1. Tag - Anreise:
Fliegen ist für Fluglehrer Routine.
„Na, net schon wieder“, seufzt Simon am Flughafen München, als er das letzte Gepäckstück erfolgreich eingecheckt hat.
In seiner Hand hält er ein kleines Leatherman. Eine niedliche Miniaturausgabe des großen Multifunktionsmessers. Winzig – aber dennoch groß genug um einem Piloten in die Kehle zu pieksen und folglich an Bord eines Flugzeuges strengstens verboten.
„Das ist das dritte Messer, das ich deswegen hergeben muss“, jammert Simon.
„Kann man es nicht irgendwo hinterlegen?“, frage ich mitleidig.
Unsere Blicke schweifen nach einem Versteck in der belebten Münchner Flughafenhalle umher.
Da geht Simon entschlossenen Schrittes auf einen unbesetzten Schalter der Lufthansa zu und befördert das Messer mit einem raschen Griff auf die Oberseite einer Metallschiene, die die Beleuchtung und die Hinweisschilder trägt. Nur für aufmerksame Augen sind danach die zwei Metallhöcker des zusammengeklappten Messers zu erkennen.
Simons Aktion wurde beobachtet. Von verdutzten Passagieren, von irritierten Schalterbeamten nebenan, sicher auch von Überwachungskameras. Aber niemand reagiert. Erstaunlich.
„Spricht nicht für das deutsche Sicherheitssystem“, meint Simon lakonisch und passiert unbeschwert die Schleuse mit den Metalldetektoren.
Wir – das sind Simon und Milius, die beiden Fluglehrer, Markus und ich (Milius’ Frau) – landen Sonntagmittag in Toulouse. Monique, die Lebensgefährtin des Pyrenäen-Guide namens Manu, erwartet uns am Flughafen. Sie hat bereits die beiden Mietautos organisiert. Von Satelliten und google-maps gesteuert kurven wir gegen jede Logik durch ein Labyrinth aus schmalen Einbahngassen in die Stadt, um dann – welch Überraschung – doch wieder an einer Hauptstraße das Hotel zu finden, in dem weitere Teilnehmer der Flugwoche warten. Hannes, Philipp, Jakob und Peter mussten bereits am Vortrag anreisen, weil unser Flug ausgebucht war. Peter hat eine besondere Odyssee hinter sich, die sein Gepäck nicht mitmachte. Auf dem Weg von Zürich nach Toulouse, dürfte es beim Umsteigen in Frankfurt abgezweigt sein. Wo sich Peters Gleitschirm, Sitz und Helm jetzt befinden, ist auch bei Lufthansa ein Rätsel. Bis es sich gelöst hat, reist Peter mit dem Wenigen, das sein Handgepäck hergibt.
Gemeinsam fahren wir nach Lourdes. Und daran vorbei. Denn unser Pilgerziel ist dem Himmel noch ein Stückchen näher. Gleich hinter dem heiligen Ort türmen sich Berge auf. Die Pyrenäen wachsen unmittelbar aus dem Flachland empor, ein, zwei Hügelreihen und schon kratzen 3000m hohe Felsgipfel an den Wolken.
Im kleinen Städtchen Argeles Gazost (http://www.argeles-gazost.com/en/home/) werden wir auf Deutsch begrüßt. Nein -, die Franzosen haben sich nicht geändert, sie verweigern immer noch konsequent jede Fremdsprache. Es sind die Teilnehmer unserer Gruppe, die mit dem Auto angereist sind und uns im Hotel Les Cimes erwarten. Leo, Volker mit seiner Frau Regine und Gerry mit Sonja sitzen im schattigen Garten und winken.
Eine langhaarige Person eilt auf Simon zu, fällt ihm um den Hals und der graumelierte Pferdeschwanz hüpft im Takt des gegenseitigen Rückenklopfens.
„Arme Christa“, denke ich und habe Simons Frau, die zuhause beim kleinen Sohnemann geblieben ist, vor Augen.
Als die beiden umschlungenen Körper endlich voneinander lassen, erkenne ich meinen Irrtum. Die langen Haare gehören zu einem
Mann.
„Arme Christa“, denke ich jetzt erst recht.
Simon stellt uns Manu, den hiesigen Guide, vor. Manu und Monique haben unseren Aufenthalt im Vorfeld organisiert, Restaurants gebucht und so wie es aussieht, sogar Flugwetter herbeigezaubert. Denn die letzten Wochen seien hier genauso miserabel wie bei uns zuhause gewesen.
Monique dreht mit uns eine Stadtrunde, dann geht’s zum Casinorestaurant. Ohne die Übersetzungshilfe von Manu und Monique wären wir alle – bis auf Regine – aufgeschmissen. Weder auf der Speisekarte findet sich ein Englisches Wort, noch schlüpft eines über die Lippen der Kellner.
Doch auch die Dolmetschkunst hat Grenzen: Leo, der sich auf eine Salatschüssel ozeanischen Ausmaßes gefreut hat, blickt nun angewidert auf einen Teller voller Meeresgetier.
2. Tag – erste Flüge
„Let’s Rock’n Roll guys!“
Mit diesem Ruf begrüßt uns Manu morgens um 9:00 Uhr und scheucht uns in die Autos. Dann brausen wir in ein Seitental. Als wir an einer großen Wiese mit Windsack vorbeifahren, funkt Simon aus dem vor uns fahrenden Bus: „Landeplatz“.
Milius antwortet: „Ok.“
Mich wundert, dass nicht einmal angehalten wird, aber schließlich bin ich mit den Modalitäten auf Flugwochen auch nicht vertraut. Im Prinzip reicht ja der Blick aus dem Fenster.
Simon hat die Rechnung allerdings ohne Manu gemacht. Der besteht auf einem „briefing“. Alle müssen aussteigen, bis zum Windsack wandern, dort einen Halbkreis bilden und sich die detaillierten Flugphasen einer Landevolte anhören.
Bei meinem ersten Höhenflug in Schnifis war die Erklärung kürzer gewesen.
Als wir endlich den Berg hinauf kurven, lässt Manu nochmals anhalten und alle bis zu einem Aussichtspunkt vortreten. Er zeigt uns den nicht zu übersehenen Landeplatz zu unseren Füßen und fragt dann noch allen Ernstes, ob wir bloß zum Schulungshügel oder gleich ganz hinauf zum oberen Startplatz wollen.
Unser Wagemut, gleich beim ersten Flug den Gipfel zu wählen, lässt Manu schließlich umdenken. Ab sofort schwärmt er vom Streckenfliegen, als wären wir bloß angereist, um einen Pyrenäenrekord aufzustellen.
„Fifti ke’i“
Diese beiden Wörter wiederholt Manu wie ein Mantra, während er auf die Umgebung deutet, mit dem Zeigefinger an Hängen aufsoart und Täler überspringt.
„Fitfti ke’i“ klingt auch bald in unseren Ohren verheißungsvoll und verlockend. Fast so wie die berühmten „fifty ways to leave your lover“ – in unserem Fall natürlich den Startplatz, um ein 50-Kilometer-Dreieck zu fliegen.
Angesichts der Nebelsuppe, die das Haupttal füllt und deren dunstiger Ausfluss ins Seitental zu unseren Füßen schwappt, ist Manus Streckenflugprognose – nennen wir es: mutig. Zumal der Nordwind von hinten über den Bergrücken bläst und an einen Start nicht einmal denken lässt.
Manus Optimismus wird von solchen Nebensächlichkeiten nicht getrübt.
Mit „Let’s Rock & Roll guys!“, spornt er uns an, die Schirme auszulegen. Die Thermik würde den Abwind bald besiegen.
Ein Tandempilot taucht mit einer vollbusigen Passagierin auf. Als die zwei startklar sind, fallen die beiden Airbags auf. Nicht die, die den männlichen Blicken nach zu urteilen an der richtigen Stelle sitzen, sondern die, die an den Gurtzeugen fehlen.
„Hier fliegen die meisten mit minimaler Ausrüstung“, sagt Simon und fügt hinzu, dass nebst Helmen mitunter sogar auf Rettungsschirme verzichtet wird. Dadurch würde man konzentrierter und besser fliegen, argumentieren die hiesigen Piloten.
Der Wind kommt nun tatsächlich von vorne und haucht der Dame ins Dekollete. Der Mann zieht den Schirm auf, vergisst jedoch, wozu er Steuerleinen in der Hand hat. (Vielleicht wusste er es noch nie). Statt den Gleitschirm zu bremsen, versucht er ihn mit raschen Schritten zu überholen. Seine Passagierin legt sich ordentlich ins Gurtzeug um einen minimalen Abstand zu dem schnaubenden Körper hinter ihr zu wahren, aber es hilft nichts. Der Schirm ist naturgemäß schneller und bricht mit einem Frontklapper vor den beiden ein, der Pilot fällt seiner Passagierin regelrecht in den Rücken und begräbt sie unter sich.
„Hoffentlich kein billiges Silikon“, denke ich entsetzt. Derart pralle Fülle erscheint mir stets verdächtig und das hat mit Neid rein gar nichts zu tun. Simon faselt etwas über Airbags an der richtigen Stelle.
Da rappeln sich Pilot und Passagierin wieder auf und wagen unverzüglich einen neuen Versuch, der mehr schlecht als recht gelingt.
Zwei riesige Vögel tauchen überm Startplatz auf.
„Geier“, sagt Manu und ergänzt, dass die Aasfresser oft an Startplätzen zu finden seien.
Was angesichts des Tandembetriebs nicht sonderlich verwunderlich ist.
Nun öffnen wir die Rucksäcke und werden der Grand Nation einmal zeigen, wie man in deutschsprachigen Landen fliegt und welche Ausrüstung dem Stand der Technik und Sicherheit entspricht.
Peter ist von der Leistungsshow ausgenommen. Da sein Schirm immer noch auf eigene Faust in Europa herumreist, muss er mit einem Prototyp von Nervures und einem Gurtzeug, das wirklich bloß ein Zeug aus Gurten ist, vorlieb nehmen. Sogar Peters Fußbekleidung entspricht dem französischen Minimalismus: Sandalen. Allerdings sind es seine eigenen. Ich vermute die festen Flieger-Schuhe im verschollenen Gepäck – völlig falsch!
Sandalen seien DIE Latschen fürs Fliegen, erklärt mir Peter in einem langen Vortrag über Spezialsohleneigenschaften, Auftrittsgefühl und Rutschfestigkeit. Zum Wandern wie im Alltag – immer trage er Sandalen. Wahrscheinlich auch beim Sex – aber so genau will ich es gar nicht wissen.
Inzwischen lupft Leo alle ausgebreiteten Schirm ein wenig hoch und linst unter die Tücher. Die Frage „suchst du was?“ ist eigentlich überflüssig.
Der Helm, den er ganz sicher eingepackt hat, ist – wie ein Anruf zuhause ergibt – unter mysteriösen Umständen in die heimatliche Garage zurückgekehrt.
Wenigstens rettet Milius mit einem Bilderbuchstart unsere Ehre. Er schwebt in ruhiger Luft über den vorgelagerten Hügel, der als Startplatz für die ansäßige Flugschule dient. Die dort lauernden Geier, mindestens 50 an der Zahl, starten ebenfalls und umkreisen Milius, als wollten sie dem einsamen Piloten Gesellschaft leisten.
Was muss das für ein Gefühl sein, Flügel an Flügel mit diesen imponierenden Vögeln, die eine Spannweite von 2,4m erreichen können, zu fliegen! Neidisch betrachten wir das gefiederte Gewusel rund um den blauen Schirm aus der Ferne.
Als Milius mangels Thermik zum Landeplatz gleitet, zerstreuen sich die Geier wieder.
Später wechseln sie vom Schulungsgelände zu uns am oberen Startplatz. Vielleicht haben sie über Funk gehört, wie wir starten und hegen nun die berechtigte Hoffnung auf ein paar Leckerbissen. Ich fürchte, wir haben es tatsächlich geschafft, den Franzosen anschauliche Argumente zu liefern, wozu bei uns Airbags und Rettungsschirme nützlich sind.
Nach den ersten beiden Flügen setzt die Thermik ein. Wir hingegen sitzen im Gasthaus. Manu hat im Bergrestaurant einen Tisch fürs Mittagessen reserviert. Durchs Fenster kann ich Schirme überm Startplatz aufkurbeln sehen. Ich bekomme Stielaugen.
Die Jungs unserer Gruppe auch. Allerdings ist es bei denen eher eine Innenschau, die sich auf die hübsche Bedienung fokussiert. Wie alt sie wohl sein mag? Hannes tippt auf 27. Sie antwortet auf die dreiste Frage verlegen: 17. Geistesgegenwärtig korrigiert Hannes seine Schätzung auf 20 Jahre. Trotzdem werden beide rot….
Manu bemerkt meinen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster. Als das Essen serviert wird, stichelt er, es gäbe da einen passenden Spruch: „Some eat, others fly.“
Danke Manu.
Mit vollem Magen wandern wir erneut durch die blühenden Erikasträucher fünf Minuten zum Startplatz empor. Quellwolken haben sich gebildet. Allerdings hängen sie in fast greifbarer Nähe über uns.
Die Berge und Grate, die zum fifti ke’i gehören, sind eingenebelt. Aber immerhin schaffen es einige von uns, sich vor und überm Startplatz eine Weile in der Luft zu halten. Wenn nicht, sorgt der Shuttledienst dafür, dass sie eine neue Chance bekommen. Manche bringen es heute auf fünf Flüge. Sie profitieren von der Zusatzfahrt, die nötig ist, weil Milius einen der Autoschlüssel versehentlich hinunter geflogen hat. Zwei Autos und zwei Fahrer am Berg, aber nur ein Schlüssel ergibt eine Rechnung, die nicht aufgeht.
3. Tag – neue Fluggebiete
Im Zentrum von Argeles ist heute Markt: Verkaufs-buden mit Kunst, Kitsch und Selbstgemachtem, Obst- und Gemüsestände, mobile Küchen auf denen in riesigen Pfannen Paella dampft, dazwischen der übliche Krimskrams.
Manu wird uns erst um 10:30 Uhr abholen. Einige nützen die Zeit um sich im Städtchen umzusehen und sich mit Lebensnotwendigem, wie Postkarten und Briefmarken (!) einzudecken.
Von den Pensionisten hätte ich das ja irgendwie erwartet. Nostalgieschub gepaart mit Urlaubsreflex. Aber als Hannes mit den bunten Kartons zurückkommt und sie nicht mit der GoPro abfilmt und auf Youtube hochlädt, sondern sich tatsächlich mit einem Kugelschreiber an die Arbeit macht, wundere ich mich doch ein bisschen über die heutige Jugend.
Bevor wir nach Hautacam, einem neuen Startplatz auf der anderen Talseite hinauffahren, gibt’s Einweisungen für den Landeplatz. Eine idyllische Picknickzone am Ufer des Flusses, der an dieser Stelle von einem Kraftwerkswehr zu einem flachen See aufgestaut wird. Seit dem Hochwasser im Juni 2013 ist das Idyll allerdings etwas getrübt. Schotterbänke, garniert mit abgelagertem Müll haben den See nahezu verlandet. Plastikfetzen im Geäst der Uferbüsche zeigen den Wasserstand während der Katastrophe an. Die Fischer scheint das nicht zu stören, solange ihre Klappsessel und Sonnenschirme zwischen den angeschwemmten Kanistern Platz finden.
Auf der breiten Asphaltstraße nach Hautacam hinauf überfahren wir die berühmten Namen der Tour de France Radler. Einer nach dem anderen verschwindet unter der Motorhaube. Manu legt trotz vollbesetztem Bus ein wahnwitziges Tempo vor. Die bunten Kreidebuchstaben auf der Fahrbahn, Überbleibsel einer Etappe mit Bergankunft, sind kaum lesbar. Auch heute sind zahlreiche Radsportler unterwegs. Hobbyfahrer mit bemerkenswerter Selbsteinschätzung: Es gibt auffallend viele rote Punktetrikots.
Wir fahren bis zur höchsten Stelle einer Hügelkuppe auf 1.500 Meter. Direkt neben dem Auto kann gestartet werden. Wenn der Wind passt. Meiner Meinung nach sollte er von der anderen Seite kommen. Aber Manu ist wie immer zuversichtlich. Behält der Wind seine Richtung bei, so startet man eben nach hinten hinaus und umfliegt den Hügel.
Volker und Peter legen ihre Schirme dementsprechend auf der Nordseite aus. Kaum sind sie fix und fertig eingehängt, schläft der Wind ein. Dann, ganz sachte, beginnt sich der schlaffe Windsack wieder zu blähen. Nur kommt die Brise jetzt aus Westen.
Leo packt seinen Schirm auf der anderen Hügelseite aus. Als alle startklar sind, herrscht abermals Flaute.
Nur Manu wird immer hektischer. Er hat mit Volkers und Gerrys Frau ausgemacht, sie mittags im Hotel abzuholen. Dass sich das zeitlich nie und nimmer ausgehen kann, war eigentlich schon bei der Abfahrt klar. Aber wer könnte oder wollte Manus Optimismus dämpfen?
Wir genießen während der Windstille die fantastische Aussicht. Die Luft hier heroben ist klar, der Himmel wolkenlos.
Endlich rappelt sich der Windsack wieder hoch. Er hat sich entschieden: Für Volker und Peter auf der Nordseite.
Auch wenn von Thermik kaum etwas zu spüren ist, ermöglicht der Höhenunterschied von über tausend Metern einen fast zwanzigminütigen Fluggenuss. Aus der Luft betrachtet sieht der verlandete See wieder idyllisch aus, türkise Flussarme fächern sich zwischen den Schotterbänken auf, das Gleißen der Wasserläufe blendet den Unrat aus.
Auf dem Landeplatz bewegen sich weit verstreut liegende bunte Schirmknäuel zum Windsack hin. Dort hält Milius einen neuerlichen Vortrag über die Landevolte, ein Begriff, der für manchen immer noch ein Fremdwort zu sein scheint.
Nachdem wir die im Hotel wartenden Frauen geholt haben, fahren wir schließlich weiter nach Süden ins Herz der Pyrenäen hinein. Sonja und Regine lassen sich im malerischen Städtchen Luz St Sauveur absetzen, während wir scharf nach Osten abbiegen. Wald und tiefe Schluchten machen deutlich, dass es ratsam ist, den über der Baumgrenze gelegenen Landeplatz nicht zu verfehlen.
Zur Erinnerung daran weht dort eine schwarze Totenkopfflagge. Daneben findet unser Briefing statt. Die Landewiese ist klein und erfordert eine saubere Landeeinteilung, wie die Fluglehrer abermals betonen.
Danach kurven wir zum Pass Tourmalet auf über 2100 Meter hinauf. Der Ausblick ist grandios. Rechts hinter uns erhebt sich der Gipfel Pic du Midi mit 2.877m Höhe. Er ist zwar mit einer Liftstation verunstaltet, aber das tut seiner Berühmtheit keinen Abbruch. Links von uns sind sogar Gletscher zu sehen. Vor uns liegt das tiefe V-Tal mit dem weit entfernten Landeplatz.
„Wird das bei heftigem Gegenwind ein Problem?“, frage ich besorgt, immer noch meinen Yeti-Gleitwinkel im Kopf.
Manu hat offenbar meine Frage nicht verstanden, denn er erklärt mir sogleich, an welchem Hang ich aufsoaren soll, wie ich die Talquerung richtig ansetze, wo die Thermik ablöst und wie sie mich schließlich über jenen Gletscherberg hinauftragen wird.
Nun denn. Noch schlagen die Geier mit den Flügeln.
Als Milius startet und an einem Felsgrat hin- und herpoliert, bis er überm Startplatz ist, staunen sogar die Vögel. Leider ist die Thermik immer nur von kurzer Dauer und erlaubt bloß, die Flugdauer etwas hinauszuzögern.
Und so schweben wir, einer nach dem anderen, den gewaltigen Wiesenhängen entlang, gleiten in ruhiger Luft über blühende Erikasträucher und könnten unterm Fliegen Heidelbeeren pflücken, wäre da nicht eine gewissen Scheu vor zu viel Geländenähe.
Milius, am kleinen Landeplatz im stärker werdenden Wind stehend, versucht per Funk korrigierend in diverse Landemanöver einzugreifen. Der Erfolg ist mäßig. Markus strandet am anderen Flussufer, Peter streift beinah mit dem Hintern (arschknapp im wörtlichen Sinn) einen Steinhaufen und erklärt dem verdutzten Milius danach, welches Glück er habe, dieses Leihgurtzeug ohne Airbag zu fliegen. Mit einem Polster unterm Po hätte er nämlich sicher einen der Felsblöcke touchiert und dann wäre es gefährlich geworden.
Mittagspause.
Direkt am Landeplatz gibt es eine Imbissbude. Manu hat für alle ein kleines Menu organisiert: Salat, etwas Gegrilltes und zum Nachtisch gezuckerte Crepes. Danach fahren wir ein zweites Mal zum Pass hinauf. Der Wind hat deutlich aufgefrischt, die Hoffnung auf Thermik oder Soaring ist groß. Manu bräuchte gar nicht so zu hetzen, es beeilt sich ohnehin jeder in die Luft zu kommen.
Schon wieder kreist Milius um das Felsköpfle, aber der thermische Höhenflug ist nur von kurzer Dauer. Dafür klappen die Landungen unserer Truppe einwandfrei, obwohl die Verhältnisse nicht einfacher geworden sind. Ganz zum Schluss fehlen nur mehr Jakob und Simon. Die beiden konnten genügend Höhe tanken, um an einer Flanke hoch überm Tal eine Zwischenlandung einzulegen. Nun schweben sie als letzte zu uns herunter. Jakob strahlt. Er war heute der höchste von uns allen.
Die vormittägliche Verspätung bringt Manus Tagesplan ziemlich durcheinander. Es bleibt kaum Zeit im Hotel zu duschen, schon müssen wir wieder zum Abendessen abfahren. In einem Bergdorf, dessen Zentrum von der uralten (im Jahr 945 erbauten) Abtei Saint-Savin beherrscht wird, bekommen wir ein köstliches Dinner serviert. Als wir mit vollen Bäuchen in stockdunkler Nacht wieder aufbrechen, ist das Mauerwerk des Gotteshauses kunstvoll beleuchtet. Nicht nur außen sind Scheinwerfer angebracht, sondern mystisches Licht erhellt die Innenräume und strömt durch die kleinen Fenster ins Freie. Als beherbergten die steinernen Wände eine unerschöpfliche Energiequelle.
4. Tag – Vom Warten, das sich lohnt
Am Morgen trifft Peters vermisstes Gepäck im Hotel ein und Hannes gestern verlorenes Funkgerät kann beim Polizeiposten Argeles abgeholt werden. Ausrüstungsmäßig entsprechen wir nun endlich dem gewohnten Standard einer fca-Flugwoche. Obwohl sich Peter in den knöchelhohen Schuhen – wie er später sagt – viel unsicherer fühlt als in den Sandalen.
Heute starten wir wieder erst um halb elf. Frühstück im Garten, Capuccino in den ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Vom Urlaubsgefühl träge, reagiert kaum jemand auf Manus „Let’s Rock & Roll guys!“ Außerdem fehlt Simon noch….
Umso schneller geht es dann den Berg hinauf. Die Strecke nach Hautacam kennen wir ja schon und Milius fährt mit dem Kleinwagen voraus, Manu mit dem Bus hintendrein. Das wurmt den Franzosen, der am liebsten die Führung inne hat. Kurz vor dem Gipfel verpasst Milius allerdings eine Abzweigung und muss zurück. Sein Vorsprung reicht gerade aus, um an der Kreuzung auf den daherbrausenden Bus zu treffen. Ich merke, wie Markus kurz überlegt, Manu den Weg abzuschneiden, überlässt ihm aber doch den Vorrang. Manu saß derart wild entschlossen hinterm Lenkrad, als dächte er nicht im Traum daran zu bremsen.
Gleich neben dem Startplatz verläuft der 0° Grad Längsmeridian. Wir befinden uns also auf einer Linie mit dem Observatorium in Greenwich. Kaum hat sich diese Tatsache herumgesprochen, wandern die meisten von uns schon mit den GPS-fähigen Handys oder Varios in seltsam seitlicher Schrittfolge hin und her, bis auf dem Display endlich nur Nullen aufscheinen. Erst dann steht man mit einem Fuß westlich und mit dem anderen östlich von Greenwich.
Heute müssen wir „Pitch-Control“ üben. Vorschießende Schirme, pendelnde Bewegungen oder Bremsen zum falschen Zeitpunkt sollen der Vergangenheit angehören. Manu hat das Manöver bereits im Hotelgarten erklärt, als wir auf Simon warteten, jetzt spricht Simon mit uns den Bewegungsablauf durch. Er sagt genau das Gegenteil.
Auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, raunt mir Manu zu, er habe vorgezeigt, wie man einen Schirm kontrolliert und das Vor- und Zurückpendeln verhindere, Simon wolle dieses Nicken jedoch verstärken.
„Bis zum Frontklapper“, bestätigt Simon, fügt aber gleich hinzu „nur wer will.“
Frontklapper erscheinen im Vergleich zur Autofahrt auf den Berg harmlos. Nach dem ersten Flug prescht Manu mit dem Bus vor. Auf halber Strecke wird er von einer vorsichtigen Fahrerin eingebremst, die angesichts einer auf die Fahrbahn trabenden Kuhherde ihr Tempo drosselt. Manu sieht seine Chance gekommen zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Er rast an der Frau vorbei mitten in die verdutzen Rindviecher hinein, die zum Glück so weit Platz machen, dass sie von den Seitenspiegeln nur gestreift und nicht ernsthaft verletzt werden.
Dieses Mal wird der Rückwärtsstart geübt. Mit schier endloser Geduld geht Simon mit jedem Piloten die Handgriffe durch, hilft nach Fehlversuchen, zupft Schirme zurecht und ermuntert Frustrierte nicht aufzugeben. Milius hat sich zwischenzeitlich in einen Berghang geparkt, ich möchte zu ihm, lande aber mangels ausreichender Höhe auf dem mittleren Startplatz ein. Milius schwebt darauf die hundert Meter zu mir herab. Eine halbe Stunde Zweisamkeit, bevor die ersten Rückwärtsstarter Richtung Landeplatz gleiten und Milius wieder in die Luft muss. Ich bleibe um Fotos zu machen. Kurz darauf landet Jakob bei mir ein. Meine Wiese entwickelt sich zu einem regelrechten fly-in.
Nachmittags quälen wir die Autos einen miserablen Alpweg hinauf. Nach rund tausend Höhenmetern lässt uns Manu aussteigen. Wir gehen zu einer mit Stacheldraht eingezäunten, topfebenen Wiese. Mit Startplätzen verknüpfe ich eigentlich andere Vorstellungen: mehr Gefälle, weniger Zaun.
„Es ist der Landeplatz“, erklärt Manu.
„Und was haben wir dann zuvor im Tal unten angesehen?“, frage ich erstaunt.
„Den Notlandeplatz“, sagt Manu. Falls man diesen hier verfehle.
Die Autos müssen nochmals einhundert Höhenmeter überstehen. Dann sind wir am Startplatz. Ein bisschen viel Autofahrt für einen derart kurzen Flug.
„Das ist kein kurzer Flug“, widerspricht Manu, „hier kann man stundenlang soaren!“
Ich deute auf den schlaffen Windsack.
„Wind kommt in zehn Minuten!“, ruft Manu und schleudert seinen Hut hoch in die Luft. Wie durch ein Wunder landet er fünf Meter hinter ihm.
„Hast du gesehen?“, fragt mich Manu begeistert, „Da oben ist schon Aufwind!“
Als nach einer Stunde Wartezeit noch immer kein Lüftchen weht, wage ich Manu zu fragen, wieso wir denn nicht einfach hinunter flögen.
„Zu gefährlich“, antwortet er prompt. Im Tal bliese starker Wind und verursache Turbulenzen.
Kaum zu glauben.
Als unsere Zweifel in der nächsten halben Stunde gelangweilten Parawaitings stärker werden, telefoniert Manu mit einem Kollegen aus dem Tal.
„Immer noch heftig, aber es geht“, sagt Manu und gibt den Startplatz frei.
Jetzt wird es spannend. Es gibt nur eine schmale Startrampe, die zwei steingefüllte Mulden überbrückt, dahinter folgen Wacholdergestrüpp und Erikabüsche. Die Rampe ist zu kurz für einen Start. Man muss den Schirm in einigen Metern Entfernung auf der Grasböschung der Schotterstraße auslegen, die flache Fahrbahn zum Aufziehen nützen und danach die Startrampe treffen.
Mit ein bisschen Aufwind würde ich meine Chancen von hier wegzukommen höher einstufen als jetzt, wo nur meine Motivation und das Grauen vor der rumpeligen Talfahrt im Auto mich anspornt.
Simon und Manu stehen vorne an der Rampe, der Windsack hängt.
„Geht schon“, gibt Simon das Kommando.
Mein Schirm steigt hoch, zieht ein wenig nach rechts, ich muss im ebenen Teil unterlaufen, kann die Bremsen nicht einsetzen, weil der Schirm noch nicht richtig fliegt, verfehle dadurch die Startrampe und hechte mich über die Steinmulde. Kurz trägt mich der Schirm, aber es reicht nicht, um mich über die Erikabüsche zu heben, meine Füße bleiben hängen, Oberkörper und Schirm drängen jedoch weiter und während ich bäuchlings übers Grünzeug schleife, hege ich immer noch die irre Hoffnung, der Schirm möge mich endlich vom Erdboden und der Schmach befreien.
Als ich mir Geäst und Erikabüschel aus dem Gurtzeug pflücke, deutet mir Simon, ich solle den Kopf einziehen. Milius ist im Anmarsch. Gekonnt fliegt er über mich drüber. Ich vermute, dass er mein Fluchen nicht gehört hat.
Zweiter Versuch.
Immerhin spüre ich eine Brise Aufwind. Dennoch muss ich die halbe Rampe hinab rennen, um endlich in die Luft zu kommen. Aber der körperliche Einsatz rentiert sich. Milius soart vorne an der Waldkante, wo der Talwind auf die Bergflanke trifft, auf. Ich geselle mich zu ihm, bald darauf kommt Jakob. Gemeinsam kreisen wir in der herrlichen Stimmung des späten Nachmittags, mitunter so nah, dass wir uns niveauvoll unterhalten können.
„Geil, net?“
„Supergeil!“
Einer nach dem anderen startet und über Funk ich höre Simons Begeisterung darüber, dass selbst die „Lauffaulen“ den schwierigen Startplatz meistern.
Das Aufwindband ist breit genug, um Platz für alle zu bieten. Wir fliegen über die alte Kirche, die wir gestern Nacht besichtigt haben, kreisen über den engen Gässchen des Bergdorfes und sinken schließlich zu einem Landeplatz hinab, den wir ausnahmsweise nicht vorher besichtigt haben. Trotzdem braucht niemand eine Einweisungshilfe.
Milius und Jakob sind die letzten in der Luft. Der Mond steht schon am Himmel, als sie schließlich einschweben.
Kurz darauf brausen die Autos heran, auf den Gesichtern von Simon und Manu zeigt sich eine tiefe Befriedigung.
„Ja“, gesteht Simon und lässt den Blick über seine Schäflein schweifen, „ich bin richtig stolz auf euch.“
5. Tag – Vor der Front
Ein Wetterumschwung kündigt sich an. Es soll starken Wind geben.
Endlich haben wir ein Argument für das Wettrennen hinauf nach Hautacam, auch wenn das der verdutzte Fahrer, den wir bei einem Speedbraker hüpfend überholen, nicht ahnen kann. Der Himmel ist bedeckt, vom Flachland her schwappt Nebel an die Pyrenäen und zwängt sich bei Lourdes durch die Talenge. Vom Startplatz Hautacam aus sieht man zwischen den grauen Schichten am Horizont einen lichtblauen Streifen wie eine eingeklemmte Hoffnung.
Der erste Flug ist harmlos. Ruhige Luft, kaum Wind, nur schwache Thermikansätze. Manu drängt zur Eile. Er spürt etwas kommen, das für uns noch nicht wahrnehmbar ist.
Für den zweiten Flug wählt er daher den mittleren Startplatz aus, auf dem Milius, Jakob und ich bereits einmal zwischengelandet sind.
Das Nebelmeer ist von hier aus nicht mehr erkennbar, eine Hügelreihe verdeckt die Sicht. Gerry startet und gräbt, wie schon oft, einen Bart aus. Milius funkt vom Landeplatz, dass der Wind allmählich auffrische. Als ich rund eine halbe Stunde später starte, hat schon eine deutliche Labilisierung eingesetzt. Plötzlich gibt das Vario Töne von sich, die es in den Pyrenäen bislang nicht geäußert hat. Im gleichen Moment ertönt über Funk die Warnung: böiger Wind im Tal, alle Piloten sollen zur Landung kommen.
Ich sehe Jakob starten und ignoriere den Funkspruch. Kurz darauf hebt noch ein Schirm ab. Solange Simon noch Leute starten lässt, denke ich mir, kann es nicht gefährlich sein. Kreisend schraube ich mich weitere hundert Meter in die Höhe.
Neuer Funkspruch von Landeplatz: „Heftige Böen. Schaut zu, dass ihr runterkommt!“
Plötzlich sehe ich den Nebel wieder. Er schwappt über die Hügelkette und fließt in milchigen Fäden ins Tal hinab. Das Vario preist übermütig drei Meter Steigen an.
Schweren Herzens fliege ich zum Landeplatz. Aber als ich unter mir vom Wind krumm gebeugte Pappeln erkenne, schießt mir das Adrenalin ein. Der Landeplatz liegt im Lee des Wäldchens und die nächsten paar Minuten dürften ziemlich bockig werden. Wer nicht hören will, der muss fühlen!
Schließlich stehe ich unversehrt und dementsprechend erleichtert am Boden. Aus dem Funk krächzt Simons Stimme: „Jakob! Komm zu mir zurück. Da geht’s rauf!“
Verwundert schaue ich in den Himmel. Jakob, der bereits auf dem Weg zum Landeplatz war, kehrt um. Der zweite Schirm, unter dem ich fälschlicherweise Markus vermutet hatte, wird von Simon gesteuert. Er dreht in der Nähe des Startplatzes auf.
Meine Wohlfühlblase, genährt von der Erleichterung heil am Boden zu stehen, zerplatzt unterm Nadelstich des Neids.
„Wieso müssen alle landen, nur Simon und Jakob nicht?“, frage ich entrüstet, ohne Antwort zu erhalten.
Keine zwei Minuten später fegt eine Böe über den Landeplatz, die mich erschauern lässt. Milius funkt zu Simon, dass es nicht mehr ratsam sei, hier zu landen. Die Verhältnisse seien unberechenbar geworden. Simon und Jakob verlassen daraufhin den Berg und queren das Tal um sich eine Landewiese ohne Leeturbulenzen zu suchen.
Mein Neid ist nun der Sorge gewichen, während ich die beiden Schirme beobachte. Um nichts in der Welt hätte ich mit Jakob tauschen wollen.
Kurze Zeit später ertönt der erlösende Funkspruch: „Beide gut gelandet. Kommt uns holen.“
Simon hat uns am Beginn der Flugwoche folgende zwei Regeln eingebläut:
1. Das Funkgerät muss immer eingeschaltet sein
2. Das Funkgerät muss immer am Körper getragen werden
Zusammengefasst ergibt das Simons Merksatz: „Funk am Mann!“ (ich bin offenbar von der Regel ausgenommen).
Nun irren wir mit dem Auto in der Gegend umher und suchen die beiden Außenlander. Niemand antwortet auf unsere verzweifelten Funksprüche. Zufällig sehen wir Simon und Jakob beim Vorüberfahren in einer Nebenstraße sitzen.
„Simon!“, rufe ich vorwurfsvoll, „was ist mit Funk am Mann?“
Simon patscht beflissen mit der flachen Hand auf das Gerät am Gürtel. Es stellt sich jedoch heraus, dass sich das böse Ding aus eigenen Stücken einfach abgeschaltet hat. Simon trifft naturgemäß keine Schuld.
Nachdem wir nun alle wieder vereint sind, stellt sich die Frage, was wir mit dem angebrochenen Nachmittag anfangen sollen. Manu macht den Vorschlag, erst den Gleitschirmhersteller Nervures gleich in der Nähe zu besichtigen und danach zu einem kleinen Bergdorf in der Nähe von Wasserfällen zu fahren. Dort gebe es Wandermöglichkeiten und ein Restaurant.
Nervures hat sich auf Leichtschirme und ebensolche Gurtzeuge spezialisiert. Die Führung durch die Fabrik ist zwar etwas improvisiert aber dennoch interessant. Das mag aber auch an den Näherinnen liegen….
Jedenfalls zieht sich der Firmenbesuch derart in die Länge, dass das Wetter den nächsten Programmpunkt zwischenzeitlich vereitelt hat. Die Wasserfälle haben regen Zustrom vom Himmel erhalten und so bringt uns Manu ins Hotel zurück.
Milius und ich gönnen uns daraufhin einen ausgiebigen Besuch im Thermalbad von Argeles, einer wunderschön gestalteten Anlage mit Massagedüsen, Sprudelbecken, Unterwassermusik, Dampfsaunen und Hamam. Das einzige, das wir nicht ausprobieren, ist das Eiswasserbecken…
6. Tag – UNESCO Weltkulturerbe
Das Tal ist mit Nebel angefüllt. Die Wolkendecke liegt auf halbem Bergniveau, nicht einmal der untere Startplatz ist frei.
Wir pferchen uns ins die Autos (Sonja und Regine sind auch dabei) und fahren tief in die Pyrenäen hinein. Als die sich höher windende Bergstraße die Waldregion verlässt, beginnt die Nebeldecke zu gleißen und Blau schimmert hindurch.
Über der letzten Ortschaft am Ende des Tales, Gavarnie, haben wir die Wolken durchbrochen und ein makelloser Himmel spannt sich über mächtige Gipfel. Manu steuert den Pass Col des Tentes auf 2.208 Metern an. Auf dem Parkplatz bläst uns heftiger Westwind ins Gesicht. Aber abgesehen davon, ist hier im Nationalpark das Paragleiten ohnehin verboten.
Während die einen ein paar Hundert Meter weiter bis zur spanischen Grenze wandern, erklimmen die anderen einen kleinen Aussichtshügel. Geier soaren über unseren Köpfen, im Tal unten wallt der Nebel. Der fantastische Rundblick reicht vom Massif du Vignemale bis zum Marboré und Taillon, die den Cirque de Gavarnie umschließen. Dieser Felsenkessel mit einem gigantischen Wasserfall besitzt sogar den Status eines Unesco Weltkulturerbes.
Wir kurven wieder hinab zur Ortschaft Gavarnie und kehren bei einem Freund von Manu ein. Leider ist der Mann Hundebesitzer und das liebe Vieh benützt den Vorgarten, in dem uns aufgetischt werden soll, als Freilufttoilette. Der Gestank ist unerträglich. Ein Ortswechsel auf die andere Seite des Parkplatzes bringt keine Erleichterung. Es stink auch dort. Seltsamerweise verfolgt uns der Geruch sogar bis ins nächste Gasthaus. Simon findet die olfaktorische Belästigung unerträglich und regt sich furchtbar auf. Bis sich herausstellt, dass sie speziell in seinem Umkreis am intensivsten ist. Ein Blick auf Simon Schuhsohlen bestätigt die Vermutung. Er, der Stänkerer, muss hinaus und hinunter zum Fluss um die Hundekacke abzuwaschen.
Nach dem Mittagessen samt der dazugehörenden Belästigung der Serviererin (diesmal wird sie nicht nach ihrem Alter gefragt, sondern unablässig fotografiert) wird beschlossen, auf die vage Möglichkeit eines Fluges zugunsten der Wanderung in den Cirque de Gavarnie zu verzichten.
Manu legt ein wahnwitziges Tempo vor. Offenbar kann er nicht anders, egal ob zu Fuß oder mit einem Auto. Ziel ist einer der mächtigsten Wasserfälle Europas, der in Kaskaden (Gesamtfallhöhe 422m) über den Rand des Felsenkessels stürzt. Über den letzten Absatz schießt das Wasser mit derartigem Schwall hinaus, dass es im freien Fall zu Boden gischtet. Die Wucht des Aufpralls verursacht einen Sprühnebel, in dem sich das Sonnenlicht bricht und somit alle Regenbogenfarben zum Leuchten bringt. Gleichzeitig beschert er jedem, der sich dem Wasserfall nähert, eine kalte Dusche.
Von den 1500m hohen Felswänden, die sich zu einem Halbkreis formieren, hallt das Rauschen wieder.
Das einmalige Naturerlebnis entschädigt für den entgangenen Flugtag.
Abends bringt uns Manu zu einem abgelegenen Landgasthof. Er hat immer spezielle Geheimtipps für uns ausgesucht. Für Nichtvegetarierer dürfte es sich um Köstlichkeiten handeln. Egal ob Lamm, Rind, oder Meeresgetier, ob heimische Forellen, Wildschweine oder „Dök“ (Ente in Manus Englischversion), die Gerichte werden stets gelobt. Sofern sie eintreffen. Ausgerechnet beim „letzten Abendmahl“ wird Volkers Hauptgang vergessen. Als die Forelle endlich eintrudelt, verweigert der Gekränkte und greift stattdessen zu Brot und Wein.
Milius und ich dürfen uns keine Zickigkeiten erlauben. Wir müssen froh sein, wenn wir nicht nach drei verkorksten Vegi-Gängen mit Hunger vom Tisch aufstehen.
7. Tag – Abflüge und ein Wiedersehen
Leo, Volker und Regine verlassen uns bereits in der Früh. Der Rest der Truppe fährt nochmals schnell (im wahrsten Sinn des Wortes) nach Hautacam für einen Abschlussflug. Diesmal herrscht Südwind am Startplatz. In dieser Woche sind wir somit von diesem Berg aus in fast alle Himmelsrichtungen gestartet.
Es wird zwar wieder nur ein Gleitflug, aber durch den großen Höhenunterschied bleibt genug Zeit, von den wunderschönen Pyrenäen Abschied zu nehmen.
Wir konnten in diesen sechs Tagen zwar keine langen Thermikflüge machen, dafür waren wir oft in der Luft. Bei zehn oder mehr Flügen summiert sich die Flugzeit auch auf ein paar Stunden.
Eingebettet in das kulturelle und kulinarische Rahmenprogramm, für das Manu Dank gebührt, war die Flugwoche Pyrenäen ein ereignisreiches Erlebnis. Beim letzten gemeinsamen Mittagessen zieht Manu seinerseits Bilanz und gibt jedem Piloten ein ausführliches Feedback über dessen fliegerisches Potential und Verbesserungs-möglichkeiten. Beim Fliegen in der Gruppe lernt man ja nicht bloß aus den eigenen Fehlern.
„Der Manu quatscht immer so viel“, resümiert Simon mit Blick auf den noch unberührten Teller des Franzosen. „Der sollt’ besser essen, bevor alles kalt ist.“
Um 19:00 Uhr heben wir in Toulouse ab. Die Flugroute quert die Alpen westlich des Mont Blanc, dessen Gipfel die Abendsonne einfängt. Bevor das nächtliche Dunkel die Sicht auf den Boden raubt, liegt der glatte Spiegel des Bodensees unter uns, darin die gebogene Linie der Rheinvorstreckung wie ein Sprung.
Nach der Landung in München verabschieden sich Philipp, Jakob und Hannes, die mit einem eigenen Auto angereist waren. Für Simon, Markus, Milius und mich gibt es noch eine Frage zu klären: Liegt das Leatherman immer noch oberhalb des Lufthansaschalters?
Mit den überbordenden Gepäckwagen steuern wir das verlassene Abflugterminal an. Es ist bereits 23:00 Uhr und die Gänge sind leer. Einzig am Schalter für Übergepäck drängen sich vier Bedienstete in Lufthansauniformen und starren gebannt auf ihren Bildschirm. Nebenan, auf der Metallschiene über ihren Köpfen, hat Milius die verräterischen Metallhöcker des zusammengeklappten Leatherman entdeckt.
Grinsend deutet er hinauf. Während sich Simon überlegt, wie er möglichst unauffällig das Messer wieder an sich nimmt, kreische ich vor Vergnügen und richte den Fotoapparat her. Misstrauisch werden wir vom Personal beäugt. Plötzlich geht Simon entschlossenen Schrittes auf den Schalter zu, beugt sich vor, reckt sich auf die Zehenspitzen und schwupps verschwindet das Messer in seiner Hosentasche. Wir applaudieren spontan und brechen in Gelächter aus.
„Was gibt es da zu lachen?“, ruft einer der Schalterbeamten und tritt auf den Gang hinaus.
Eine Frau gellt mit panischer Stimme: „Was haben Sie da hinauf gelegt?“
„Nichts!“, antwortet Simon wahrheitsgetreu und wir brechen erneut in Lachen aus.
„Was haben Sie da hinauf gelegt??“ Die Stimme überschlägt sich fast.
„Gar nichts“, beteuert Simon mit Unschuldsmiene und ich muss mich nach Luft japsend am Wagen festhalten, Tränen kollern über meine Wangen.
„Euch wird das Lachen ganz schnell vergehen“, droht uns der Uniformierte, der sich einen halben Meter vor seinen Schalter gewagt hat. Sein Blick springt nervös zwischen der Überkopfleiste und uns hin und her. Geistesgestört oder Verbrecher. Im schlimmsten Fall beides, scheint er zu denken.
„Gleich dahinten wartet die Polizei“, warnt er, sichtlich bemüht seiner Stimme einen autoritären Klang zu verleihen. „Die kann euch sofort festnehmen!“
„Wir gehen ja schon“, besänftigt Simon und fügt dann mit schelmischem Grinsen hinzu: „Aber hinaufgelegt haben wir diesmal wirklich nichts.“
Kichernd schieben wir mit unseren Gepäckhaufen ab. Mit deutschem Flugpersonal scherzt man nicht.