Gast in der Zukunft
„Ulaan“, sage ich, einer plötzlichen Idee folgend. „Genau! Ulaan werde ich es nennen.“
Vaters fragender Blick überrascht mich nicht. Seine Augen sind immer auf der Suche. Ob nach einem Anhaltspunkt für das eben Gehörte, oder auch bloß um etwas Störendes ausfindig zu machen, das er dann bekämpfen oder in Ordnung bringen kann.
Ich mag diese tastenden Pupillen nicht, sie fühlen sich eklig an, wie Saugnäpfe. Haben sie erst einmal angedockt, zwingen sie alle Aufmerksamkeit in eine Richtung: Zu sich hin. Unwillkürlich stoße ich mich vom Tisch ab und rolle rückwärts in die Zimmermitte. Dort versuche ich eine rasche Drehung um die eigene Achse, aber der Teppichboden blockiert die Räder. Mit einem besseren Rollstuhl, so bin ich überzeugt, könnte ich bald Pirouetten drehen. Mühsam manövriere ich mich über den Teppichwulst wieder zu meinen Vater hin, der außer einer Begrüßung noch kein Wort gesprochen hat. Was denkt er wohl? Wieso hakt er bei dem Namen Ulaan nicht nach?
Hat es einen Sinn, ihm zu erklären, dass ich seit meiner Schulzeit von der mongolischen Steppe träume? Dass mein Sehnsuchtsort aus hügeligem Grasland besteht, dessen Horizontlinie in sanften Wellen schwingt, wie die Rüschenborte meines Glockenrocks, wenn ich mich im Tanz drehe?
Vaters Welt ist nicht eben, sondern von Bergen dominiert. Selbst jetzt noch. Früher brauchte er sowohl Kraftakt als auch Leistungsschmerz um dann, auf der höchsten Spitze thronend, das genießen zu können, was er unter Freiheit verstand: Auf die Welt hinabblicken.
Vielleicht liegt darin der Grund für meine Flachlandliebe: Die Antithese zu Vaters Wertekosmos. Ohne Anstrengung, Disziplin und Überwindung auf gleicher Höhe mit Mensch und Vieh zu sein. Mittendrin in der riesigen Steppe, wo kein Weg verbaut oder vorgezeichnet ist. Der Schulatlas schrieb unter mein Lieblingsbild: Mongolei. Daneben ein Kartenausschnitt mit nur wenigen Punkten gesprenkelt. Der dickste hatte einen klingenden Namen: Ulaan Bataar, die Hauptstadt.
Ich kehre wieder in Vaters Blick zurück und sage meinen mongolischen Traum fortsetzend: „Ich spare nämlich auf ein Pferd.“ Gespannt warte ich auf eine Reaktion. Vaters Pupillen schrumpfen ein wenig, bevor sie zu schwimmen beginnen. Ein wässriger Film steigt vom unteren Lidrand auf und kappt die Verbindung zu mir. Vater blinzelt verwirrt und seine linke Hand schiebt sich über die Tischplatte in meine Richtung. Sie erreicht mich nicht. Ein Salzstreuer steht im Weg. Vaters tastende Finger haben etwas gefunden, das für ihn präsenter und leichter verständlich ist. Schweigend vertieft sich Vater in die Betrachtung des kleinen Glasgefäßes. Schraubt am Deckel herum und vergisst dabei völlig auf meine Anwesenheit. Bald ist die Tischplatte mit weißen Kristallen übersät.
Ich wollte Vater mit der erfundenen Pferdegeschichte aus der Reserve locken. Hörte er überhaupt zu oder wartete er nur auf Stichworte, an die er seine eigenen Erinnerungen anknüpfen konnte? Wie würde er auf etwas gänzlich Neues reagieren?
Gar nicht.
Ich hatte es geahnt. Es ist völlig gleichgültig, was man ihm erzählt. Ohne die passenden Schüsselworte bekommt man keinen Zutritt in seine Welt. Mir sind alle Schlüssel, diese magischen Codes für ein Sesam-öffne-Dich, bekannt. Ich vermeide sie absichtlich. Denn anstelle eines unbekannten Erfahrungsschatzes offenbaren sie stets nur dieselbe Rumpelkammer von verstaubten Erinnerungen. Gleich einem Tonband spult Vater seine Geschichten ab, über die Jahre hinweg unverändert und wortgleich. Sage ich „Bernina“, folgt die sieben-Gipfel-Überschreitung, fällt der Begriff „Nebel“, hängt Vater seine Silvretta-Touren dran.
Mit einem Pferd namens Ulaan habe ich ihn derart überfordert, dass er mich einfach ausblendet.
Es ist medizinisch nicht abgeklärt, inwieweit Vaters Nervenkrankheit auch Auswirkungen auf seine Gehirnfunktionen hat. Wenn die gestörte Signalübertragung zu Lähmungen und Muskelschwund in Armen und Beinen führen kann, warum nicht auch zu Aussetzern im Denken oder im Sprachzentrum?
Obwohl -, manchmal ist Vater durchaus imstande einer Unterhaltung, die sich nicht ums Bergsteigen dreht, zu folgen. Letztes Mal, als sich zufällig die ganze Familie um einen Tisch versammelt hatte, schnitt einer meiner Brüder das Thema Erbschaft an. Vater ist Eigentümer eines großen Hauses und sein körperlicher Zustand verschlechtert sich rasch. Im Falle eines stationären Aufenthalts in einem Pflegeheim würde das Haus zur Kostenabdeckung herangezogen werden, falls nicht rechtzeitig eine Schenkung gemacht worden wäre.
„Noch lebe ich!“, versuchte Vater damals das Thema abzuwürgen.
Der Bruder wies dezent darauf hin, dass – also rein statistisch gesehen – die Wahrscheinlichkeit doch sehr hoch sei, dass auch der Herr Papa einmal sterben müsse. Schließlich sei er schon weit über achtzig.
„Mag schon sein, dass ich einmal sterben muss“, räumte Vater widerwillig ein. „Aber ob ihr dann noch lebt?“
Mit dieser Prophezeiung verließ er den Raum, eine verdutzte Familie zurücklassend. Nach einer Schrecksekunde prustete mein Bruder los und hieb sich auf die Schenkel.
„Der meint das ernst!“, brach es unter Lachsalven aus ihm hervor.
Mutter nickte zur Bestätigung, fand den Gedanken an Jahrzehnte voller Pflegedienste aber nicht lustig. Fast tonlos sagte sie: „Und jetzt kann ihn keine Lawine mehr erwischen.“
Kurz stockte uns Geschwistern der Atem. Dann lachten wir, als hätte Mutter einen Witz gerissen. Es klang bemüht und hilflos zugleich.
Mittlerweile ist es im Zimmer düster geworden. Vater hat fast alle Salzkörner mit dem Zeigefinger von der Tischplatte aufgetupft und in den Mund gesteckt. Ich höre wie die Haustüre ins Schloss fällt und Mutter im Gang den Mantel an die Garderobe hängt.
„Ihr sitzt ja im Dunkeln“, sagt sie beim Eintreten und betätigt den Lichtschalter.
Unter dem sternförmigen Lampenschirm wird nur eine von fünf Birnen hell.
„Nicht schon wieder! Sein Sparfimmel treibt mich noch in den Wahnsinn!“, schimpft Mutter und tritt an die Lampe heran. „Soll ich unter dieser Notbeleuchtung vor mich hin dämmern? Nein! Ich will Licht zum Leben!“ Mit ein paar raschen Handbewegungen hat sie alle Birnen zum Strahlen gebracht.
Ich staune. „Wie schafft es Vater eigentlich, die Birnen aus der Fassung zu schrauben?“, frage ich. „Dazu müsste er doch stehen können?“
Mutter stutzt. „Du hast Recht“, sagt sie und blickt misstrauisch zu Vater hinüber, der die letzten Salzkörner mit feuchten Fingerkuppen einfängt und keine Notiz von uns nimmt. Zu mir gebeugt flüstert sie: „Manchmal ist er mir unheimlich. Ich weiß dann nicht mehr was wahr oder gespielt ist. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, entwickelt er beinah überirdische Kräfte. Dann kann er sogar ein paar Schritte ohne Rollstuhl gehen.“
„Apropos gehen“, greife ich das Stichwort auf, sage entschuldigend: „Ich muss auch wieder…“ und erhebe mich. Den Rollstuhl schiebe ich zur Couch in Vaters Reichweite.
Ich bin froh, dass der Besuch zu Ende ist und ich gehen kann. Einen halben Tag lang war ich Gast in der eigenen Zukunft. Vaters Nervenkrankheit ist erblich.
Kaum zuhause angekommen erreicht mich Mutters Anruf. Sie klingt verwirrt. Vater rede Blödsinn, sagt sie. Er wolle die Garage in einen Stall umbauen lassen. Für ein Pferd. Es werde Ulaan heißen.
„Das ist ein gutes Zeichen, Mama“, freue ich mich und will erklären, dass Vater offenbar mehr mitbekommt als wir glauben. Aber da höre ich, wie meine Mutter zu jemandem, wahrscheinlich zur Pflegerin, die jeden Abend kommt, resigniert sagt: „Jetzt ist es auch bei ihr ausgebrochen“. Dann legt sie auf.