„Mau“.
Die Sprache gefiel mir. Ich dachte an meine Katze und wusste, dieses Wort würde ich nie vergessen. „Mau“ ist Indonesisch und drückt einen Wunsch, eine Absicht oder schlicht ein Bedürfnis aus. „Saya mau“ kann man mit „Ich will“ übersetzen. Wenn klar ist, dass das Ich seinen eigenen Willen kund tut, so darf man das „Saya“ weglassen und einfach „Mau“ sagen. Wie meine Katze.
„Mau kamar“, (kamar = Zimmer) sagte ich daher zum Dorfchef der winzigen Insel namens Pulau Ai im Banda Archipel, irgendwo zwischen Borneo, Papua und Australien. Englisch durfte man hier nicht erwarten. Das „Mau“ inkludierte auch meinen Mann Markus, der das Indonesisch aber lieber mir überließ.
Der Bürgermeister öffnete das Gartentor vor einem kleinen Gebäude, verscheuchte die Hennen von den Eingangsstufen und ließ uns eintreten. Mit stolzer Geste präsentierte er seine Amtsräume: ein winziger, mit Papieren übersäter Schreibtisch – sein Arbeitsplatz und ein länglicher Küchentisch – für die großen Versammlungen.
Angrenzend gab es zwei Gästezimmer. Das beste Zimmer der gesamten Insel war von einem klapprigen Holzgestell mit dünner Schaumstoffmatratze ausgefüllt und besaß nebenan sogar ein Bad: eine betonierte Wasserfassung mit Schöpfkelle. Wir waren am Ziel unserer Träume angelangt.
Selten verschlug es Touristen hierher. Die Insel hatte außer einem intakten Korallenriff und einsamen Strände ringsum nichts zu bieten. Kein Geschäft, kein Restaurant, keine Straße. Einzig der Dorfchef besaß einen Generator, der abends für ein paar Stunden Strom lieferte.
Während wir uns im Amtsgebäude häuslich niederließen, war der Bürgermeister irgendwo unterwegs, um unsere Mahlzeiten zu organisieren. Unsere Anwesenheit glich einer Sensation. Draußen vor den Fenstern zog ein Strom dunkelhäutiger Gesichter vorbei, die einen Blick auf die „Weißen“ erhaschen wollten. Plötzlich quietschte das Gartentor, die Hühner stoben auseinander und ein Mädchen kauerte sich auf die Eingangstreppe. Es starrte uns mit offenem Mund an. Minutenlang verharrte es mit unbewegter Miene. Ein leichter Luftzug spielte mit den Locken ihres dunklen Haares, die lebendiger schienen als die junge Frau selbst. Ich grüßte, lächelte, winkte. Nichts. Das Mädchen war wie eingefroren. Nur in den schwarzen Augen funkelten Interesse und unverhohlene Neugier. Hinter der apathischen, stumpfsinnigen Mimik brodelte das Leben und zog mich in seinen Bann. Ich setzte mich ebenfalls auf den Boden und starrte zurück. Ihr Blick wich dem meinem nicht aus. Im Gegenteil, es baute sich etwas auf, das vielleicht eine Brücke werden könnte. Aber da ertönte draußen die Stimme des Bürgermeisters, das Mädchen duckte sich wie unter einem unsichtbaren Schlag und huschte davon.
Abends, als es Strom gab, kam der Nachbar des Bürgermeisters zu uns, um die Funkanlage zu bedienen, die sich neben dem Versammlungstisch befand. Während er versuchte, die Hauptinsel zu erreichen, legten wir Patiencen. Auf einmal war das Mädchen wieder da. Ein lautloser Schatten an der Türschwelle. Die dunklen Augen hefteten sich auf Markus, der Karte für Karte aus dem Stapel zog. Er hielt ihr einen Joker hin, aber das Mädchen löste den Blick nicht von seinem Gesicht. Bemerkte sie die Geste nicht? Markus sprach das Mädchen auffordernd an. Vor Schreck wich sie zurück und ihr Blick streifte dabei flüchtig die Hand mit der dargebotenen Karte. Verstört wanderten ihre Augen nun zwischen dem Joker, Markus und mir hin und her. Der Funker gab seine Versuche auf und drehte sich zu uns um. Die Anwesenheit des Mädchens zu unseren Füßen überraschte ihn. Perplex schaute er in die Runde. Doch seine Verblüffung wich bald einer warmen Milde. Leise sagte er, das Mädchen sei seine Tochter. Dabei wedelte er mit gespreizten Fingern vor seiner Stirn hin und her. Ein offenbar weltweit gültiges Symbol.
Markus hielt noch immer den Joker in der Hand. Mit lauter Stimme verlieh er seiner Geste Nachdruck, sodass die junge Frau gehorchte und in einer mechanischen Bewegung die Karte ergriff, während ihre Augen an Markus Gesicht kleben blieben. Kurz darauf gab sie die Karte zurück, ohne sie eines Blickes gewürdigt zu haben.
Wir fragten den Vater, weshalb sie das Geschenk ablehne. Er habe ihr eingeschärft, nichts zu behalten. Sie müsse alles zurückgeben. Nur so könne er sie vor Verleumdung schützen, falls man ihr einen Diebstahl anhängen wolle. Fürsorge schwang in seiner Erklärung mit. Dennoch tat mir das dressierte Mädchen leid. Ich fragte nach seinem Namen.
„None“, antwortete der Vater.
Ich war völlig schockiert. Nicht einmal einen Namen besaß dieses Mädchen! Gerade als ich mich entrüsten wollte, dämmerte mir, dass der Vater kein Englisch sprach. Ich wiederholte daher in fragendem Ton „Non?“ und der Vater nickte und mir schien, als ob sich auch im Gesicht des Mädchens ein leichtes Zucken gezeigt hätte.
Non besuchte uns täglich. Aber nie traute sie sich ins Zimmer herein. Sie kauerte, stets fluchtbereit, unter dem Türstock und starrte uns an. Wenn ich mit ihr sprach, glaubte ich ein Flackern in ihren Augen zu erkennen. Sobald der Bürgermeister kam, wischte er sie mit einer kaum merklichen Handbewegung von der Schwelle.
Einmal hatte der Dorfchef eine Konferenz für den Abend anberaumt. Bereits nachmittags warf er den Generator an, drehte Fernseher, Radio, Ventilator und Funkstation gleichzeitig auf und suhlte sich im Lärm seiner Prestigeobjekte. Ich flüchtete zu einem Spaziergang. Ein lauer Wind wirbelte duftende weiße Blüten eines Baumes vor meine Füße und als ich sie eingesammelt hatte und mich aufrichtete, blickte ich geradewegs Non ins Gesicht. Ihre Augen durchbohrten mich. Spontan drückte ich ihr eine der Blüten in die Hand und machte mich davon, ehe Non ihrem Rückgabereflex verfallen konnte.
In des Bürgermeisters Amtsraum herrschte eine erregte Stimmung. Die Dorfältesten waren versammelt und schrien gegen den Lärm des Fernsehers und des Radios an. Es ging um Geld. Ich verstand „rupiah“ und „korupsi“ und drehte die nervenden Statussymbole des Bürgermeisters um einige Dezibel zurück. Das war ein Affront. In der gespannten Stille, die sich plötzlich ausbreitete, waren alle Augen auf den Dorfchef gerichtet. Während er überlegte, wie in dieser Situation angemessen zu reagieren sei, trat Non ein. Zögernd wagte sie sich in die Raummitte vor. Der Bürgermeister traute seinen Augen kaum. Hier nahte unverhofft die Rettung seiner Autorität! Er sprang von seinem Stuhl auf, fuhr das Mädchen mit bellenden Sätzen an und wies mit der ausgestreckten Hand zu Tür. Mein Dazwischentreten und meine beschwichtigenden Worte, die mehr einer Bitte glichen, fanden kein Gehör.
Da geschah das für alle Unerwartete: Mitten im Tumult des Disputs griff Non in ihre Rocktasche, zog eine geballte Faust hervor und streckte mir ihre Hand hin. Langsam öffnete sie die Finger und zum Vorschein kam, welk und zerknittert, die Blüte, die ich ihr Stunden zuvor geschenkt hatte.
Unter anerkennendem Raunen und wohlwollendem Gemurmel der Dorfältesten nahm ich die Blüte entgegen und bat Non, neben mir auf dem Boden Platz zu nehmen. Der Bürgermeister, der immer noch mit dem Finger auf die Tür zeigte, sank in sich zusammen. Er verstand die Welt nicht mehr.
Non blieb misstrauisch stehen. Erst als sie sah, dass die konferensi weiterging und sie von den Männern nicht mehr beachtet wurde, ließ sie sich auf den Boden in rund zwei Meter Entfernung von mir nieder. Ich spielte mit der Digitalkamera und spürte Nons starren Blick auf mir. Ihr Interesse war geweckt. Langsam rutschte ich zu ihr hin und versuchte die Distanz zu verringern. Sie ließ es geschehen. Ich blätterte unsere Urlaubsfotos auf dem Display durch und zeigte sie Non. Unbeeindruckt schnellten ihre Augen sofort in mein Gesicht zurück. Folglich schaute ich von vorne in die Kameralinse und drückte ab. Jetzt konnte Non mich auch auf dem Display sehen. Diese Verdoppelung meines Kopfes verunsicherte Non, ihre Mundwinkel zuckten nervös. Ich zoomte bis in das Schwarz der Nasenlöcher und plötzlich lachte Non. Es waren die ersten Laute, die sie in meiner Gegenwart von sich gab. Der Bann war gebrochen. Ich versuchte ein gemeinsames Foto zu machen, aber die Distanz zwischen uns war immer noch zu groß und führte bloß zu einer Abbildung meines rechten und ihres linken Ohres. Non blickte lange und fasziniert auf das Display. Danach durfte ich ganz nah an sie heranrücken. Auf diesem Bild war sie zu Gänze und ich zur Hälfte drauf. Versunken und ungläubig betrachtete sie ihr Foto, während ich es kommentierte. Auf mich zeigend sagte ich „Martina“, auf sie deutend „Non“. Tarzan und Jane im digitalen Zeitalter. Und das Mädchen nickte! Seine Wangen arbeiteten, seine Zunge bewegte sich, so als würden in der Mundhöhle bereits Worte geformt. Wann würden sie über seine Lippen schlüpfen? Die autistische Mauer durchbrechen?
Unser Aufenthalt auf der Insel neigte sich dem Ende zu. Non winkte und lachte, wenn sie mir im Dorf begegnete. Ins Haus kam sie seit dem Abend der konferensi nicht mehr. Auf meine Nachfrage erntete ich bloß widerwilliges Kopfschütteln des Bürgermeisters. Er konnte nicht verstehen, was man an einer Verrückten so interessant fand.
Als wir auszogen und mit dem Gepäck zum Hafen gingen, standen Non und ihr Vater im Eingang ihres Hauses. Sie lachte, während seine Miene ernst und traurig war. Würde er ihr erklären können, warum wir wieder aus ihrem Leben verschwanden, in das wir uns kurzfristig Zutritt verschafft hatten? War diese Bresche, die wir in ihre versiegelte Welt geschlagen hatten, eine Wunde, die schmerzen würde, oder eine Quelle der Freude, die auch nach unserer Abreise anhielt?
„Mau foto“, sagte der Bürgermeister zum Abschied. Ich hielt Wort und schickte nach unserer Heimkehr die Abzüge. Von Non.