Das letzte Fest
Räucherstäbchenqualm drehte im Dämmerlicht Spiralen. Totenkopf und Kruzifix ruhten auf schwarzem Samt, ebenso die Kristallkugel, das Glasauge der Zukunft. Ich war im falschen Film. Eindeutig.
Omas Blick hing an den Tarotkarten, die die Wahrsagerin aufreizend langsam wendete, während sie lautlos die Lippen bewegte.
„Was sagt sie?“, schrie Oma ungeduldig.
„Nichts!“, brüllte ich zurück.
Die magische Atmosphäre, die höchstens ein Flüstern ertragen hätte, zersprang. Woraufhin die Wahrsagerin mich anfunkelte, als ob ich Schuld daran trüge. Dabei war ich lediglich das Hörgerät meiner Oma.
„Die Hilfe kommt aus Bregenz“, lautete schließlich das Orakel. Welch banaler Satz für so eine Inszenierung.
„Sie muss das Casino gemeint haben!“, mutmaßte Oma am Heimweg. „Dort wartet das Geld für Amsterdam.“
Je näher ihr 90. Geburtstag rückte, desto mehr steigerte sie sich in eine fixe Idee hinein. Eigentlich waren es zwei Vorhaben: Ein Fest, um alle Verwandten und Freunde ein letztes Mal zu sehen und danach: sterben. Letzteres wuchs zum Problem an, denn Oma war quicklebendig.
„Ich werde nach Holland reisen“, sagte sie. „Dort ist ein Freitod erlaubt.“
„Oma – “, versuchte ich einzuwenden, aber sie fiel mir ins Wort.
„Hör endlich auf, mir das ausreden zu wollen. Du kannst eine furchtbare Nervensäge sein“, wies sie mich zurecht. „Ich habe dich, Judith, ins Vertrauen gezogen, weil ich hoffte du würdest mich verstehen und mich dabei unterstützen.“
„Aber ich kann dich doch nicht umbringen!“, warf ich verzweifelt ein.
„Das verlange ich auch nicht“, sagte Oma, „Verständnis reicht.“
Oma war immer schon eine exzentrische, eigensinnige Person gewesen, die keine Schwäche duldete. Alt sein oder gar Hilfe benötigen waren für sie Schreckensvorstellungen. Sie strebte einen heroischen Abgang, passend zu ihrem Image, an. Ihr Denkfehler war bloß, dass sie den vermeintlichen Applaus dafür nicht mehr erleben würde. Man opferte doch nicht wertvolle Jahre, um ein Selbstbild zu bestätigen!
„Ich habe mein Leben selbst in die Hand genommen und nun auch mein Sterben.“ Debatte beendet. Oma ging ins Casino, verspielte ihr Barvermögen und verfluchte die Wahrsagerin. „Rausgeschmissenes Geld“. Dennoch würde sie ihr Vorhaben umsetzen, dessen war sich Oma sicher. „Und das Silberbesteck erbst du, Judith“, versprach sie.
Zum Fest sollten alle Gäste leere Schachteln mitbringen, um
zu nehmen, was bald nicht mehr gebraucht werden würde. Mit „Bedient euch!“ eröffnete Oma den Wohnungsbasar. Sie störte sich nicht an den betretenen Gesichtern und zeigte keinerlei Anflug von
Sentimentalität. Oma war fröhlich und schien von allem Irdischen befreit.
Mir hingegen setzte die Situation zu. Es war grotesk! Wir hatten soeben eine Pandemie überlebt, wollten das Ende des wochenlangen Lockdowns feiern, Oma zu ihrem 90er hoch leben lassen – da hielt sie ihre eigene Grabrede: Sprach vom Sattsein, vom Gefühl ausgelebt zu haben, vom nicht-mehr-Wollen, wobei sie das mehr betont hatte. Genug sei genug.
Niemand wusste, was sie vorhatte.
„Kindchen“, sagte sie kryptisch zu mir, „das lass mal meine Sorge sein.“
Zum Abschied brachte ich bloß ein heiseres „Mach’s gut!“ heraus.
Zwei Wochen später war Oma tot. Ihr Asthma hatte dem Corona-Virus den Weg geebnet. Vielleicht hatte ihn jemand aufs Fest eingeschleppt; eine bloße Vermutung, da niemand unter Symptomen litt.
Doch beim Anblick des 30teiligen Silberbestecks wurde mir flau im Magen.
Ich kam aus Bregenz. Als einzige.