(1)30 Jahre Wildbach - und Lawinenverbauung

 

Für diesen Beitrag, der auf eigenen Erfahrungen beruht, musste ich ein Jahrhundert streichen. Und obwohl ich nur die letzten 30 Jahre behandle, beschlich mich beim Schreiben das Gefühl, die Ereignisse müssten viel länger zurückliegen, derart unglaubwürdig wirken sie in der heutigen Zeit.

Erinnert sich noch jemand an die Protagonisten früherer Zigaretten-Werbung? An den Cowboy, der im flackernden Schein des Lagerfeuers seinen Tschick schmaucht? Oder an den Abenteurer in kamelfarbener Kluft, der sich durch die Wildnis kämpft ohne den wippenden Glimmstängel im Mundwinkel je zu verlieren?

Ziemlich genau vor 30 Jahren traf ich auf reale Verkörperungen dieser Lässigkeit. Junge Männer lehnten an der Theke, athletisch, braungebrannt, mit verwegenem Gesichtsausdruck. Sie erzählten von gefährlichen Einsätzen in steilem Gelände, vom Geknatter der sie ständig umfliegenden Hubschrauber, aber auch von der Stille der Bergnächte und dem prächtigen Sternenhimmel. Hätte sich Grönemeyer dazumal bereits die Frage, wann denn ein Mann ein Mann sei, gestellt, so hätte ich ihm ohne Zögern geantwortet: „Wenn er bei der Wildbach ist.“

 

Bei der Wildbach sein. Seltsam. Man sagte nicht: „Ich arbeite für die Wildbach- und Lawinenverbauung“, sondern man identifizierte sich mit der unbezähmbaren Wildheit eines Gebirgsbaches und ließ sprachlich sowohl die störende Arbeit, als auch die Verbauung und die Lawinen unter den Tisch fallen. Wild sein – darauf lief es hinaus.

Die Wildbach war in meiner Jugendzeit einer der wichtigsten Arbeitgeber in den gebirgigen Seitentälern Vorarlbergs. Vor allem in den Sommermonaten wuchs der Bedarf an kräftigen Männern für die zahlreichen Höhenbaustellen, in die sie für lange Wochenschichten verschwanden. In den dermaßen geplünderten Dörfern harrte die Weiblichkeit ihrer Rückkehr, die von bösen Zungen als freitäglicher Almabtrieb bezeichnet wurde. Eigenartigerweise hatten es die Männer der Wildbach gar nicht eilig heimzukommen, sie strandeten meistens im Dorfgasthaus. Als müssten sie sich nach der Einsamkeit am Berg erst an die Gesellschaft im Tal herunten gewöhnen, bevor sie nach Hause gehen und sich ihren Familien zumuten konnten. Manche zogen es sogar vor, den ersten Abend überhaupt an der Theke zu verbringen.

Das tat meiner Bewunderung keinen Abbruch. Für mich verkörperten diese Männer das Abenteuer schlechthin. Mir war egal, dass sie nach der Wochenschicht unrasiert waren, nach Schweiß und Lagerfeuer stanken. Der Geruch von Freiheit ist nun mal kein Parfum, dachte ich. In meiner Naivität stellte ich mir ihren Arbeitsplatz romantisch vor. In Pastellfarben malte ich mir die Begegnung mit Steinböcken und Gämsen, die Sonnenauf- und -untergänge am Berg oben aus. Heimlich hegte ich die Hoffnung, dass sich mein pickelübersäter Freund vom Teenager bald zu einem „Wildbachler“ entwickeln und mich dort hinauf mitnehmen würde. Meine Vorstellung von einem Mann war damals genau so stereotyp wie das Frauenbild in den Köpfen dieser Männer, dem ich leider gar nicht entsprach. Aber das wusste ich zum Glück (noch) nicht.

 

Es kam anders. Gegen Ende meiner Gymnasialzeit riss der Kontakt zur Wildbach ab. Statt hinaus in die Natur sollte ich auf die Universität gehen. Man riet mir, die Matura als Sprungbrett zu nützen, aber nicht in die Bergwelt, sondern in die Chefetage. Mein Kompromiss zwischen Bürojob und Aufenthalt im Freien lautete: Vermessung.

 

Unerwartet trat die Wildbach wieder in mein Leben. Das technische Büro, in dem ich eine Anstellung hatte, sollte Grundlagenpläne für Sicherungsmaßnahmen in einem extrem steilen und unzugänglichen Tobel erstellen. Im Gegensatz zu heute gab es damals keine berührungslose Distanzmessung. Jeder markante Punkt im Gelände musste von einem Menschen aufgesucht werden, der dort ein Prisma für die Reflexion des Messstrahls positionierte. Ich lebte auf. Die Wildbach hatte mich von der langweiligen Asphaltrandmessung an Straßenkreuzungen weg in ein Abenteuer geholt. Am Seil gesichert turnte ich in den Schrofen herum und watete durch den eisigen Fluss. Ich tat alles, um meine Geländetauglichkeit zu beweisen. Die Rechnung ging auf. Mein Chef teilte sämtliche Aufträge der Wildbach mir zu.

 

Doch dann kamen mir Gerüchte zu Ohren, dass die Wildbach selbst Vermessungsinstrumente kaufen wolle und dafür ausgebildetes Personal suche. Meine Bewerbung sah ich als reine Formsache an, schließlich brachte ich alle Voraussetzungen mit und besaß beste Referenzen. Mit dem legendären Song der Troggs: „Wild thing, you make my heart sing!“ auf den Lippen kündigte ich meinen Job, ohne zu bedenken, dass die nächste Textzeile lautete: „But I wanna know for sure“.

 

Umso schmerzhafter traf mich die Absage. Es hieß zwar seitens der Belegschaft, man würde mich gerne nehmen, sogar „mit Handkuss“, nur leider gebe es da ein Problem: Ich sei eine Frau.

Das überraschte mich. Nicht die Tatsache an sich, sondern dass diese der Umgebung bislang offenbar verborgen geblieben war.

„Den Handkuss können wir ja weglassen“, scherzte ich ebenfalls. Das Frauen-Argument konnte schließlich nur ein schlechter Witz sein. Hatte ich denn nicht bewiesen, dass ich mein Handwerk beherrschte?

Daran liege es nicht, bekam ich zur Antwort, sondern vielmehr an der Meinung des Chefs, Frauen würden dem Betriebsklima schaden. Man könne nur auf seine baldige Pensionierung hoffen. Von einem persönlichen Gespräch riet man mir ab, wegen Aussichtslosigkeit, aber auch weil der Gebietsbauleiter von einer Krankheit seit langem ans Bett gefesselt sei.

Was nun?

Ich wollte mein Glück nicht vom Ableben einer Geisteshaltung abhängig machen und beschloss den alten Herrn zu besuchen. Daheim.

 

Grübelnd stand ich vor dem Kleiderschrank. Was zieht frau zu so einer Bewerbung an? Auf gar keinen Fall durfte es etwas Figurbetontes sein. Vielleicht hatte der Mann ja ein krankes Herz? Wobei in diesem Falle der Minirock vielleicht…? Nein!

Nach reiflicher Überlegung entschloss ich mich zu einer forstgrünen Schnürlsamthose, leichten Bergschuhen und einem weiten Pullover, der meine weiblichen Formen verbarg. An meinem Kurzhaarschnitt musste ich nichts ändern.

Ungeschminkt trat ich an das Bett des kranken Mannes. Es war eine demütigende Situation, die mich in die Haltung einer devoten Bittstellerin zwang. Denn die Frau, die mich ins Zimmer geleitete, hatte mir deutlich zu verstehen gegeben, wie pietätlos und aufdringlich mein Besuch hier empfunden wurde.

Der Gebietsbauleiter hörte sich mit unbewegter Miene mein Anliegen an. Die Zeugnisse und Ausbildungsnachweise würdigte er keines Blickes.

Danach sagte er einfach: „Nein.“

Und auf meine Nachfrage hin: „Selbst wenn Sie die beste Vermesserin der Welt wären, junge Frau, so würden Sie innerhalb unserer Mannschaft Verwirrung stiften. Intrigen, Eifersüchteleien, Streit wären die Folge. Eine Frau in einer Männerbastion bringt das Arbeitsklima durcheinander. Und jetzt gehen Sie, bitte.“

Ich wollte widersprechen, Argumente vorbringen, aber der Mann schnitt mir mit einer gebieterischen Handbewegung das Wort ab und sank in die Kissen zurück.

 

Die Frau, die der kurzen Begegnung beigewohnt hatte, sah mich vorwurfsvoll an, in ihren Augen stand die Frage: „Musste das sein?“

Ich schloss die Türe leise hinter mir, obwohl ich sie am liebsten zugeknallt hätte. Draußen am Dorfbrunnen hielt ich das Gesicht unters kalte Wasser. Meine Wangen brannten wie nach einer Ohrfeige.

 

Damals, Ende der 80er Jahre, galt ein Arbeitsloser als faul. Wer tüchtig war und Leistungswillen zeigte wurde gemäß dieser weit verbreiteten Meinung überall gerne genommen. Ich hatte gekündigt, weil ich dieser Theorie vertraute. Sie mag – wenn überhaupt – vielleicht für Männer Gültigkeit besessen haben, für mich sah die Praxis jedenfalls anders aus. Obwohl mir bekannt war, dass ausgebildete Vermesser in Vorarlberg gesucht wurden, erhielt ich bloß Absagen. Manche waren sehr direkt und beriefen sich auf die „Störung des Arbeitsklimas“, die ich unweigerlich als Frau in der männlichen Monokultur hervorrufen würde, andere tarnten sich mit „derzeit leider kein Bedarf“.

Um wenigstens über die Wintermonate eine Verdienstmöglichkeit zu bekommen, versuchte ich mein Glück bei den Bergbahnen. Meine Bewerbung löste Erstaunen aus, Maturanten hatten sich noch nie fürs „Sesselschubsen und Bügelhalten“ interessiert.

„Gerne würden wir Sie einstellen“, sagte der Personalleiter, „nur leider…“

„Das Arbeitsklima?“, fiel ich ihm ins Wort.

„Nein. Das ist doch kein Argument!“

Ich staunte über so viel Aufgeschlossenheit. Trotzdem verhinderte meine Weiblichkeit die Anstellung. Diesmal war es ein Gesetz. Es verbot Frauen die Arbeit an Bahnanlagen. Der Schiliftbetreiber bemühte sich um eine Sonderbewilligung beim zuständigen Ministerium. Ich erhielt sie just an dem Tag, als sich das Fernmeldebauamt dazu entschloss, mich aufzunehmen. Allerdings nicht in den männlich dominierten Bau- und Vermessungstrupp, wie es mein Wunsch gewesen war, sondern in die Verwaltung.

 

Während ich über zwei Jahren lang dort meinen Bürojob absolvierte, die tristen grauen Wände anstarrte und mit dem Gedanken an eine Geschlechtsumwandlung spielte, bekam ich plötzlich Nachricht von der Wildbach. Mein Herz klopfte vor Freude! So musste sich Aschenputtel gefühlt haben, als es endlich vom Prinzen erkannte wurde.

Aber die Wildbach wollte nicht mich, sondern bloß mein Wissen. Man bat mich, die zur Vermessung eingestellten Männer im Umgang mit den Instrumenten zu schulen. Das tat weh.

 

Erst Anfang der 90er Jahre gab es eine Chance in meinen erlernten Beruf zurückkehren. Das Landesvermessungsamt inserierte: „Vermessungstechniker/in gesucht“. Nie hätte ich gedacht, dass ein Schrägstrich derartige Bedeutung erlangen kann.

Der Leiter des Vermessungsamtes sah in meiner Person zum Glück keine Gefährdung des Arbeitsklimas, im Gegenteil. Der Umgangston würde sich seiner Meinung nach deutlich verbessern, wenn er mich einstellen könnte. „Ja, wenn…“, seufzte er.

Was war denn nun schon wieder? Ich geriet in Panik.

Es stellte sich heraus, dass mein Maturazeugnis Probleme machte. Weiblichkeit alleine war offenbar kein Hindernis, aber gepaart mit Bildung könnte sie innerhalb der männlichen Vermessungstruppe ohne Gymnasialabschluss Minderwertigkeitsgefühle auslösen. Ich musste daher unterschreiben, dass ich auf sämtliche Ansprüche hinsichtlich Stellung und Gehalt, die ich von meiner Ausbildung her ableiten könnte, verzichte. Dass es zuvor innerhalb der Belegschaft eine Abstimmung mit äußerst knapper Mehrheit für das gewagte Experiment, die erste Vermesserin Vorarlbergs einzustellen, gegeben hatte, erfuhr ich zum Glück erst viel später.

 

Meine Vorliebe für unwegsames Gelände war ungebrochen – und ungeteilt. Schwierige Geländeaufnahmen oder Aufträge mit langen Fußwegen wurden gerne mir überlassen. Ich übernahm solche „Spezialfälle“ mit Vergnügen. Mit der Zeit entwickelte ich mich zur Expertin für die Vermessung von Hangbewegungen. Die neuerliche Begegnung mit der Wildbach, meiner alten unerfüllten Liebe, war unvermeidlich. Nervös fuhr ich auf die erste Besprechung zu der mich die Wildbach eingeladen hatte. Bestand nach wie vor Gefahr für das Arbeitsklima? Würde ein Mann bei meinem Anblick, von plötzlichen Minderwertigkeitsgefühlen heimgesucht, auf dem Absatz umdrehen und die Besprechung verlassen?

Meine Befürchtungen entpuppten sich als völlig haltlos. Zu meiner Überraschung leitete eine Frau, die stellvertretende Sektions-Chefin der Wildbach, die Sitzung. Der alte, abgestandene Mief der Männerbastion war Rauch von gestern. Verpufft wie das Helden-Klischee aus der Zigarettenwerbung, dem auch ich einst erlegen war. Ich atmete auf. Endlich war eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe möglich.

 

Wenn ich heute meine Messergebnisse per E-mail an die WLV sende und die Adresse @die-wildbach.at eintippe, muss ich ob des grammatikalischen Widerspruchs schmunzeln. Ohne die Verbauung (und sei sie auch nur im Kopf) wird aus einem männlichen Wildbach ein weiblicher. So einfach ist das.

„Wild thing, you make my heart sing!”