Das tut man nicht! (wenn aber doch jemand etwas täte?)
Bruchstücke der Nacht, schwarze Keile am Fuß der Mauern, ließen die Gassen der Altstadt enger erscheinen als sonst. Joseph war früh unterwegs, er mochte die dämmrigen Wintermorgen, in denen er unbehelligt seine Runde drehen konnte. Später, wenn die Geschäfte öffneten, der Strom der Menschen anschwoll und sich durch die Straßen zwängte, würde Joseph sich wieder auf seinen Beobachtungsposten zurückziehen, wie er es die letzten Wochen getan hatte. Denn im Sog der Einkaufstouristen kam auch sie.
Der vom Schneematsch nasse Rocksaum klatschte der jungen Frau beim Gehen gegen die Knöchel. Um ihren Oberkörper waren bunte Schals geschlungen. Ein fransiges Kopftuch bedeckte den Ansatz des dicken, schwarzen Zopfes, der ihr bis über die Taille herabhing.
Als die Frau an Joseph vorüber ging, bemerkte sie weder ihn noch seinen Blick, der versuchte die vielen Stoffbahnen zu durchdringen.
Kaum war die Frau im Getümmel der Fußgängerzone verschwunden, manövrierte Joseph seinen Wagen zur Rückseite des denkmalgeschützten Gebäudes und stellte ihn neben der Müllsammelstelle ab. Niemandem würde er hier auffallen.
Danach, auf dem Weg durch die düstere Gasse blieb Joseph vor imaginären Schaufenstern stehen. Seine Augen auf die vor Staub blinden Scheiben des alten Gebäudes gerichtet, sprach er immer dasselbe eine Wort: „Mirëdita.“ Andere Sätze, die Frage nach ihrem Namen, Alter und ob sie einen Freund habe oder gar verheiratet sei, hatte er gleich nachdem er sie seinem Kollegen mühevoll nachgesprochen hatte, vergessen. Die weichen Silben waren durch ihn hindurch geglitten, ohne Erinnerungsspuren zu hinterlassen.
„Woher willst du wissen, dass sie Albanisch spricht?“, hatte Joseph seinen Kollegen, der aus Belgrad stammte, gefragt.
„Solche“, sagte dieser und ersetzte das Wort Frauen durch eine Pause, „solche gab es bei uns auch.“ Dann fügte er augenzwinkernd hinzu, als spräche er aus eigener Erfahrung: „Dafür brauchst du kein Albanisch zu lernen. Die kannst du für ein Stück Brot haben.“
„Mirëdita“. Joseph grüßte die efeuumwucherte Straßenlaterne auf Albanisch. Mit einem freudigen „Mirëdita“ hieß er den Mülleimer willkommen. Auch die kleine Tafel, die erklärte, weshalb das alte Gebäude unter Denkmalschutz stand, erhielt einen „Guten Tag“ auf Albanisch.
Damit war die Generalprobe beendet. Joseph trat in den Lichtkegel ein, der vom Marktplatz her einfallend, die restlichen Meter der Seitengasse erhellte und erschrak. Die Beleuchtung erschien ihm zu grell für sein Vorhaben. Er scheute das Rampenlicht.
Im Dezember wurde das Lichtermeer jeden Tag größer. Die Fassade des alten Gebäudes war mittels starker Scheinwerfer ins Zentrum des bevorstehenden Festes gerückt worden und täuschte über den verwahrlosten Zustand im Inneren hinweg. Seine 24 Fenster, sechs in jedem der vier Stockwerke, dienten als Adventskalender. Zu diesem Zweck waren sie mit Leintüchern verhängt. Man wollte sie schließlich nur virtuell öffnen. Eine Videoprojektion simulierte diesen Vorgang. Jeden Tag klappten digitale Fensterläden auseinander und gaben den Blick auf ein Gesicht frei. Erst im Portrait, dann frontal. Im Untertitel waren Name, Alter und Herkunftsland des Flüchtlings zu lesen. Syrien. Irak. Afghanistan. Somalia. Syrien. Und wieder Syrien. Der gefilmte Mensch lächelte scheu (wenn überhaupt) in die Kamera. 60 Sekunden lang. Eine gefühlte Ewigkeit. Seine Lippen bewegten sich. Die Übersetzung war stets dieselbe: Danke. Vielen Dank.
Unterm 4. Dezember saß die junge Frau. Es war ihr Stammplatz. Dennoch nahm sie spätabends das kleine Kartonviereck, das ihr als Unterlage diente, immer mit. Wohin sie ging, interessierte nur Joseph. Allen anderen wäre es am liebsten gewesen, sie käme morgens nicht wieder her. Ihre Anwesenheit störte. Ihr aufgestellter Pappbecher war ein Affront, Weihnachtseinkäufe fühlten sich schäbig an.
Die Stadtverwaltung hatte nach Beschwerden der Geschäftsinhaber rund um den Marktplatz überlegt, das Bettelverbot auszuweiten, sich danach aber zu anderen Maßnahmen entschlossen: Aus Lautsprechern an der Fassade des Adventskalenders dudelte Weihnachtsmusik und unterm 6. Dezember hatte man eine lebende Krippe aufgebaut. Lebendig waren dort nur die Tiere, zwei Schafe und ein kleinwüchsiger Esel. Sie teilten sich das enge, durch einen Holzlattenzaun erzeugte Geviert mit drei Puppen. Josef und Maria waren mit Kabelbindern an Dachrinne und Blitzableiter befestigt, damit sie von den Tieren nicht umgeworfen werden konnten. Die Jesuskindpuppe lag in einer Krippe, die im Boden festgeschraubt war. Eine Lage Stroh verdeckte die Verankerung.
Die junge Frau, nur zwei Kalendertage von der Bethlehemszene entfernt, wiegte ein Kleinkind in den bunten Stoffbahnen ihrer Schals.
Als Josephs schwere Bergschuhe vor ihr innehielten raffte sie den Rocksaum enger an sich und wagte nicht aufzusehen. Erst das Geräusch von Münzen, die in den Pappbecher fielen, ließ sie erleichtert aufatmen. „Danke“, murmelte sie, „Danke.“
Das Baby hatte Joseph aus dem Konzept gebracht. Weder das einstudierte „Mirëdita“ noch ein anderes Wort waren ihm über die Lippen gekommen. Nun stand er mit einem Glas Glühwein vor einer Imbissbude und beobachtete die Bettlerin. Wut keimte in ihm auf.
Ein Mädchen stürmte aus dem Bioladen gegenüber, in der ausgestreckten Hand einen Bund Karotten. Erst bei der Krippe wurde die Kleine von ihrer Mama eingeholt. Doch da galt die Aufmerksamkeit des Mädchens schon nicht mehr den gelangweilt kauenden Schafen sondern der Frau auf dem Boden. Während die Mutter mit lockenden Rufen versuchte, den Esel aus seiner stoischen Ruhe zu bewegen, hielt das Kind plötzlich der Bettlerin die Karotten hin.
„Lass das“, rief die Mutter erschrocken und: „Das tut man nicht!“
Während das Kind verständnislos nach dem Warum fragte, kramte die Mutter nach ein paar Münzen, grinste die Bettlerin verlegen an und verließ eiligst den Marktplatz.
Der Vorfall brachte Joseph auf eine Idee. „Kann ich einen Schuss Schnaps im Glühwein haben?“, fragte er im Zuge der nächsten Bestellung. Er brauchte Mut.
Als ein Polizist kam, von der Bettlerin einen Ausweis verlangte, diesen aber nicht einmal ansah, sondern sich auf das Baby fokussierte und sagte, dass es verboten sei, sein Kind zu dieser Beschäftigung mitzunehmen, hatte er den nötigen Mut.
Joseph ging hin, sagte zu dem Uniformierten, er werde sich um die beiden kümmern, packte die Frau am Handgelenk und zog sie mit sich fort. Während der Polizist überlegte, ob er einschreiten müsse, waren Bettlerin und der Mann verschwunden. Wahrscheinlich gehörten die beiden ohnehin zusammen, sagte sich der Polizist. Der Mann hatte die Arbeitskleidung der städtischen Müllabfuhr getragen.
Die junge Frau war dem Fremden widerwillig in die Gasse hinter dem alten Gebäude gefolgt. Der Mann sagte ständig „Mirëdita“ und roch nach Alkohol. Sie wusste nicht, was diese vielen „guten Tage“ auf Albanisch zu bedeuten hatten. Aber dass er sich um ihre Sprache bemühte, beruhigte sie.
Joseph ließ die Frau los, bat sie zu warten und eilte zu seinem Wagen. Er entsicherte die Bremsen und rollte den Einachser auf sie zu. Auf der offenen Ladefläche standen verschiedene Behälter, einer für Papier, einer für Flaschen, einer für Metall. Im Kübel für Sonstiges bewahrte er seine Jause auf. Heute hatte er neben Wurstsemmeln auch Kekse und Orangensaft gekauft.
Als die Frau die Geschenke lächelnd entgegennahm, fielen Joseph ihre schlechten Zähne auf. Aber seit er das Baby gesehen hatte, rechnete er sich ohnehin keine Chancen mehr aus.
„Wie heißt du?“, fragte er sie.
„Marija.“
Da stand sein Plan fest.
Am nächsten Tag war der Platz neben der lebenden Krippe leer. Der Polizist vermerkte dies mit Genugtuung. Es fiel auch niemandem auf, als sich der Müllsammler am Holzgatter zu schaffen machte und die Puppen losband. Er würde wohl das Stroh ausmisten.
Kurze Zeit später legte eine Roma ihr Wickelkind in die Krippe und ließ sich auf einem Strohballen daneben nieder. Sie löste ihren Zopf und dichtes schwarzes Haar fiel wie ein Umhang über ihre Schultern hinab. Erste Passanten wurden aufmerksam und blieben irritiert stehen.
Als der Mann, der die Krippenfiguren beseitigt hatte, in seiner orangefarbenen Arbeitskluft hinter der Frau Stellung bezog, applaudierten die Zuschauer spontan. Diese täuschend echte Kunstinstallation einer modernen Bethlehemszene gefiel und für zeitgemäßes Theater hatte jeder etwas übrig.
Nur, man sah sich suchend um, wo war die Kassa für freiwillige Spenden? Nicht einmal ein Pappbecher war aufgestellt worden.