am Startplatz absichtlich nichts getrunken! Im Gegenteil. Ich aß einen salzigen Käse, um das Wasser im Körper zu binden. Jetzt bin ich zweieinhalb Stunden in der Luft und muss mein weiteres Flugziel nach dem Blaseninhalt wählen. Das ist frustrierend. In solchen Situationen wäre ich gerne ein Mann. Ich müsste weder dürsten noch im Gurtzeug mit Bauchweh zappeln. Ich könnte es einfach gelb regnen lassen…

Aber ich bin nun mal eine Frau ohne Windeln. Ich befinde mich auf 3.300 Metern Höhe über der Schesaplana und muss mir wegen einer vollen Blase einen erweiterten Landeanflug überlegen! Als erstes Ziel wähle ich die Kirchlispitzen. Die Wolkenstraße bekommt aber ausgerechnet über ihnen eine Lücke. Ich drehe ab zum Zaluandakopf, aber dann will ich doch noch zu den 3 Türmen.

 

Unentschlossen wie ich bin, fliege ich einen Blödsinn zusammen. Da haben es die xc-contest-Piloten einfacher, weil ihnen die Punktebewertung eine ideale Geometrie vorgibt. Ich bin es ihnen fast neidig, denn meine Entscheidungen basieren auf dem Motto: das möchte ich mir aus der Luft anschauen…

Mit dieser Methode versenke ich mich beinah im Rellstal. Als das Vario unter 2.500 Meter anzeigt, konzentriere ich mich wieder und peile den Saulakopf an. Im Stahlseil des Klettersteiges sind bunte Helme wie Perlen einer Kinderkette aufgefädelt. Ich schraube mich neben ihnen empor und winke der Personengruppe am Gipfel zu. Dann lasse ich mich Richtung Zimba versetzen. Die Thermik steht genau an der von mir vermuteten Stelle und trägt mich sanft bis an die Wolkenbasis. Ich denke daran, wie leicht mir jetzt alles zufällt und wie lange ich vor Jahren darum gerungen habe, einmal die Zimba zu überfliegen. Nun, fast 700 Meter über ihrem Gipfel hätte ich fast vergessen zum Kreuz hinabzuschauen. Mit Wehmut nehme ich Abschied von der wolkengekrönten Bergwelt im Hinterland und wende mich dem Walgau zu. Die Blase drängt.

 

Einfach laufen lassen…

Ich könnte nach Schnifis gleiten. Ob Markus noch dort ist? Ich knipse die Steuerleinengriffe an die Druckknöpfe der Tragegurte, ziehe die Handschuhe aus und hole das Handy raus. Als ich es mir ans Ohr halten will, scheppert das Gerät gegen den Helm. Mist!

Ich stelle auf Lautsprecher.

„Bist du noch in Schnifis?“, schreie ich das Telefon an.

„Nein, in Bürs im Zimbapark. Wir gehen etwas essen. Wieso?“

„Ich weiß nicht, wo ich landen soll.“

„Du kannst dir das aussuchen?“, staunt Markus.

Er kann ja nicht ahnen, dass ich in knapp 3000 Metern Höhe mit ihm telefoniere.

„Ich werde bei dir landen“, verspreche ich, „aber das dauert noch eine Weile.“

Denn zuvor will ich den neuesten Kiesabbau im Schesatobel genau anschauen und anschließend weiter zur Mondspitze fliegen. Ausgleiten, so weit die Höhe reicht.

 

Ich lasse die Steuergriffe am Tragegurt und lenke nur mit Gewichtsverlagerung. Wie ein Kind, das ein Flugzeug nachahmt, breite ich die Arme im Fahrtwind aus und genieße das Gefühl des Fliegens.

Die Luft wird immer wärmer und ich schwebe zum Loischkopf hinab. Am Horizont sehe ich im Dunst die blassen Spitzen der Berge, über denen ich noch vor zwei Stunden war. Ich kann es kaum glauben. Ein Traum ging in Erfüllung. Dabei flüchtete ich bloß vor einer unliebsamen Arbeit. Eigentlich muss ich meiner Mutter, die mich dazu verdonnern wollte, dankbar sein. Ich werde die Arbeit morgen ohne Murren erledigen.

 

Nach drei Stunden und vierzig Minuten lande ich zwischen dem Interspar Bürs und der Gärtnerei neben einem Maisfeld. Bevor ich mich des Helms und der Daunenjacke entledige, muss ich zwischen den hohen Stängeln verschwinden und meine Blase entleeren. Sollte ich mich doch noch vor der Altersinkontinenz mit dem Thema Windeln beschäftigen?

Simon hatte einst einen alternativen Vorschlag: Katzenstreu! Dabei machte er eine Bewegung, als schleudere er eine Handvoll kleine Steinchen zwischen seine gespreizten Beine.

Dann doch lieber Windeln.

Oder auf dreieinhalb Stunden Flugzeit beschränkt sein.

Ich entscheide mich für letzteres.

Noch.