Mit dem Schnifer Bähnle zum Rekord           

 

Die Nacht hat alle Wolken aufgesaugt und in Tauperlen über die Wiesen verstreut. Es ist Mai und die Feuchtigkeit kann sich lange im Schatten der Grashalme halten. Paragleiter, die schon früh vom Hensler herabschwebten, tunken am Landeplatz das Nass mit ihren bunten Tüchern auf und schleppen das schwere Gepäck zum zweiten Mal zur Talstation des Schnifner Bähnle.

 

Toni steht unter Stress, eine Wandergruppe will zu sechst in die Gondel und sich partout nicht aufteilen lassen, Getränkekisten sollten zur Bergstation und der  Eingangsbereich wird von den prallen Rucksäcken der Gleitschirmflieger blockiert. Letztere sind wie der Stein des Sisyphos. Kaum hat sie der Hubert oben in Empfang genommen, fliegen sie ins Tal hinunter und stehen wieder beim Toni an. Das sind die Anfänger, die noch nicht wissen, wie man sich in der Luft hält und wie man zu den Wolken greift, für die das Fliegen nur aus Starten, Sinken und Landen besteht; die noch von der Funkstimme der Flugschule ferngesteuert werden. Toni erkennt sie an der Frequenz ihres Erscheinens, je öfter, desto Schüler, so lautet die einfache Formel.

Am späteren Vormittag tauchen die Profis auf, mit unruhigem Blick, immer den Himmel auf erste Anzeichen von Wolken prüfend. Sie halten es in geschlossenen Räumen nicht aus, müssen ständig ins Blaue blinzeln und werden nervös, wenn sich Warteschlangen bilden. Toni füllt unablässig Gondel um Gondel mit menschlichen Vierer- oder Fünferpaketen,  wünscht den Gepferchten schöne Flüge und nochmals schöne Flüge. Oder schöne Wanderungen, wenn einmal jemand ohne Gleitschirm zugestiegen ist. Der wundert sich dann ob der Daunenjacken, Überhosen und Handschuhwärmer in der engen Kabine und versteht kein Wort vom Fliegerjargon, wo Bärte gekurbelt, Wolken angestochen oder voller Verzweiflung abgesoffen wird. Hat er sich verhört oder wollen die Piloten tatsächlich von Schnifis aus in die Schweiz fliegen? Aber dann fallen auch Wörter wie Bielerhöhe und Hochtannberg, wie soll das zusammengehen? Diese Pässe kann man doch vom Hensler aus gar nicht sehen!

Neugierig reiht sich der Wanderer in die Kette der Zuschauer ein, die am Straßenrand oberhalb des Startplatzes aufgefädelt sind. Die bunten Tücher der Gleitschirme rascheln, blähen sich im Wind, werden mithilfe zahlloser dünner Leinen wieder zur Räson gebracht und warten auf die Piloten. Einer, der Simon heißt, gibt willig Auskunft auf die laienhaften Fragen, während er seine Ausrüstung herrichtet. „Jo des isch Ballascht und Proviant zgleich,“ sagt er und packt einen 15 Liter-Wasserbeutel ein.  Ballast, wenn man nach oben will? Das Pilotengewicht müsse zur Fläche des Schirms passen, erklärt der Fluglehrer geduldig und Durst bekomme er beim Fliegen auch. Dann zieht er etwas aus der Tasche, das Einigen, die es deutlich gesehen haben, entrüstet die Augen aufreißt und geht damit zum Waldrand hin. Grinsend kehrt Simon nach einer Weile zurück und zeigt auf ein dünnes Schläuchlein, das unten aus dem Hosenrohr hervorlugt. „Zum Biseln,“ erklärt er allen, auch denen, die es gar nicht so genau wissen wollen. „Urinalkondom“, setzt er auf Hochdeutsch nach, „das braucht mann, wenn man so lang in der Luft ist.“

Dann befestigt er ein Instrument am Gurtzeug, das in laut piepsende Stimmübungen ausbricht. Ein Variometer sei das, die Töne würden Steigen oder Sinken anzeigen und über die Satelliten, also mit GPS, könne Geschwindigkeit und Flugroute ermittelt werden. Ob das Fliegen bequem sei, will einer wissen und deutet auf das Sitzgeschirr mit den vielen Gurten und Schnallen. „Wie ein komfortabler Lehnstuhl“, antwortet Simon. Und auf eine andere Frage: „Ja, natürlich haben alle einen Rettungsschirm dabei, der ist im Sitz integriert, nein nicht hier, das ist der Airbag. Der sieht nur jetzt nicht so aus, der bläst sich erst beim Fliegen auf.“

Er zieht einen unheimlichen Haufen Gewand an und schaut in die Runde, bevor er den Helm aufsetzt. „Noch weitere Fragen?“ Wie lang man denn oben bleiben könne? So lange es eben ginge. Wohin er denn fliegen wolle? Zweihundert Kilometer weit! Wieder so eine dumme Antwort, denkt sich der Wanderer und fühlt sich auf den Arm genommen. Also keine Fragen mehr, nur mehr schauen.

Die Piloten legen ihre Sitze an, hängen die Gurten ein, Simon setzt den Helm auf, zupft an den Leinen und die Kammern des Gleitschirms füllen sich. Zwei, drei, vier Schritte und die Piloten gleichen schwebenden Kugeln unter den bunten Sicheln, die den Himmel überm Startplatz zieren. Wie in einem synchronen Tanz kreisen sie über die Bergstation, schrauben sich in Spiralen über die Gipfel des Walserkammes und schrumpfen schließlich zu Farbtupfern unter den weißen Wattewolken.

 

Die Zuschauer verteilen sich, gehen wandern, radeln oder bloß essen, schließlich ist es erst halb zwölf. Ein paar Stunden später ist kein Gleitschirm mehr in der Luft zu sehen und niemand denkt mehr an die Piloten.

 

Simon fliegt über schneebedeckte Grate, atmet die klamme Feuchte der Wolken, wenn er in sie eintaucht, und freut sich über die schnell wechselnden Zahlen auf dem Display des Varios: 2950m, 3000m, 3050m. Über der Hochkünzlespitze genehmigt er sich einen Müsliriegel. Muss ihn im Mund wärmen, bis die Schokoladenhülle aufgetaut ist. Er ist am hinteren Ende des Bregenzerwaldes, unter ihm nun das Gipfelkreuz des Heiterbergs, in der Distanz die Dörfer vom Kleinwalsertal. Seine Finger werden kalt.

 

Die Wanderer haben ihre Hosenbeine abgezippt, hoffen auf eine kühle Brise, die den Schweiß verdunstet. Den Kindern verspricht man Eis, wenn sie bis zur Bergstation brav laufen. Aber zuerst legen sie sich in die Wiese voller Enziane, ein kurze Rast bloß.

 

Eine Glitzerkolonne bewegt sich auf dem schwarzen Doppelband im Tal. Die Arlbergschnellstraße. Simon blickt auf einen Tunnel hinab, dessen dunkle Nasenlöcher die Autos inhalieren, dann ist er wieder über Schneeflächen, dem Wintergewand der Berge, verlassene Schipisten am Hochjoch. Das Vario zeigt Steigen an. Über ihm entsteht ein winziges Wölkchen, das aufquillt und ihn hoffen lässt, bald wieder dort oben zu sein. Doch das Weiß wird löchrig, zerrinnt, löst sich auf, kein Piepser mehr vom Vario, der Boden kommt rasch näher. Weiter, bis über den nächsten Kamm noch, vorne der Grappeskopf, mit seinen  Südhängen, von der Sonne aufgeheizt, dort muss der Bart (die Thermik) stehen, sonst ist der Traum vom Rekord in Gaschurn zu Ende!

 

Die Kinder kriegen das Eis im Henslerstüble und Papa das Bier. Es bleibt genügend Zeit, die Großeltern kommen erst abends zu Besuch, wir könnten daher auch zu Fuß -; Aufschrei der Kinder, na gut, wir werden mit der Gondel hinunterfahren, aber erst muss Papa austrinken und Mama aufs Klo.

 

Simon kämpft über den Rechen der Lawinenverbauung, sein Schirm wird hin- und hergerissen in der bockigen Luft, das Vario zeigt nur mehr 1800m. Da sieht er einen Adler kreisen, fliegt zu ihm hin und plötzlich geht es wie in einem Fahrstuhl nach oben. In engen Spiralen steigt er auf, ständig den Geruch von Gülle in der Nase. Das braune Feld im Tal, von dem die Thermik ausging, schrumpft zu einem hässlichen Fleck zusammen, dann zieht die Wolke den weißen Vorhang zu. Simon gleitet nun auf die Silvretta zu, sieht die bläulich eingerissenen Ränder in der Schneedecke des Vermuntsees und lässt Wasser ab. Lachend denkt er an gelb gesprenkelten Schnee, bevor er umkehrt. Dreieinhalb Stunden ist er schon in der Luft.

 

Toni sperrt die Talstation ab, es ist nach sechs, und ein strenger Arbeitstag zu Ende. In Schnifis kehrt Ruhe ein, die Abendsonne legt sich warm auf die Felder.

 

Unterm Simon ist es tiefblau. Der Walensee klemmt zwischen schroffen Bergen, keinen freien Platz zum Landen gäbe es. Nur an seinen Stirnseiten breiten sich Wiesen aus. Am westlichen Ende des Sees war Simon bereits, er konnte von dort sogar den Zürichsee erkennen, jetzt versucht er nach Schnifis zu fliegen. Nach Hause. Die Arme sind ihm nach sechs Stunden Flugzeit schwer, sein Körper friert. Aber noch kann er den Walgau nicht sehen. Nur das Rheintal, das sich zwischen Alvier und Triesenberg zu einem schier unüberwindbaren Hindernis dehnt.

 

„Stell dir vor“, erzählt der Wanderer seinen Eltern beim Abendessen, „zweihundert Kilometer wollte der fliegen, ohne Motor!“ „Das ist doch ein Blödsinn“, sagt der Großvater und alle nicken.

 

Die Luft ist ganz ruhig geworden, als wäre das Gold der untergehenden Sonne ein Balsam, der alle Turbulenzen glättet. Simons Schirm hat aufgehört zu bocken und zu rascheln, er gleitet lautlos über die Gurtisspitze in Richtung Schnifis. Kurz vor acht Uhr abends landet er in Schnifner Ried, unbemerkt. Der Rekord, ein Dreieck mit 197 km vom Hensler aus geflogen, ist vollbracht und für alle Skeptiker nachweisbar im Internet dokumentiert:

XC-Onlinecontest, 13.5.2008, Simon Penz (http://www.xcontest.org/world/en/flights/detail:pezimo/13.5.2008/09:03)