Der Adler ist gelandet


„Ich werde in zehn Minuten starten.“

„Verstanden. Wie sind die Bedingungen?“

„Nicht optimal, der Wind wechselt ständig die Richtung, kommt mal von vorne, mal von der Seite, aber er ist nicht stark. Ich werde auf einen günstigen Zeitpunkt warten.“

„Ok Schatz. Mach’s gut und melde dich wieder. Ich nehm’ das Funkgerät mit ins Geschäft.“

 

Der Countdown läuft. Und meine Blase meldet plötzlich Überdruck, als wäre sie nicht erst vor einer halben Stunde geleert worden. Angetan mit Überhose, zwei Rollkragenpullovern, Daunenanorak und Sturmhaube stapfe ich über die Löwenzahnwiese, am wissenden Gegrinse meiner Kollegen vorbei zum Gebüsch und schäle mich aus meiner Verpackung. Wegen ein paar Tropfen, typisches Angstbiseln. Das kennen auch die anderen hier am Startplatz. Nur die haben es leichter, sind eben Männer und selbst durch zwei Hosenläden bringen sie ihr Ding bis ins Freie. Und zielen damit auf mein Gebüsch oder die Blumenstängel davor. Ich verabscheue nass glitzernde Wiesen.

„Wie machen das Astronautinnen?“, überlege ich und stakse schwerfällig, wie ein übervoller Kleiderständer zu meinem Drachen zurück. „Tragen die Katheder?“

Es ist die falsche Zeit für solche Fragen, denn die anderen Piloten warten darauf, dass ich endlich die Startbahn räume. Die Mittagssonne glüht auf meinen Helm, ich zwänge mich in das Gurtzeug, streife die dicken Handschuhe über, will den Karabiner einhängen. Der Check! Siedendheiß fällt mir ein, dass ich die Routinekontrolle noch nicht gemacht habe. Ich gebe mich gelassen, tue so, als ob ich das genervte Stöhnen der Kollegen hinter mir nicht höre, während ich jedes Verbindungsteil an meinem Fluggerät prüfe. Schweiß verwandelt meine Kleidungsschichten in feuchte Lappen und beschlägt die Brillengläser. Mitten in dieses Wettexgefühl sticht ein Wort: „Frau“. Sofort ergänzt mein Gehirn „typisch“ und die Hitze in mir explodiert. Am liebsten hätte ich geantwortet: „Wie wollt ihr denn beurteilen, was typisch Frau beim Drachenfliegen bedeutet? Ihr kennt ja bloß mich, sonst fliegt in diesem Land ja keine!“ Aber was wäre die Reaktion gewesen? Eine Wiederholung der Gleichberechtigungs- und Eignungsdebatten? Die waren stets völlig sinnlos geblieben, denn eine Verletzung des männlichen Egos kann weder durch Argumente noch durch Beweise rückgängig gemacht werden. Ich bin das Problem, der Stachel, der in dieser letzten Männerbastion (zumindest in Vorarlberg) steckt. Und ich lasse mich nicht entfernen, hinausquetschen, auch wenn mann das zu Beginn meiner Fliegerei teilweise probiert hatte. Mit lächerlichen Methoden wie Ignorieren oder einer Art Fremdschämen, wenn sie darauf angesprochen wurden: „Stimmt das, ihr habt eine Frau im Klub?“ Oder wenn sie mein Geschlecht als Anlass nahmen, sich untereinander zu beleidigen: „Heute war die sogar höher als du! Kannst du Flasche nicht mehr fliegen, oder was?“

Sollen sie nur stöhnen hinter mir. Der Check ist lebenswichtig und hat nichts mit Genderfragen zu tun.

Wie oft hat die Nasa den Countdown zu einem Raketenstart in letzter Minute abgebrochen, bloß weil irgendwo eine Schraube klemmte? Und sitzen da nicht ausschließlich Männer an den Schaltpulten? Und in den Raumfahrzeugen? Ja ich weiß, es heißt schließlich bemannte Raumfahrt. Bislang musste dieser Begriff keiner Verweiblichung unterzogen werden. Der vielzitierte „kleine Schritt für einen Menschen, aber große Schritt für die Menschheit“ presste 1969 den Fußabdruck eines Mannes ins Antlitz der Luna, der weiblichen Göttin. Seit der Apollo 11 Mission war der Mann im Mond kein Märchen mehr. Eine Gefährtin gesellte sich nie dazu. Die Amerikaner ließen erst 1983 eine Frau ins All fliegen. Die Mission lief unter dem Titel „Challenger“ und diese Herausforderung galt wohl den Herren der Schöpfung, die von einem Gerichtsurteil zur Zulassung von weiblichen Astronautinnen gezwungen worden waren. Vorbei die Zeiten des strahlenden Sonnengottes „Apollon“, der einer Legende nach, ein weibliches Ungeheuer besiegen musste, um Herrscher über das Orakel in Delphi zu werden und damit auf der Himmelshierarchie emporzusteigen.

 

Ich klinke den Karabiner ein, hebe den Drachen an und gehe zur Rampe hinüber. Die Holzbretter, etwa 2 Meter breit, sind quer zur Laufrichtung angeordnet. Durch die ersten Fugen wuchern Grashalme, dann verlässt die Rampe allmählich den Boden, überdeckt die niedrigen Büsche, stützt sich ein letztes Mal auf der Felswand auf und streckt sich einige Meter weit in den Raum hinaus. Dahinter: Nichts. Ein Steg, der den Himmel mit der Erde verbindet. Davor: Ich.

Der Wind spielt mit der Fahne, ist unstet. Ich muss warten. Ein unbestimmtes Gefühl lastet schwerer als die 50 Kilogramm der Ausrüstung auf meinem Körper. Ist es Angst? Oder das Gewicht der Eigenverantwortlichkeit, meiner Entscheidungsfreiheit für den richtigen Zeitpunkt? In der Raumkapsel werden sie fremdgestartet; irgendjemand, der für einen Fehler nicht mit seinem Leben bezahlen muss, legt den Schalter um. Neun Sekunden, acht Sekunden, sieben – ich könnte die Ohnmacht, dieses Ausgeliefertsein nicht ertragen. Mein Warten hingegen gleicht einem Lauern, ist höchste Aktivität aller Sinne.

 

Die Windfahne weht auf mich zu, mein Herz versteht sofort. Bevor ich „jetzt“ denken kann, ist das Adrenalin im Körper verteilt und brennt bis zu den Fingerspitzen. Ich trete auf die Rampe, balanciere den Drachen im Aufwind und neige mich nach vorne, um den Füßen den Impuls zum Rennen zu geben. Nun gibt es kein Zurück mehr, ein Startabbruch hätte verheerende Folgen. Es bleibt nur eines: Laufen!

Laufen, mit dem schwindenden Gewicht auf den Schultern; laufen, auf das verschwommene Tal zu, das tief unter der Felswand grünt; laufen, den Blick fokussiert auf das Ende der Rampe; laufen mit federleichtem Körper; laufen, ein Schritt noch, das letzte Brett, abstoßen – und fliegen.

 

Satt liegt der Drachen in der Luft, reagiert auf meine Steuerimpulse, es ist alles in Ordnung. Nur einmal war es anders und diesen Flug werde ich nie vergessen. Hektik bestimmte damals das Treiben am Startplatz; die Thermik war stark. In einem Wirbel saugte sie das frisch gemähte Gras vom Hang und drehte es zu einer grünen Windsäule, die, ständig die Richtung ändernd, auf die zahlreich aufgebauten Drachen zusteuerte. Als wäre sie unschlüssig, welches Opfer sie wählen sollte. Dann ging alles blitzschnell. Ein roter Drachen wurde vor den Augen seines Piloten in die Luft gerissen, stieg kreisend höher, schmierte dann aber über einen Flügel ab und stürzte krachend in eine Baumgruppe weit unterhalb des Startplatzes. Einige Kameraden des verdutzten Piloten versicherten ihm ihre Hilfe, andere beeilten sich in die Luft zu kommen. Ich vergaß den Check.

Kaum hatte ich abgehoben, merkte ich, dass etwas nicht stimmte. Der Drachen reagierte nicht, sondern flog in einem großen Bogen wieder auf die Startwiese zu. Mit aller Kraft musste ich den Steuerbügel herumreißen, sonst wäre ich neben dem roten Windopfer meines Kollegen eingeschlagen. Schweiß brach mir aus, ich wusste nicht, was los war, konnte keine Auffälligkeiten am Flügel erkennen. Mein vom Helm eingeschränktes Blickfeld ließ keine Analyse zu. Nur mit Mühe konnte ich geradeaus fliegen, ständig wollte der Drachen nach rechts ausbrechen.

 

Was hätte ich darum gegeben, aus diesem Flug einfach auszusteigen, eine Reset-Taste zu drücken, neu zu beginnen! Aber diese Möglichkeit existiert beim Fliegen nicht. „Wenn du die Konsequenzen nicht tragen willst, dann musst du Golf spielen“, hatte mir mein Mann während meiner Piloten-Ausbildung gesagt. Niemand konnte mir jetzt helfen, selbst ein Funkgerät hätte nichts genützt. Ich musste diesen Flug selbst zu Ende bringen.

Thermik erfasste den rechten Flügel, ich spürte, wie die aufsteigende Luft ihn mit Gewalt anhob. Da der Drachen ohnehin nach rechts zog, ließ ich ihn fliegen wohin er wollte, ließ ihn einkreisen in den wirbelnden Schlauch, der nach Heu roch, und gewann nicht nur rasch an Höhe, sondern auch an Zeit. Die Wiesen im Tal schrumpften, meine Angst entfernte sich im gleichen Maße und ich sah auf das Gipfelkreuz des Hohen Fraßen hinab. Wanderer winkten; gerne hätte ich den Gruß erwidert. Aber ich hatte keine Hand frei. Ständig musste ich mein ganzes Gewicht auf die linke Seite des Drachens verlagern. Da meine Kraft schwand, hakte ich den Unterarm in das seitliche Trapezrohr und hing somit völlig asymmetrisch unterm Flügel, der trotzdem nach rechts zog. Der Höhenmesser zeigte 2100 Meter an. Ich bekam Muskelkrämpfe. Meine Flucht vor dem Boden ging zu Ende, bald musste ich mich stellen.

Mit besonderer Intensität betrachtete ich die Landschaft während ich vom Berg weg über das offene Tal hinausglitt. Ich beneidete die Spaziergänger und Radfahrer, die Bauern beim Heuen und meine Kollegen hoch oben, die unter den weißen Wattewolken nur mehr kleine Dreiecke waren. Niemand ahnte, dass ich ein Problem hatte. Ich war allein mit meiner Angst.

 

Den offiziellen Landeplatz schloss ich aus, denn ich brauchte Platz, viel Platz und eine ganz kurz gemähte Wiese ohne Bodenwellen. Ich plante eine Bauchlandung. Zwei kleine Räder, die links und rechts am Steuerbügel befestigt sind, sollten wie bei einer Flugzeuglandung den abrupten Bodenkontakt dämpfen, ihn in eine horizontal gerichtete Energie umwandeln. Denn die Geschwindigkeit verringern, wie bei einer normalen Landung, konnte ich nicht. Der Drachen wäre sofort auf den rechten Flügel gestürzt. Ich musste deshalb in voller Fahrt am Boden aufsetzen.

 

Der Höhenmesser zeigte nur mehr 300 Meter über Grund. Welche Wiese sollte ich wählen? Hier stand ein Traktor im Weg, dort weideten Kühe und die Stromleitung erkannte ich erst im letzten Moment. Da trat ein Mann aus einer Scheune und blickte zum Himmel auf. Ich war sicher, dass er mich sah und nun Zeuge meiner Landung werden würde. Mein Retter, dachte ich, und hoffte zugleich, dass ich seine Hilfe nicht brauchen würde.

 

An die letzten hundert Meter kann ich mich nicht mehr im Detail erinnern. Mein Körper reagierte automatisch, kalt und berechnend. Der Boden raste auf mich zu, ich steuerte mit aller Kraft nach links, der Drachen flog beinah geradeaus, ich setzte zum ersten Mal auf, hob aber sofort wieder ab, touchierte erneut den Boden. Jede der unsanften Berührungen bremste mich ab. Schließlich konnte ich nicht mehr steuern: Ich schlitterte über das Stoppelfeld, der Drachen drehte sich, blieb abrupt stehen und mein Körper pendelte nach vorne. Ich presste die Arme an mich und spürte, wie ich mit meiner Schulter das Trapezrohr durchschlug und der Drachen über mir zusammenbrach. Stille.

Dann muhte eine Kuh.

Ich befreite mich aus dem Gurtzeug und kroch unter dem Segel hervor. Unverletzt. Sofort inspizierte ich den Drachen, wollte wissen, was das Problem verursacht hatte und konnte im ersten Moment nichts entdecken. Erst nach genauem Hinsehen erkannte ich, dass eine Segellatte nicht eingehängt war und das Tuch sich an dieser Stelle zusammengerumpfelt hatte. Dieser kleine Widerstand hatte den Rechtsdrall hervorgerufen. Ich war enttäuscht. Unterm Fliegen hatte ich mir vorgestellt, dass etwas Ungeheueres am rechten Flügel passiert sein müsste. Aber nein, nur diese mickrigen Falten, diese Runzeln im Segeltuch. Ich schämte mich meiner ausgestandenen Angst.

 

Ein Bauer kam her und ich erkannte ihn ihm sofort den Mann, den ich aus der Luft als meinen Retter, als den Ersthelfer auserkoren hatte. Er ignorierte mein dankbares Lächeln und schnauzte mich an, dies sei kein Landeplatz und ich solle mein Gerümpel schleunigst zur Seite räumen, denn er käme gleich mit der Jauche und wolle düngen. So banal endete das Abenteuer. Gülle als Antwort auf den Traum vom Fliegen. „Ignorant“, nannte ich den Bauern im Stillen und bat ihn gedanklich sofort um Vergebung. Vielleicht wusste dieser Mann nichts von der besessenen Suche Leonardo da Vincis nach einem flugtauglichen Gerät, von den Versuchen Otto Lilienthals. Kannte er die Sage vom Ikarus? Konnte der Bauer, als Mann des Bodens, die Sehnsucht nachempfinden sich von dieser nährenden Erde zu lösen?

Wie viele Menschen standen in der Vergangenheit im Bann dieser Vision? Pioniere, tollkühne Männer und waghalsige Erfinder riskierten ihr Leben um aus der Vogelperspektive auf die Erde herabblicken zu können. Ich erfüllte ihren Traum, erntete die Früchte des von ihnen gepflanzten Baumes. Dafür nahm ich selbst diese Bruchlandung in Kauf und ertrug es, unter Androhung von flüssiger Kuhscheiße schimpfend vom Feld gejagt zu werden.

 

Die Entwicklung der Drachen war ursprünglich nicht für den Menschen konzipiert, sondern sollte dazu dienen, die wiederverwertbaren Module der Raumfahrtmissionen sicher auf die Erde zu bringen. Die Nasa forschte an Gleitsegeln, die im Gegensatz zu den Rundkappenfallschirmen einen steuerbaren Flug aufs Festland ermöglichen würden, anstatt die Kapseln irgendwo im Meer aufklatschen zu lassen. Der Amerikaner Francis Rogallo erarbeitete dafür ein Konzept, welches er sich 1948 patentieren ließ. Als die Nasa in den 1960er Jahren das Apollo-Programm in Angriff nahm, wurde die diesbezügliche Forschungsarbeit intensiviert. Neben dem mittlerweile bekannt gewordenen „Gleitsegel mit Rogallo-Dreiecksform“ wurde auch Rogallos zweite Idee wieder aufgegriffen. Sie befasste sich mit „nach vorne offenen Stoffröhren, parallel nebeneinander angeordnet, die, durch den Fahrtwind aufgeblasen, eine Tragfläche bilden“. Der Franzose Jalbert entwickelte das Konzept weiter und legte damit den Grundstein für den heutigen Gleitschirm. Die Australier Bill Moyes und Bill Bennet konzentrierten sich auf die Verbesserung des Rogallo-Gleitsegels und hängten sich selbst, anstelle von Raumkapseln unter ihre Drachen. Auf Flugshows tourten sie durch alle Weltteile, aber in Europa blieb das Echo gering. Erst als 1973 der Kalifornier Mike Harker mit einem Drachen von der Zugspitze startete, setzte der Boom ein. Der Traum der Menschheit vom vogelähnlichen Flug war verwirklicht.

 

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle mit zwei Vorurteilen aufräumen: Zum einen mit dem vom „Fliegen wie ein Vogel“ zum anderen mit der irrigen Verknüpfung von „Freiheit und Fliegen.“

 

Ich beobachte den Bussard, der unter mir kreist. Er ist soeben aus der Mitte eines Tannensternes – so sieht ein Nadelbaum von oben aus – gestartet, ohne einen einzigen Flügelschlag. Der Vogel breitete bloß seine Schwingen aus und stieß sich vom Zweig ab. Sein Instinkt musste ihm verraten haben, dass sich genau zu diesem Zeitpunkt eine Thermikblase über dem Wald ablöste und aufstieg. Mein Variometer, ein Gerät zur Höhenanzeige, meldet zartes Steigen. Ich versuche es dem Vogel gleichzutun. Eine lächerliche Anmaßung. Mit jedem Kreis, den er zieht, verringert sich der Abstand zwischen uns um einige Meter. Jetzt ist er so nah, dass ich den Strömungsverlauf an seinem Gefieder erkennen an; sehe, wie sich die feinen Federchen im Luftwirbel aufbiegen, wie der Vogel geschickt durch Spreizen der großen Federn entgegensteuert, wie er auf die Luftturbulenzen reagiert, indem er die Streckung der Flügel und damit die Aerodynamik verändert. Eine unerreichbare Eleganz und Schlichtheit liegt in seinem Können. Ich muss stundenlang fliegen, bis sich die Trennung zwischen meinem Körper und dem Drachen aufzuheben beginnt, bis ich das Gefühl habe, meine Arme befänden sich nicht mehr am Steuerbügel sondern wüchsen in die Flügel hinein, spannten und wölbten sich wie das Segeltuch und spürten jede Regung der Luft instinktiv. Dieser Zustand kommt dem vogelähnlichen Flug nahe. Momentan bin ich weit davon entfernt. Ich agiere plump und unbeholfen, brauche das Piepsen des Variometers um meinen Instinkt bestätigen zu lassen. Ich spüre zwar, dass ich mich in aufsteigender Luft befinde, aber wie effektiv ich dieses Steigen nutzen kann, zeigt mir nur der Höhenmesser an.

Obwohl der Bussard nach unten blickt, muss er meine Nähe bemerkt haben. Der Vogel lässt sich ein wenig zur Seite versetzen, schaut kurz und ausdruckslos zu mir her, als er sich mit mir auf gleicher Höhe befindet und ist einen Halbkreis später über mir verschwunden.

Mich frisst der Neid.

Das Vario schaltet auf Sinken um. Der Ärger hat mich aus dem Konzept gebracht, ich bin aus der Thermik gefallen. Verzweifelt fliege ich über dem Wald hin und her auf der Suche nach neuem Aufwind. Kein Ästchen rührt sich, kein Blütenstaub steig aus den Wipfeln auf und mir wird heiß. Die Lufttemperatur in dieser Höhe ist frühsommerlich warm, ich hingegen bin angezogen für die Kälte, die über den Schneegipfeln ruht. Ich will nicht „absaufen“ und in zehn Minuten am Landeplatz stehen. Es muss doch irgendwo angewärmte Luft aufsteigen, sich Thermik bilden, bei diesen Temperaturen! Die Handschuhe sind inwendig feucht, meine Ungeduld steigt. Da vorne, diese Kuppe. Nichts. Vielleicht der Südhang des letzten Hügels mit der Kapelle? Nur ein kurzes Piepsen vom Vario, dann fallen die Höhenangaben aufs Neue. Das Feld dort unten, dunkelbraun von der Jauche, ich kann es riechen, ein gutes Zeichen. Der Gestank wird intensiver, der Luftstrom entsteigt tatsächlich dieser Region. Das Vario antwortet mit Piepsen, ich beginne zu kreisen, endlich geht es höher, Meter für Meter und mein Speichel schmeckt wie Gülle. Welcher Idiot setzte Fliegen mit Freiheit gleich? Wahrscheinlich ein Pilot mit Motor. Das lautlose Fliegen, für das der Freiheitsbegriff so oft strapaziert wird ist eine Abfolge von Abhängigkeiten. Thermik nutzen, auch wenn sie stinkt, sich den Winden fügen, die die Flugroute bestimmen, vor Wolken flüchten, die zur Bedrohung angewachsen sind. Freiheit? Wenn das Freiheit ist, so schmeckt sie wie ein lauwarmer Kuhfladen.

 

Ich habe wieder die Höhe des Startplatzes erreicht, die Thermik wird stärker, mischt sich zum Glück mit frischer Luft und trägt mich hoch hinauf über die Felskante. Die Rampe ist nur mehr ein Strich, der aus Unachtsamkeit über den Abgrund hinausgezeichnet worden ist. Mein Drachen dreht sich in engen Spiralen, schraubt sich gleichsam zum Himmel hinauf, sieben, acht Meter Steigen pro Sekunde zeigt das Vario an. Über mir bildet sich ein Schleier, zarte Schlieren vereinigen sich zu einem weißen Gespinst, das die Bezeichnung Wolke noch nicht verdient. 2900 Meter, 2950 Meter. Das Rheintal ist plötzlich ein Tal und keine Ebene mehr. Aus dem Blau des Bodensees wachsen Ufer auf der deutschen Seite, zwängt sich Lindau in den glatten Spiegel. Das hügelige Alpenvorland läuft in sanften Wellen gegen die Berge, die sich immer höher empor recken, sich weißkalte Gipfel frieren, die Silvretta! – ist Vorarlberg wirklich so klein? Der Walgau kerbt sich dazwischen, mündet ins Rheintal und der Säntis droht mit dem Antennenfinger. Dann wieder das Rheintal mit dem geraden Flusskorsett, nur hie und da die alten übermütigen Mäander gefüllt mit dunklem Blau. Das helle Blau, das Schmelzwasserblau schießt weit hinaus in den See, bis seine Farbe untergeht.

So reiht sich Kreis um Kreis, den ich mit dem Drachen fliege und das Panorama dreht sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. 3100 Meter, 3150 Meter, 3200 Meter. Der Bodensee verblasst und über dem Rheintal liegt plötzlich Smog. Eine dicke Suppe brauner Luft überschwemmt das Land, einzelne Wolkenflocken korken wie Schaumkronen oben auf.

Ich atme feuchte Luft, die Nebelschleier über mir sind zu einer kleinen Wolke kondensiert. Das Vario piepst in den höchsten Tönen, während ich eintauche in dieses klamme Weiß, das mir die Welt für ein paar Sekunden verschleiert und mich dann ausspuckt, auf 3500 Metern Höhe. Wie in den Weltraum hinaus katapultiert – eine andere Beschreibung fällt mir nicht ein: Unter mir krümmt sich die dunstige Atmosphäre über der Erde, deren Kugelform ich sehen, nicht bloß ahnen kann. Um mich herum glasklare Luft, als ob da keine Begrenzung mehr existierte. Über mir ein nach oben offenes, durchsichtiges Blau. Und die Sonne brennt ohne jede Farbe, ihre Grelle wirkt unbarmherzig, beinah kalt.

 

Da fällt mein Schatten auf die Wolke unter mir. Nur ein kleines dunkles Dreieck. Aber das Sonnenlicht bricht sich in den Wassertröpfchen und zeichnet einen Regenbogen ringsum. Rahmt meine Silhouette in einen leuchtenden Farbkreis, der immer intensiver wird, je näher ich ihm komme. Ist es die Schönheit, die Freude oder die schneidende Kälte, die mir Tränen in die Augen treibt?

 

Stets habe ich die Astronauten um ihre Aussicht auf die Erde beneidet! Doch sie sind gefangen in einer Kapsel, können nicht die Feuchte der Wolken riechen, nicht den Fahrtwind an der Kleidung zerren spüren, sondern haben immer ein Glas zwischen sich und der Welt. Wie beim Fernsehschauen. Die Welt ist ein Film, ohne Gerüche, Geschmack und ohne Leben. Einzig das Wissen, dass es sich quasi um eine Liveübertragung handelt, gibt den Hinterglasbildern ihre Bedeutung.

Und keine Wolke fängt den eigenen Schatten in einem Regenbogenkreis ein.

 

„Dein Adlerweibchen hat es geschafft!“, funke ich zu meinem Mann, der den Funkspruch leider nicht bestätigt. Die Wolke unter mir beginnt sich aufzulösen und der Regenbogen droht zu verblassen. Ohne zu zögern ziele ich auf meinen Schatten und fliege durchs Zentrum des leuchtenden Kreises. Wie in einem Farbflash flammte die Wolke ringsum mich auf, bevor alles im Weiß erlischt. Einen Augenblick später finde ich mich über der Hohen Kugel wieder, inmitten einer trüben Dunstsuppe, das Weltraumgefühl ist Erinnerung.

 

„Schatz wo bist du?“, krächzt mein Funk.

„Wieder auf der Erde.“

„Was, schon gelandet?“

„Nein, nur aus dem Weltraum zurück.“

„Bitte wiederhole, ich versteh’ dich so schlecht!“

„Ich flieg jetzt Richtung Montafon. Mal sehen wie weit ich komme.“

„OK. Verstanden.“

 

Ich folge einer Wolkenstraße, die von der Thermik in den Himmel getupft worden ist. Über jedem Gipfel, über jeder Erhebung schwebt ein Wattehaufen. Cumulus humili im Fachjargon genannt, Saugnäpfe in der Fliegersprache. Mich erinnert ihre weiße Bauschigkeit mit dunkler Unterseite an Meringe, die am heißen Blech angebrannt sind. Und wie bei dem süßen Gebäck sind mir die dunklen am liebsten. Bei den Wolken deutet die graue Basis auf starke Aufwinde hin. Aber diese Basis ist nicht wie bei den Meringen eine glatte Fläche sondern formt eine Glocke. Es ist ein eigenartiges Gefühl in so einem Gewölbe aus Nebel zu kreisen, weil der Horizont von den Schleiern allmählich verschluckt wird. Es bleibt nur mehr die Sicht zum Boden. Und bevor auch die trübe wird, muss man durch die Glockenwand hindurch, sonst wird man von der Wolke inhaliert. Es kursieren viele Horrorgeschichten von solcherart Eingesaugten, die bis auf fünf-, sechstausend Metern hinaufgerissen worden sind.

Aber heute besteht diese Gefahr nicht. Die Wolken sind klein, selbst überm Hochjoch, wo sich häufig Gewitterzellen auftürmen, wartet nur ein harmloser Saugnapf auf mich.

 

Ich blicke hinab auf das plattgewalzte, geschundene Weiß der Piste. Die Saison ist zu Ende. Zurück blieben künstliche Schneebahnen, an den Geländekanten braun, wie abgewetzter Teppich.

Hier bin ich am Wochenende mit dem Gleitschirm gestartet. Habe den Liftsessel mit dem Paragleitersitz getauscht und bin über die Landschaft geschwebt. Gleitschirmfliegen empfinde ich ähnlich wie Sesselliftfahren. Denn man muss sich nach vorne lehnen und zwischen den Beinen nach unten schauen, wenn man die Vogelperspektive erleben will. Dafür bietet es dem Drachenfliegen gegenüber viele Vorteile: Zum Beispiel die Landung auf einem fremden Planeten. Diese Bezeichnung stammt von mir und ist astronomisch natürlich ein völliger Blödsinn, aber emotional ist sie sehr zutreffend.

Nachdem ich mich letztes Wochenende über das Gewusel auf der Piste erhoben hatte und endlich durch die Klangwolke der Megaabschlussparty in die Stille der Höhe vorgedrungen war, flog ich taleinwärts. Unter mir lagen völlig unberührte Schneeflächen. Sie verliehen der Landschaft etwas Reines, als hätte die unversehrte weiße Decke jeder menschlichen Annäherung getrotzt und alle Spuren abperlen lassen. Fasziniert schwebte ich über jungfräuliche Gebiete, als würde meine Augen diese Berge das erste Mal betrachten. Das war eine andere, neue Art von Schönheit. Nichts regte sich, nicht einmal Gämsen konnte ich erspähen. Das Leben schien erloschen. Ich flog über die Grate und stellte mir vor, eine unbekannte Welt zu entdecken. Der Gedanke gefiel mir so sehr, dass ich beschloss auf diesem fremden Planeten zu landen. Ich fasste eine kreisförmig ausgeaperte Stelle auf einem Bergrücken ins Auge. Der Wind hatte die Schneedecke abgeblasen und den braunen Untergrund freigelegt. Ich wollte wissen, wie sich der Boden dort unten anfühlt. War er hart gefroren oder bereits von der Sonne angetaut? Langsam zog ich Erkundungskreise. Wie konnte ich sicher landen? Wie groß war das Risiko? War der Bergrücken für einen neuerlichen Start geeignet? Die letzte Frage war eigentlich die Wichtigste, aber von meiner luftigen Position aus konnte ich sie nicht mit Sicherheit beantworten. Im schlimmsten Fall müsste ich zu Fuß ins Tal absteigen – aber daran wollte ich erst gar nicht denken. Mir blieb nicht mehr viel Zeit, ich sank unaufhörlich tiefer. Ein letzter Überflug in rund 50 Metern Höhe und mein Entschluss stand fest. Ein paar Sekunden später setzte ich auf dem aperen Fleck auf und der Gleitschirm fiel raschelnd zu Boden. Danach war es unheimlich still. Die Lautlosigkeit der leblosen Winterlandschaft übte einen fast schmerzhaften Druck auf meine Ohren aus. Ich ließ mich auf das kurze, verdorrte braune Gras fallen und fühlte die Schwerkraft, als ob die Erde sich an mich drückte.

Nach einer Weile begann ich meine Umgebung zu erkunden. Der Schnee rings um meinen Landeplatz war weich und meine Schuhe sanken tief ein. Ich stapfte ein großes Herz in das unberührte Weiß, meine Liebeserklärung für die Welt.

Danach legte ich meinen Gleitschirm aus, startete und flog zu den Menschen ins Tal hinunter.

 

Jetzt will ich nachschauen, ob von diesem Liebeszeugnis noch etwas übrig ist. Die Schneedecke hat sich in den vergangenen Tagen stark gesetzt, ein gläserner Film überzieht die Hänge. Schitourengeher müssen unterwegs sein. Über die schattige Westflanke des Bergrückens verläuft ein Zickzack im weichen Schnee, eine unnatürliche Spur, die schließlich zur Südseite quert. Dort gleißt der Firn in der Sonne und ich erkenne einen Menschen, der sich im Anstieg zum Gipfel befindet. Er ahnt nicht, dass sich oberhalb von ihm, am Grat, ein aperer Fleck befindet. Sein Braun ist größer geworden, die Sonne hat das Rund zu einer Ellipse gedehnt. Aber das Herz ist noch da. Meine Stapfen sind nicht mehr scharf gezeichnet, sondern sanft abgerundet. Als hätte ein Riese mit einem warmen Finger die Konturen in den Schnee geschmolzen.

Lachend stelle ich mir das Gesicht des Tourengehers vor, wenn er vor diesem Rätsel steht. Ob er an Außerirdische denken wird? Oder an eine Botschaft Gottes? Welche Erklärung wird sein Verstand finden müssen?

 

Ich erfahre es leider nie. Mit dem Drachen kann ich dort nicht landen, sondern muss ins Tal hinab, zu den großen Wiesen, die jetzt gelb sind vor Löwenzahnblumen. Oder grasgrün, nach dem ersten Schnitt, mit rosa Kugeln gespickt, mit Apfelbäumen. Ich sinke in die Nachmittagswärme hinab, die Luft fühlt sich dick an, wie Blütensirup. Nach zweieinhalb Stunden stehe ich wieder am Boden. Passanten halten auf ihrem Spaziergang inne und schauen mich an, als ob ich vom Mond käme. Meine dicken Handschuhe, meine Gesichtsmaske, der Daunenanorak, die Rollkragenpullover – all das mutet in dieser Umgebung irgendwie außerirdisch an. Vielleicht haben sie gar nicht so unrecht.

„Schatz, dein Adlerweibchen ist gelandet“, spreche ich ins Funkgerät und füge dann mit Blick auf die gaffenden Zuschauer hinzu, „auf dem Planet Erde.“