Himmelssternzeiten
Nie war die Zeit lauter gewesen als in Vaters Werkstatt. Hier wurde sie in Sekunden zerhackt, zwischen Zahnrädchen zerknirscht oder pendelte mit einem gedehnten Seufzen hin und her, bis entweder ein Kuckuck rief, oder ein Hämmerchen auf eine Glocke niederfiel. Dann war es Punkt irgendwas. Und Vater schnellte vom Stuhl hoch, half lahmen Zeigern nach, oder bremste mit dem Finger die zu schnellen in ihrem Eifer ein. Bis alle wieder aus der gleichen Position heraus weiterlaufen durften.
Digitaluhren waren in Vaters Werkstatt verpönt. Neu-modernes Zeug einer Wegwerfgesellschaft, die Uhrmacher zu Batteriewechslern degradierte.
Automatik kam ohne Strom aus. Es reichte die ausholende Bewegung von Vaters Hand, die manchmal ausrutschte, um den Schwungrädern von zehn oder mehr Uhren an seinem Unterarm den Schub zu versetzen, den es brauchte, um die Spannung der Federn zu erhöhen.
Eine Watsche lieferte Energie für viele Stunden. Mich hingegen machte sie stumm. Diese mechanischen Ungeheuer raubten meine Laute wie Vampire um sie in ihr monotones Tick-Tack umzuwandeln.
Vater sprach nicht während der Arbeit. Statt Stecknadeln fallen hörte man Zahnrädchen malmen. Der Radioapparat in einem Regal über der Werkbank war dem Versuch meiner Mutter geschuldet, Stimmen zum Stakkato der Schlagwerke in den Raum zu lassen.
Mir wäre ein Singvogel lieber gewesen.
„Hast eh einen“, hatte Vater gesagt und auf meinen Kopf getippt. „Eine Meise.“
„Das Radio bleibt!“, beharrte meine Mutter.
„Na gut“, sagte Vater und nahm die Batterien heraus.
Jeder Disput endete in einem Kompromiss. Streit gab es bei uns nicht. Darauf war Vater besonders stolz, denn er erwähnte den Hausfrieden, der sonst angeblich überall schief hing, jedem gegenüber, der seinen Fuß über unsere Schwelle setzte. Neben der Eingangstüre prangte eine gerahmte Aufforderung, die für diesen geraden Zustand sorgte: Herr segne dieses Haus und alle, die da gehen ein und aus!
Von selbst wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass dieser Satz nicht meinem Vater galt. Dass es einen noch mächtigeren Herrn geben sollte, erfuhr ich erst im Religions-unterricht. Zuhause war Gott kein Thema. Der wohnte in der Kirche, in einer ungeheizten noch dazu. Dorthin ging mein Vater nie. Er könne nicht knien, sagte meine Mutter.
Dabei sah ich ihn oft auf Knien herumrutschen. Vor allem zu Himmelssternzeiten.
Ich konnte stundenlang vor dem Kasten der großen Pendeluhr sitzen und mich im Rhythmus der Bronzescheibe hin- und herneigen. Der Bub wird bei dir noch blöde, klagte Mutter dann. Aber das stimmte nicht. Ich lernte viel, ich lernte sogar, wie man Legoklötzchen lautlos aufeinander steckte, sodass sie beim Einrasten nicht klackten.
Vater musste sich konzentrieren. Er operierte die Uhren bei lebendigem Leib. Zur Abnahme des Bauchdeckels verwendete er ein spezielles Messer, mit einer rund geschliffenen, kurzen, aber sehr scharfen Klinge.
Damit könne er mich umbringen, sagte er. Wenn er wolle, sagte er aber nicht. Das hängte ich in Gedanken an.
Ich wartete stets ab, bis das mörderische Messer in der Schublade lag, bevor ich auf den Stuhl kletterte, der eigentlich Mama gehörte. Aber sie war immer weg, wenn ich da war. Wenn ich mich samt der Sitzfläche nach rechts drehte, konnte ich mich höher schrauben, bis mein Kinn die Resopalplatte des Werktisches erreichte. Mehr gab der Stuhl nicht her, den Rest würde ich wachsen müssen. Immerhin reichte die Höhe aus, dass ich sehen konnte, was Vater machte. Ich hantelte mich entlang der Tischkante zu ihm hin und der Stuhl unter mir rollte nur widerwillig mit. Er schien zu zögern, wie ich. Wir beide wussten nicht, ob die Annäherung gestattet war. Ich atmete nur ganz flach, um keine Himmelssternzeiten zu entfachen. Ein Luftzug konnte schon ausreichen.
Manchmal harrte ich eine gefühlte Ewigkeit in diesem Niemandsland zwischen Distanz und Nähe aus. Beobachtete bloß. Vaters gebeugten Nacken, glatt rasiert bis fast über die Ohren, darüber das dichte Haar, welches von der Metallspange, die die Lupe ans Auge presste, abgeschnürt wurde. Sein Kopf hatte eine leichte Schräglage, damit das rechte Auge, das Lupenauge, direkt über dem Uhrenbauch schweben konnte. Mit präzisen Pinzettengriffen entfernte er Plättchen und Teile, die die Uhr offenbar nicht zum Leben brauchte. Denn während Vater das Gehäuseinnere Stück für Stück ausweidete, zappelte es darin hektisch vor und zurück, griffen winzige Zähnchen ineinander und drehten an einer Welle, die mangels Zeiger die Zeit über eine unsichtbare Spule abwickelte.
Wenn Vaters Hand endlich nach meinem Stuhl griff und mich zu ihm hinzog, erklärte er mir die einzelnen Organe.
„Schau“, sagte er und zeigte mit einem Schraubenzieher, dünn wie mein Haar, ins laufende Uhrwerk. „Das ist die Unruh, hier siehst du das Schwungrad, dort die Aufzugswelle mit der Feder.“
Am meisten faszinierten mich die Lagersteine. Sie leuchteten blutrot und ruhten in einer filigranen Fassung aus Metall, die man wie ein Fensterchen öffnen konnte. Es gebe Männlein und Weiblein, hatte Vater mir einmal erklärt und mir das Plättchen mit der Ausbuchtung und das mit der Mulde gezeigt. Die würden sich exakt ineinander fügen, sofern sie gut geölt seien. Mit der Zeit aber verflüchtige sich der Gleitfilm, dann müsse man sie trennen, um das Schmiermittel zu erneuern.
Doch so eine Operation bekam ich nur selten zu Gesicht. Vater ertrug meine Nähe nicht, seine Hände wurden bald fahrig und er begann zu schwitzen. Es war ein scharfer Geruch, der seinen Achseln entströmte, aber ich mochte ihn, obwohl er mir gleichzeitig Angst einflößte. Auf seltsame Weise verknüpfte ich ihn mit dem Messer, das in der Schublade lag und mit dem ich nicht spielen durfte.
Wenn Vater nervös wurde, lagen Himmelssternzeiten in der Luft. Ich entwickelte einen Riecher für die Gefahr und erschrak dennoch jedes Mal, wenn es so weit war.
„Sack Zement, Himmelssternzeiten!“, stieß Vater dann plötzlich hervor und riss beide Hände in die Höhe. Ab diesem Augenblick durfte sich niemand mehr in der Werkstatt bewegen. In Himmelssternzeiten herrschte Totenstarre.
Dann senkte Vater die Arme, taste langsam seinen weißen Arbeitsmantel ab, rutschte vom Stuhl auf den Boden und dort auf den Knien umher. Wenn seine Hände nichts finden konnten, nahm er einen winzigen Besen zu Hilfe. Auch mich kehrte er damit ab. Die weggesprungene Feder, das Lagersteinchen, konnte überall sein. Erst wenn es gefunden war, durfte ich mich wieder rühren.
Ich hatte panische Angst vor dieser Himmelssternzeit. Was würde passieren, wenn ich niesen müsste? Ich durfte ja nicht einmal eine Grimasse ziehen, wenn mich Vaters Hände absuchten, seine Finger wie ein Kamm durch meine Haare fuhren und tastend in jede Kleiderfalte griffen.
Blieb das entwischte Ding verschollen, wurden die Rollen vertauscht. Vater kniete sich vor mich hin und ich musste ihn vom Scheitel bis zu den Fußsohlen untersuchen. Aber nicht bloß mit den Augen, sondern in streichenden Hand-bewegungen, als würde ich ihn abstauben.
Meistens fanden wir nichts. Nur Vaters Geruch war scharf wie das verborgene Messer.
Wenn Mama zufällig in der Werkstatt war, hatten wir nie etwas zu suchen. Später, als sie gar nicht mehr kam, sagte Vater: „Deine Mutter hat hier ohnehin nichts mehr verloren, sie tickt anders als wir.“
Ich war froh, dass es um mich keinen Streit gab wie um das Radio. Sonst hätte Vater vielleicht auch meine Batterien entfernt.
Nachdem Mama weg war, häuften sich die Himmels-sternzeiten. Sie kamen nun ohne den Sack Zement aus und wurden nicht mehr mit großen Gesten angekündigt. Vielmehr reihten sie sich ins Zeitmaß der an den Wänden aufgehängten Wächter ein. So nannte ich die Großuhren, die zur vollen Stunde nicht nur die Ohren informierten, sondern auch etwas fürs Auge boten. Da setzte sich ein Ringelspiel mit tanzenden Paaren in Bewegung, oder ein altes Männlein zog seinen Hut, bevor es sich verbeugte. Am meisten erschrak ich vor dem Kuckuck. Wenn plötzlich die Türe aufsprang und der Vogel herausschnellte, wurden meine Knie weich. Sein aufdringlicher Ruf verfolgte mich bis in die Träume. Ich hasste ihn.
Während alle anderen Uhren nach einer gewissen Zeit wieder verschwanden, weil sie von den Besitzern abgeholt wurden, blieb die Kuckucksuhr zurück. Auf ewig in Vaters Obhut, so wie ich. Ein Geschenk, oder schlichtweg vergessen. Ich wusste es nicht.
Vater hatte versucht, mir die Angst vor dem Kuckuck zu nehmen. Die Uhr sei so programmiert, sie wolle mir nichts Böses. Er könne mir den Mechanismus zeigen. An einem Beispiel. Am besten kurz vor Mittag.
Seitdem begannen die Himmelssternzeiten um 11:30 Uhr, um rechtzeitig mit dem Absuchen fertig zu sein, bevor das Türchen um Punkt zwölf aufsprang und etwas hervorschoss, dass ich weder sehen noch hören noch spüren wollte.
Einmal hatte jemand mit erstauntem Blick auf mich zu Vater gesagt: „Das Kerlchen ist dem Pfarrer wie aus dem Gesicht geschnitten. Deine Ehemalige hat dir wohl ein Kuckuckskind untergeschoben.“
Ich verstand die Sätze nicht, dachte aber jedes Mal beim Kuckucksruf daran, dass es nicht Vaters Schuld war, wenn ich unter seinen schweren Leib geschoben wurde, sondern jemand anders hatte es so bestimmt.
Irgendwann brauchte Vater keine entsprungenen Rädchen mehr für Himmelssternzeiten. Trotzdem funktionierte ich weiterhin wie ein von ihm in Gang gesetztes Uhrwerk. Mechanische Bewegung bei gleichzeitiger Totenstarre.
Jahre später erfuhr ich, dass das alles Unrecht gewesen war. Der Pfarrer, der sich seit meines Vaters Tod um mich kümmerte, sagte nämlich, mein Vater sei ein gottloser Mensch gewesen. Bei der Himmelssternzeit habe es sich um einen maskierten Fluch gehandelt. Auch der Sack Zement habe nichts mit dem Baumaterial zu tun gehabt. Sondern schmähe auf hinterfotzige Art das heilige Sakrament. Weil Vater sich nicht getraut habe, Herrgottsakrament zu rufen, habe er ähnlich klingende Wörter erfunden.
„Die Himmelssternzeit war eine Sünde?“, fragte ich vorsichtig, weil ich plötzlich eine klitzekleine Chance sah, den Kuckuck zu entlarven. Vielleicht reichte es ja, die Türöffnung zu mani-pulieren, sodass sie zuklappte, bevor sich der Vogel hinter die idyllische Fassade aus Holzfurnier mit Bauernmalerei zurückziehen konnte und alles wieder ruhig war, als wäre nie etwas geschehen.
„Nein, nein mein Junge“, sagte der Pfarrer rasch, als hätte ich ihn bei etwas Schlimmem ertappt. Er griff nach meinen Händen und zog mich an sich, bis mein Gesicht ganz nah vor seinem war.
Während er mich eindringlich ansah und sagte: „Nur das Wort ist böse und darum ist es besser, wir reden nie mehr darüber“, stieg mir ein vertrauter Geruch in die Nase. Unwillkürlich sträubten sich meine Nackenhaare. Ich wollte niemandes Himmelsstern mehr sein. Aber das interessierte keinen.
Unlängst fragte ich mich, warum die Wächteruhren nie Alarm geschlagen hatten und warum der Gekreuzigte jetzt bloß teilnahmslos herabsah. Wo war eigentlich Mama?
Anstelle von Antworten fiel mir das Messer ein und ich sah im Geiste blutrote Lagersteinchen flüssig werden. „Vater, deine Zeit verrinnt“, hatte ich damals geschrien, aber nur innerlich, um die nahende Stille nicht zu vertreiben. Dem Kuckuck war der rote Kopf rasch abgeschnitten. Danach herrschte Ruhe.
Doch irgendeine Automatik hatte den Mechanismus wieder in Gang gesetzt. Daher überlegte ich jetzt, ob sich auch des Pfarrers Batterien hinterm Hosentürchen versteckten? Das ließe sich nämlich reparieren, - so viel hatte ich in Vaters Werkstatt gelernt.
Beim geheimen Sakrament, in das der Pfarrer mich seit dem Schweigegelübde allmählich einführte, lastete er auf mir wie ein Sack Zement. Ein maskierter Fluch. Aber heute hatte ich mein Werkzeug dabei.